Samstag, 10. November 2018

"Schätzung wurde wegen fehlender Ergebnisse notwendig..." - Demokratie?

von Thomas Heck...

Von Wahlbetrug wird noch nicht gesprochen, doch bei der Hessenwahl ging es mitunter drunter drüber und oft nicht mit rechten Dingen zu. Und wenn der Wahlleiter verlautbaren lässt, dass eine Schätzung wegen fehlender Ergebnisse notwendig wurde, scheint eine andere Zeit angebrochen zu sein, wo nicht mehr ausschließlich Stimmen ausgezählt werden. Schöne neue Welt.

Bereits am 28. Oktober hatte das Bundesland Hessen einen neuen Landtag gewählt. CDU und SPD erlitten schwere Verluste: Die SPD stürzte auf einen historischen Tiefstand. Große Gewinner waren die Grünen und die AfD. Das war zumindest der vorläufige Stand. Denn eine Auszählungspanne könnte nun vieles verändern. Bei der SPD führt dies nun zu feuchten Träumen.




Eigentlich wollte die CDU schon am Freitag eine Entscheidung über mögliche Koalitionspartner treffen, mit denen sie in die Verhandlungen einsteigen will. Bislang sah es so aus, als könnte Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sein Schwarz-Grünes Regierungsbündnis fortführen. Doch jetzt wackelt dieses Bündnis.

Wie konnte es zu der Wahlpanne kommen?

Das ist im Detail bislang noch unklar. Fest steht: In mehreren Wahlbezirken wurden gravierende Mängel bei der Auszählung von Stimmen festgestellt. So wurden offenbar Ergebnisse vertauscht, Zahlen verdreht und ganze Stapel mit Stimmzetteln vergessen, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter Berufung auf eine Sitzung des Kreiswahlausschusses berichtete.

Die „Frankfurter Neue Presse“ berichtet konkret von sonderbaren Resultaten in einigen Frankfurter Wahlbezirken. So hatten in einem Bezirk im Frankfurter Stadtteil Oberrad angeblich nur 6,9 Prozent für die CDU gestimmt. In Nachbarbezirken hatten die Christdemokraten mehr als 20 Prozent der Stimmen erhalten. Der Grund in diesem Fall: Es seien nur jene Ergebnisse der Stimmzettel an das Wahlamt weitergegeben, auf dem die Wähler mit ihrer Erststimme eine andere Partei gewählt hatten als mit ihrer Zweitstimme.

Solche Fehler sollen sich laut „Frankfurter Neuer Presse“ in der Wahlnacht in Frankfurt gehäuft haben. Es sei zu Kommunikationsfehlern am Telefon gekommen, gültige Stimmzettel seien in dem Stapel mit den ungültigen gelandet und wurden nicht mitgezählt, oder Wahlbezirke wurden sogar einfach nur geschätzt.

Bei der Auszählung der Stimmen bei der Hessen-Wahl ist es in Frankfurt zu Pannen gekommen. Damit müssen Gespräche über die Regierungsbildung verschoben werden, bis das amtliche Endergebnis feststeht. 

Wegen Fehlern bei der Stimmenauszählung nach Hessens Landtagswahl ist die Regierungsbildung ins Stocken geraten – eine Ampelkoalition könnte möglich werden. Was sagt Landeswahlleiter Wilhelm Kanther dazu?

WELT: Herr Kanther, wer ist für diese Panne verantwortlich?

Wilhelm Kanther: Grundsätzlich passieren am Wahlabend immer Fehler. Das kann auch das beste Computersystem oder die beste Schulung nicht ausschließen. Wir hatten am Wahlabend ein mit Unstimmigkeiten belastetes vorläufiges amtliches Wahlergebnis. Besonders im Frankfurter Wahlamt sind am Wahlabend mehrere Schwierigkeiten aufgetreten.

Es gab eine Reihe von Übermittlungs- und Eingabefehlern. Hinzugekommen ist, dass das Computersystem des Landes, in das die von den Wahlvorständen durchtelefonierten örtlichen Ergebnisse eingegeben werden sollten, in einem Zeitraum von ca. 1,5 Stunden sehr verzögert gearbeitet hat.

Die Mitarbeiter im Wahlamt haben daraufhin die Ergebnisse mit Hand und Stift auf Papier geschrieben. Grundsätzlich darf eine Wahl nicht vom Computer abhängen, selbst beim totalen oder zeitlichen Ausfall von IT können Wahlergebnisse auf Papier erfasst, geprüft und mit Telefon und Fax zusammengestellt werden.

Jurist Wilhelm Kanther ist Landeswahlleiter in Hessen 

WELT: Aber offenbar war doch das genau das Problem.

