Wer hätte noch vor einen Jahr gedacht, dass die Ukraine so durchhaltefähig sein würde, einem dermaßen starken Gegner Russland gewachsen zu sein? Ich selbst war der Meinung, dass Russland seine militärischen Ziele schnell erreichen würde. Und Kanzler Scholz hoffte und dachte ebenfalls, dass der Konflikt schnell vorbei wäre, denn der Ukraine-Krieg kam für die Ampel-Koalition zur Unzeit. Fragt sich nur, ob Deutschland seine Lehren daraus ziehen wird und die Bundeswehr wieder zu dem machen wird, was sie in Zeiten des Kalten Krieges war: Eine schlagkräftige Armee.
Seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat, gibt es etliche Versuche, Lehren aus diesem Konflikt zu ziehen. Hunderte Videos auf Social-Media-Plattformen geben einen Einblick in das Kriegsgeschehen und machen den Krieg greifbar, was sonst nur schwer möglich ist, wenn man nicht selbst an den Kämpfen teilnimmt.
Dies hat viele Leute zu Analysen angeregt, die sie aus diesem Konflikt ableiten und auf den Krieg als Solches anwenden wollen. Allerdings ist in zweierlei Hinsicht Vorsicht geboten. Erstens gibt es nach vorsichtigen Schätzungen mehr als 200.000 Kriegsteilnehmer, und obwohl eine Menge Videos zur Verfügung steht, zeigt dieses Filmmaterial nicht die gesamte Bandbreite der Ereignisse an der langen Frontlinie. Diese Videos geben nur eine begrenzte Menge an Informationen, denen obendrein der Kontext fehlt und die daher nur einen kleinen Ausschnitt des Kriegsgeschehens zeigen. So können beispielsweise Videos, die zeigen, wie Panzer von Panzerabwehrlenkflugkörper (ATGM) getroffen werden, nicht als Beweis dafür dienen, dass der Panzer auch tatsächlich endgültig zerstört ist.Der zweite Grund liegt in der Besonderheit dieses Krieges. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ihre Streitkräfte modernisiert, aber keiner der beiden Staaten hatte die artilleriezentrierten Doktrinen aus Sowjetzeiten hinter sich gelassen. Russland hat einige spätsowjetische Doktrin verwirklicht, wie das Prinzip, die kritische Infrastruktur des Gegners ins Visier nehmen zu können und gleichzeitig seine Flotte gepanzerter Kampffahrzeuge (AFV) zu modernisieren, aber im Großen und Ganzen blieb die russische Armee eine Artilleriearmee mit vielen Panzern. Analysten des Royal United Services Institute (RUSI), einer Londoner Denkfabrik, die die Ukraine vor und während des Krieges besucht hatten, stellen fest, dass es einige ukrainische Einheiten mit Kommandostrukturen gab, die Gemeinsamkeiten mit denen NATO haben, dass aber die meisten Einheiten nach wie vor ihren sowjetischen Vorgängern sehr ähneln.Hinzu kommt, dass beide Seiten bei Kriegsbeginn über die gleiche Anzahl an Artilleriesystemen verfügten. Nur die Verfügbarkeit von Munition machte den Unterschied. Deshalb ähneln sich die Streitkräfte Russlands und der Ukraine, aber haben mit den meisten Militärs der Welt nur wenig gemeinsam. Daher bieten viele Aspekte des Ukrainekriegs nur wenig Anschauungsmaterial für diejenigen, die Doktrinen und Lehren entwickeln wollen, da sie auf ungewöhnlichen Situationen beruhen und in anderen Kriegen kaum reproduzierbar wären.
