Unmissverständlich, glasklar war Joe Bidens Drohung. Eine „rasche und energische Antwort“ kündigte der US-Präsident an, sollten die Taliban amerikanische Soldaten angreifen oder versuchen, die Evakuierungen aus Afghanistan zu behindern. „Wir werden“, sagte Biden, „unsere Leute mit vernichtender Gewalt verteidigen, falls nötig.“
Das war am Montag der vergangenen Woche. Biden stand da im East Room des Weißen Hauses. Mit ernster Miene, kalt im Ton, las er eine Ansprache vom Teleprompter ab. Er versicherte seinem Volk: „Unser derzeitiger Militäreinsatz ist zeitlich knapp bemessen, vom Umfang her begrenzt und auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet: Unsere Leute und unsere Verbündeten so sicher und schnell wie möglich zu bringen.“ Und jetzt?
Zehn Tage nach seiner Ansprache sind nach Angaben der Taliban bis zu 20 Menschen am Flughafen Kabul ums Leben gekommen, unter ihnen mindestens zwölf amerikanische Soldaten. Etliche Menschen wurden verletzt. Es ist der traurige Tiefpunkt einer chaotischen, überstürzten Evakuierung, bei der die USA und ihre Verbündeten in den letzten zwölf Tagen rund 95.700 Menschen evakuiert haben.
Chaotische Stunden im Weißen Haus
Doch wie steht es Bidens Reaktion? Wird es eine, wie er selbst sagte, „rasche und energische Antwort“ der USA geben? Jene „vernichtende“ Gewalt, die Biden am 18. August angedroht hatte für den Fall, dass Amerikaner angegriffen würden? Gibt es derlei Pläne, selbst wenn die islamistischen Taliban nicht für die Anschläge verursacht haben sollten?
Chaotisch verlief der Donnerstag im Weißen Haus. Biden kam am Vormittag im Situation Room mit seinem nationalen Sicherheitsteam zusammen. Mit dabei: Außenminister Anthony Blinken, Verteidigungsminister Lloyd Austin und der Chef der Vereinigten Generalstäbe, Mark Milley. Ungewöhnlich lange, gut drei Stunden, hielt sich Außenminister Blinken im Weißen Haus auf.
In den vergangenen Tagen hatten Biden wie Blinken auf potenzielle Gefahren in Kabul hingewiesen. Die Regierung sprach gegenüber Kongressmitgliedern über mögliche Angriffe des Islamischen Staates. Stets hieß es: Je näher das geplante Abzugsdatum, der 31. August, rückt, desto gefährlicher wird es.
Genau so scheint es sich fünf Tage vor dieser Frist zu bewahrheiten. Angesichts der extrem angespannten Lage ließ Biden seinen Empfang des israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett verschieben. Nur 15 Minuten vor dem geplanten ersten Besuch Bennetts wurde der Termin vorerst abgesagt. Israelische Journalisten verließen das Weiße Haus. Stunden später hieß es, Biden werde Bennett am Freitag empfangen. Eine Video-Konferenz mit Gouverneuren sagte Biden komplett ab. Geplante Briefings seiner Sprecherin und seiner Covid-Experten fanden ebenso wenig statt.
Um 9.45 Uhr amerikanischer Ostküstenzeit hatte das US-Verteidigungsministerium die erste Explosion in Kabul bestätigt, um 10.57 Uhr die zweite Explosion. Es folgten Berichte, in denen die Zahl von Toten und Verletzten stetig stieg. Die reguläre Pressekonferenz von Pentagon-Sprecher John Kirby fiel aus. Kirby charakterisierte derweil die Anschläge als „komplexe Attacke“. Da hatte die US-Botschaft in Kabul Amerikaner bereits aufgefordert, die Eingänge zum Flughafen unmittelbar zu verlassen.
Für Biden ist es ein Alptraum
Präsident Biden ließ sich am Donnerstagmittag im Oval Office über die Lage und die jüngsten Erkenntnisse informieren. Die Hinweise auf eine Urheberschaft des sogenannten Islamischen Staates (IS) verstärkten sich. Die dramatischen Nachrichten vom Blutbad in Kabul überschlugen sich. Gegen 13 Uhr wurde der Tod von vier US-Marines gemeldet.
Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums haben sich mindestens zwei Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Nach den Detonationen hätten eine Reihe von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) das Feuer auf Zivilisten und Soldaten eröffnet, sagte US-General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt.
Derweil hat die innenpolitische Schlacht um die tödlichen Anschläge längst begonnen. Noch bevor von US-Todesopfern berichtet wurde, hatte die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene getwittert, die Regierung Biden/Harris trage für die Explosionen „die volle Schuld“. Sie forderte abermals ein Impeachment-Verfahren gegen Biden.
Auch der älteste Sohn von Ex-Präsident Donald Trump, Donald Trump Junior, brachte ein Amtsenthebungsverfahren gegen Biden ins Gespräch.
Pentagon-Sprecher Kirby bestätigte um 13.13 Uhr (US-Ostküstenzeit), US-Soldaten seien getötet und verletzt wurden. Eine Zahl nannte das Verteidigungsministerium zunächst nicht.
Das mehrere US-Soldaten in Kabul ums Leben gekommen sind, ist eine schwere Belastung für Washington, für Präsident Biden ein Alptraum. Seit Februar 2020 war in Afghanistan kein US-Soldat ums Leben gekommen. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban müssen die USA nun um mehrere eigene Soldaten trauern, von den afghanischen Opfern ganz zu schweigen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im US-Senat, der Demokrat Bob Menendez rief die eigene Regierung am Donnerstag dazu auf, denjenigen zu helfen, „die verzweifelt versuchen, das Land zu verlassen“. Während man noch auf weitere Erkenntnisse der Anschläge warte, sei eines schon jetzt klar: „Wir können den Taliban nicht die Sicherheit der Amerikaner anvertrauen.“
Und Joe Biden? Nachdem von ihm in den schwersten Stunden seiner Amtszeit zunächst nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu lesen war, trat der US-Präsident am frühen Donnerstagabend im Weißen Haus auf. In seiner Rede machte er den afghanischen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat für die Anschläge verantwortlich. Er drohte: „Wir werden euch nachjagen und euch zahlen lassen.“