von Thomas Heck...
Weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die Türkei unter Erdogan den nächsten militärischen Konflikt angeschoben. Nach eine Intervention in Libyen und Provokationen im Gasstreit im Mittelmeer, der Reklamation von Jerusalem als türkische Stadt erst letzte Woche, nun Armenien, der ungeliebte Nachbar im Osten. Widerstand von Seiten der EU sind nicht zu befürchten. Erdogan kann faktisch machen was er will. Die EU wird weiter mit der Türkei verhandeln. Merkel ist zu sehr abhängig von Erdogans Wohlwollen in der Flüchtlingsfrage, doch Europa begreift einfach nicht, was Erdogans Ziele sind.
Am Mittwochabend wurde der Galata-Turm im Zentrum von Istanbul in den Farben der Flagge Aserbaidschans angestrahlt. Es war ein Zeichen der Solidarität an den turksprachigen Bruderstaat, für den Präsident Recep Tayyip Erdogan gern die Parole "Eine Nation, zwei Staaten" verwendet.
Die Hilfe geht weit über Zeichen der Verbundenheit hinaus. Die Türkei engagiere sich militärisch aufseiten Aserbaidschans im Konflikt mit Armenien, das zwischen den beiden Ländern liegt und die Konfliktregion Bergkarabach kontrolliert, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. So lauten Vorwürfe an die Adresse Ankaras.
Am Mittwoch teilte das armenische Verteidigungsministerium mit, ein türkischer Kampfjet F-16 habe ein armenisches Kampfflugzeug SU 25 abgeschossen, der Pilot sei ums Leben gekommen. Auch wenn Aserbaidschan und die Türkei dies dementierten, blieb die armenische Regierung bei der Version und präsentierte Fotos, die Trümmer eines abgestürzten Kampfjets zeigen. Wie er zum Absturz kam, lässt sich daraus allerdings kaum abschätzen.
Die aserbaidschanische Luftwaffe verfügt traditionell über Kampfflugzeuge aus russischer Herstellung. Noch im April besuchte eine Delegation aus Baku Produktionsstätten in Russland, wo SU-25 und MiG-35 gebaut werden. Die Türkei als NATO-Mitglied setzt F-16-Kampfjets aus US-Produktion ein. Laut einer Pressemitteilung des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums landeten F-16 der türkischen Luftwaffe am 31. Juli in Baku, um an der gemeinsamen Militärübung "TurAz Qartali-2020" teilzunehmen.
Beistandsklausel für Armenien
Armenien behauptet, die F-16 der Türkei seien nach Ende der Übungen in Aserbaidschan geblieben und unterstützten dessen Streitkräfte. Mehrfach hätten türkische Kampfjets seitdem den armenischen Luftraum verletzt. Sie seien auch an einem Angriff auf die Region Vardenis in Armenien beteiligt gewesen, bei dem der Kampfjet abgeschossen worden sei.
Diese Aussage ist insofern heikel, als Armenien durch seine Mitgliedschaft "Organisation über den Vertrag der kollektiven Sicherheit" (OVKS) auf Beistand durch Russland setzen könnte - diese mit der NATO vergleichbare Klausel gilt zwar nicht für Bergkarabach, aber für armenisches Territorium. Dennoch sieht die Regierung in Jerewan derzeit davon ab, die OVKS um Beistand zu bitten. Das sagte Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan nach einem Telefonat mit Wladimir Putin. Darüber hinaus hatten Russland und Armenien 2010 den Verbleib eines russischen Militärstandorts in Armenien bis 2044 im Gegenzug für Sicherheitsgarantien und die Lieferung russischer Waffen vereinbart.
Hinweise auf Einsatz türkischer Drohnen
Doch gibt es weitere Hinweise auf eine mögliche türkische Beteiligung durch Videomaterial, das Armenien und Aserbaidschan von den Gefechten veröffentlichen. Im Juni kündigte das Verteidigungsministerium in Baku den Kauf türkischer Drohnen vom Typ Bayraktar an. Während es keine offizielle Mitteilung über die Lieferung dieser Drohnen an Aserbaidschan gab, weisen Experten auf Bildmaterial des Verteidigungsministeriums in Baku hin. Es enthalte Aufnahmen, die typisch für Bayraktar-Drohnen seien. Unbestätigt sind Berichte darüber, wonach diese Drohnen von türkischen Piloten gelenkt werden.