Kanther: Nein, die Regel für die Mitarbeiter lautet: Wenn es Probleme mit dem Computer gibt, muss rechtzeitig reagiert und das Ergebnis ohne IT zusammengestellt werden. Außerdem lief das System ab 21 Uhr wieder problemlos. Auch in Frankfurt konnten die Ergebnisse später nachträglich eingetragen werden. Im Computer ist zudem ein Warnsystem, eine sogenannte Plausibilitätsprüfung, hinterlegt, welches anzeigt, wenn Ergebnisse auffällig sind.

WELT: Warum hat Frankfurt dann auf diese Auffälligkeiten nicht reagiert?

Kanther: Den Vorgang am Wahlabend kann ich mir nur so erklären, dass Ergebnisse ohne weitere Aufklärung gespeichert wurden, möglicherweise, weil man die örtlichen Wahlvorstände nicht mehr erreicht hat. Für die Zukunft sollte gelten: Es muss schon im Laufe des Wahlabends eine Exit-Strategie geben, wenn der gewohnte Ablauf so nicht funktioniert. Nachts um ein Uhr findet man kaum noch gute Lösungen.

WELT: Warum ausgerechnet Frankfurt? Die Erfassungs-Software wurde im ganzen Bundesland verwendet.

Kanther: Die Schwerfälligkeit des Systems war ein Teil des Problems. Aber ich denke, dass es eine Reihe weiterer organisatorischer Probleme gab. Es gab offenbar elf Wahlbezirke, in denen das Wahlamt am Wahlabend nicht mehr an Informationen kam bzw. die Wahlvorstände nicht mehr erreichen konnte. Ich hatte gebeten, am Wahlabend noch Einsicht in die Wahlniederschriften zu nehmen, da diese die ermittelten Ergebnisse enthalten. Die Stadt hatte das versucht, aber nicht in allen Fällen erfolgreich. Daraufhin hat das Wahlamt anhand der umliegenden Wahlbezirke die Ergebnisse geschätzt.

WELT: Sind Schätzungen erlaubt?

Kanther: Das ist kein normaler Vorgang und auch vom Wahlgesetz nicht geregelt. Und es muss alles getan werden, damit er nicht eintritt. Allerdings gibt es immer wieder Situationen in der Wahlnacht, für die die Wahlordnung keine unmittelbaren Lösungen bereithält. Dazu gehört etwa, dass der Wahlvorstand keine Zahlen mitteilt oder nicht mehr erreichbar ist. Das passiert nicht nur in Hessen.

Man muss sich dann entscheiden: Entweder werden die Ergebnisse für diese Wahlbezirke nicht ausgefüllt. Dann wäre aber das amtlich verkündete vorläufige Ergebnis deutlich falsch, gerade wenn mehrere Hundert Wähler fehlen. Oder man schätzt. Das ist nicht Teil einer geordneten Schnellmeldung, aber trotzdem liegt das Ergebnis näher am endgültigen Wahlergebnis.

WELT: Wenn die untypischen Ergebnisse in den Medien nicht aufgefallen wären, wäre dann nicht mehr nachgezählt worden?

Kanther: Selbstverständlich. Die Niederschriften von allen über 6000 Wahlvorständen in Hessen werden nach dem Wahlabend von den Kreiswahlleitungen intensiv überprüft. Das gilt sowieso in den Wahlbezirken in Frankfurt, bei denen geschätzt wurde. Das Nachzählen ist aber nicht der Regelfall und darf es auch nicht werden. Ich hatte allerdings auch an dem Wahlabend bei der Bekanntgabe des vorläufigen Ergebnisses deutlich gesagt, dass in dem vorläufigen Ergebnis Hochrechnungen enthalten waren.



WELT: Welche Konsequenzen werden diese teils gravierenden Pannen haben?

Kanther: Wir müssen mit Frankfurt sprechen und aufklären, wie es zu Fehlern kommen konnte bzw. warum darauf organisatorisch nicht besser reagiert werden konnte. Das fängt an mit der Ablauforganisation in Frankfurt, geht über die Performance des Erfassungssystems und bis zur erweiterten Schulung der Wahlhelfer.

WELT: Wie wollen sie das Vertrauen der Bürger in die Stimmenerhebung beibehalten?

Kanther: Jede Unstimmigkeit oder Verzögerung bei Wahlen führen dazu, dass die Wählerinnen und Wähler sich ärgern oder dass Zweifel an der Ergebnisermittlung aufkommen. Ich kann nur darauf hinweisen, dass es sich um ein in der Wahlnacht ohne vertiefte Prüfungen ermitteltes vorläufiges Ergebnis gehandelt hat. Nun sind alle Unterlagen geprüft und bewertet worden, in einigen Fällen wurde auch nachgezählt.

WELT: Überholt die SPD nun die Grünen und wird zweitstärkste Kraft?

Kanther: Das vorläufige Wahlergebnis war denkbar knapp. Bei knappen Ergebnissen kann sich auch etwas ändern. Ich gehe heute nicht davon aus, dass es Auswirkungen auf die Sitzverteilung gibt. Aber auch das steht erst nächsten Freitag fest.






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