Darüber hinaus behauptete das armenische Verteidigungsministerium am Donnerstag, die türkische Luftwaffe habe das Kommando über die Luftangriffe gegen die Region Bergkarabach übernommen.
Die türkische Regierung selbst erklärt immer wieder ihre Unterstützung für Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien, macht aber kaum Angaben zu konkreten Maßnahmen. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew wiederum sagte, die Türkei sei keine Konfliktpartei und leiste lediglich moralische Unterstützung.
Ausländische Kämpfer im Konfliktgebiet?
Für heftige Diskussionen sorgen Berichte über ausländische Kämpfer, die in das Konfliktgebiet gebracht worden seien. So hieß es, kurdische Kämpfer seien aus dem Irak nach Bergkarabach gebracht worden, um auf armenischer Seite zu kämpfen. Mangels Belegen sind diese Behauptungen aber kaum haltbar.
Konkreter sind Berichte über Kämpfer aus Syrien, die von einer türkischen Sicherheitsfirma für einen Einsatz in Aserbaidschan angeworben worden sein sollen. Der britische "Guardian", die französische Zeitung "L'Express", die Agentur Reuters sowie die Nahost-Expertin Elizabeth Tsurkov fanden Zeugen, die die Rekrutierung von Söldnern in Syrien bestätigten. Die Rede ist von 300 bis 4000 Männern.
Diese kämpften unter türkischer Führung für die "Syrische Nationalen Armee" (SNA), ihnen sei versprochen worden, nur für den Schutz von Infrastruktur in Aserbaidschan eingesetzt zu werden, schrieb Tsurkov in Tweets. Es gebe aber bereits Informationen über getötete und verletzte Syrer von der Frontlinie in Aserbaidschan.
Russische Regierung "zutiefst besorgt"
Nun teilte auch das russische Außenministerium mit, Informationen über "illegale bewaffnete Gruppen, insbesondere aus Syrien und Libyen" vorliegen zu haben, die sich an den Auseinandersetzungen im Bergkarabach-Konflikt beteiligten.
"Wir sind zutiefst besorgt über diese Prozesse, die nicht nur zu einer noch größeren Eskalation der Spannungen in der Konfliktzone führen, sondern auch langfristige Bedrohungen für die Sicherheit aller Länder in der Region schaffen", heißt es in einer Pressemitteilung. Die betroffenen Staaten sollten den Einsatz ausländischer Terroristen und Söldner verhindern beziehungsweise für ihren sofortigen Rückzug sorgen.
Armeniens Staatschef Nikol Paschinjan erhebt schwere Vorwürfe gegen die Türkei: „Tausende von Terroristen“ seien aus Syrien eingetroffen und kämpften an der Seite der Türken für Aserbaidschan. Auch würden F-16-Kampfjets eingesetzt, um Zivilisten zu töten.
Der Konflikt um Bergkarabach war vor einer Woche wieder offen ausgebrochen. Die überwiegend von Armeniern bewohnte Region mit 150.000 Einwohnern hatte sich 1991 von Aserbaidschan losgesagt. Da das mehrheitlich christliche Armenien mit Russland verbündet ist und das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan von der Türkei unterstützt wird, droht eine Ausweitung des Konflikts über die Region hinaus. Durch den Südkaukasus laufen zudem wichtige Erdgas- und Ölpipelines.
Im Interview erhebt Armeniens Staatschef Nikol Paschinjan schwere Vorwürfe gegen die Türkei.
WELT: Sie beschuldigen Aserbaidschan, Militärhilfen von der Türkei anzunehmen. Welche Beweise haben Sie dafür?
Nikol Paschinjan: Wir haben Beweise. Russland, Frankreich und der Iran haben bereits bestätigt, dass die türkische Armee an der am 27. September gestarteten Großoffensive gegen Artsakh (Bergkarabach, Anm. d. Red.) teilgenommen hat. Hochrangige türkische Beamte gaben ihre Unterstützung für Aserbaidschan öffentlich zu, und zwar nicht nur in politischer und diplomatischer Hinsicht, sondern auch auf dem Schlachtfeld. Sie setzen Drohnen und türkische F-16 ein und bombardieren damit zivile Gebiete in Bergkarabach.
Die internationale Gemeinschaft, ganz besonders aber die amerikanische Öffentlichkeit, sollte wissen, dass diese in den USA hergestellten F-16 in diesem Konflikt dazu verwendet werden, Armenier zu töten. Es gibt Beweise dafür, dass türkische Militärkommandeure direkt an der Leitung der Offensive beteiligt sind. Ankara hat Baku mit Militärfahrzeugen, Waffen und militärischen Ratgebern versorgt. Wir wissen, dass die Türkei Tausende Söldner und Terroristen ausgebildet und aus den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden Syriens hierher gebracht hat. Diese Söldner und Terroristen kämpfen jetzt gegen die Armenier. Viele von ihnen wissen noch nicht einmal, warum die Türkei sie nach Aserbaidschan schickt. Man hat ihnen falsche Versprechungen gemacht, was sie erst nach der Ankunft hier im Land herausfanden.
Wir wissen auch, dass diese Terroristen Drogen nehmen – in den Taschen ihrer Uniformen wurden Spritzen mit Betäubungsmitteln gefunden, was auch erklären könnte, warum 30 Prozent der aserbaidschanischen Verluste ausländische Söldner sind.
WELT: Ist die Türkei Ihrer Meinung nach dafür verantwortlich, dass die Situation eskaliert ist?
Paschinjan: Absolut. Die gemeinsame Militärübung von Türken und Aserbaidschanern, die schon im August stattfand, ist im Grunde immer noch nicht beendet. Tatsächlich ist dieser Angriff auf Bergkarabach nur die nächste Phase dieser Operation. Nach der Vorbereitung im August entschlossen sie sich, diese Offensive zu starten und müssen somit für die Eskalation zur Verantwortung gezogen werden. Nach einem ersten Angriff und einer darauffolgenden Niederlage an der armenischen Grenze im Juli wandte sich Aserbaidschan an die Türkei, und es ist offensichtlich, dass Ankara in vielen entscheidenden Aspekten der gegenwärtigen Situation die Entscheidungen trifft. Ihr Ziel ist es, das Gleichgewicht der Kräfte in dieser Region zu ihren Gunsten zu verschieben.
WELT: Was meinen Sie damit?
Paschinjan: Die Türkei will ihre Rolle und ihren Einfluss im Südkaukasus verstärken und so den bereits seit einem Jahrhundert geltenden Status quo verändern. Ihr Traum ist es, ein Imperium im Stil eines Sultanats aufzubauen, und sie schlägt dabei einen Weg ein, der die gesamte Region in Brand setzen könnte.
WELT: Wären Sie zu einem Waffenstillstand bereit?
Paschinjan: Die Türkei und Aserbaidschan müssen die Feindseligkeiten beenden, denn sie haben mit dieser Offensive begonnen und töten auch jetzt, in diesem Moment, weitere Armenier. Bergkarabach darf nicht entwaffnet werden, denn das würde zu einem Völkermord führen. Die Menschen, die dort leben, werden in ihrer Existenz bedroht. Und im Moment zeigt die gegnerische Partei nicht das geringste Interesse daran, die Kämpfe zu stoppen.
Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Aserbaidschan die an ihrer Seite kämpfenden Terroristen irgendwie kontrolliert. Laut unseren Geheimdienstinformationen gehen die Söldner in einigen Dörfern Aserbaidschans einfach in die Läden, verbieten den Verkauf von Alkohol und verlangen, dass die Scharia eingehalten wird.
WELT: Sollten die Verhandlungen über die OSZE-Minsk-Gruppe laufen?
Paschinjan: Es ist das einzig mögliche Format. Die Präsidenten aus Russland und Frankreich haben einen starken Appell an die Angreifer gerichtet. Wir erwarten, dass sich die internationale Gemeinschaft aktiv für ein Ende der Feindseligkeiten¨engagiert. Die Mitgliedschaft der Türkei in der OSZE-Minsk-Gruppe sollte übrigens suspendiert werden, da sich das Land parteiisch und kriegerisch verhält. Aus diesem Grund kann es nicht mehr als Vermittler auftreten.
WELT: Ist diese Krise schlimmer als die im Jahr 2016?
Paschinjan: Sie ist viel schlimmer. Man kann sie höchstens mit dem vergleichen, was 1915 passiert ist, als mehr als 1,5 Millionen Armenier während des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts massakriert wurden. Der türkische Staat, der die Vergangenheit nach wie vor leugnet, ist hier erneut auf dem Weg Richtung Völkermord. Die Welt muss erfahren, was hier passiert. Die internationale Gemeinschaft muss schnell eingreifen und so verhindern, dass sich die Gewalt weiter ausbreitet, denn tut sie dies nicht, wird der ganze Südkaukasus die Folgen dieses Konflikts zu spüren bekommen.