Nehmen wir zum Beispiel die enormen Mengen an Artilleriemunition, die Russland verschießt – zeitweise waren es 20.000 Schuss pro Tag. Das zeigt die Notwendigkeit einer großen Lagerhaltung an Artilleriemunition und großer mechanisierter Verbände, die in der Lage sind, eine solche Feuerkraft zu gewährleisten und den damit verbundenen Verschleiß durchzuhalten. Es gibt auf der Welt nur wenige Streitkräfte, die diese Art von Wirkung auf dem Schlachtfeld erzielen können, und noch weniger, die dazu bereit sind. Es ist eine sehr kostspielige Taktik, die enorme Reserven an Munition und Personal erfordert. Für die russischen Streitkräfte funktioniert diese Taktik, weil sie für diese Art der Kriegsführung ausgebildet wurden. Gleichzeitig kompensiert diese Taktik auch den Mangel an taktischem Geschick. Wenn man also die Möglichkeit eines Krieges mit Russland in Betracht zieht, dann ist dies ein wichtiger Aspekt, den man berücksichtigen muss, aber ob sich das auf andere Konflikte anwenden lässt, ist fraglich.
Kann man dennoch aus dem Ukraine-Krieg Lehren für den Einsatz von Schützenpanzern ziehen, die auch für ein breiteres Publikum von Nutzen sind als auch für diejenigen, die sich auf eine Konfrontation mit dem russischen Militär vorbereiten müssen? Einige Aspekte gibt es sicher, aber es ist schwer zu beurteilen, ob diese Lehren wirklich neu sind nur oder Variationen vergangener Konflikte.
Es ist sinnvoll, die Erkenntnisse aus dem Ukrainekrieg in ein breiteres Verständnis der Kriegsführung des 20. und 21. Jahrhunderts einzubetten. Dieser Artikel versucht, eine kontextbezogene Analyse zu liefern, um zu beurteilen, ob die Lehren aus dem Ukrainekrieg grundlegend neu sind. Zuallererst ist es angebracht, ein uraltes Thema durch die Brille des Ukrainekrieges zu betrachten und zu fragen: Hat der Panzer seine beste Zeit hinter sich?
Panzer
Der Panzer ist noch lange nicht am Ende. Diejenigen, die an das Ende des Panzerzeitalters glauben, halten die Zerstörung eines Panzers für den Beweis seiner Sinnlosigkeit. Ein altes Sprichwort besagt: „Ein Panzer ist wie ein Smoking, den man nur selten braucht, aber wenn man ihn braucht, hilft nichts anderes mehr.“
Panzer werden im Ukrainekrieg von beiden Seiten ausgiebig eingesetzt. Auf dem Gefechtsfeld kam eine beeindruckende Mischung aus T-62, T-64, T-72, T-80 und T-90 in verschiedenen Modernisierungsstadien zum Einsatz, einige von ihnen zum ersten Mal. Sie wurden auf verschiedene Weise eingesetzt, woraus man Lehren ziehen kann.
Panzer-gegen-Panzer-Duelle sind relativ häufig, aber wenn beide Seiten Verteidigungspositionen einnehmen, tritt auf dem weitläufigen Gefechtsfeld nur ein einziger Panzer gegen einen anderen an. Dann kommt es zu Gefechten auf sehr kurze Distanz. Es ist interessant, dass die an den Panzern angebrachten explosiv-reaktiven Panzerungen (ERA) häufig zwei Schüsse für ein erfolgreichen Treffer erforderlich machen – der erste Schuss mit einer hochexplosiven Granate, um die Reaktivpanzerung auszuhebeln, und der zweite Schuss mit einer Granate mit kinetischer Energie, um die Panzerung zu durchdringen und die Besatzung zu töten. Daraus lässt sich eine vermeintlich einfache Schlussfolgerung ziehen: Panzer benötigen zwei Schüsse, um einen gegnerischen Panzer auszuschalten.
Doch einige Faktoren dieser Gleichung sind unbekannt. Der erste Faktor ist die Art der Munition, die von den ukrainischen und russischen Panzerbesatzungen verwendet wird.
Frühere sowjetische panzerbrechende Munitionstypen mit flügelstabilisiertem Geschoss (APFSDS) (wie die allgegenwärtige 3VBM-9 „Zakolka“) verwenden ein Stahlprojektil, das hinter einer panzerbrechenden Kappe ein Wolframgeschoss trägt. Monoblockgeschosse mit abgereichertem Uran wie das 3VBM-13 „Vant“ wurden in der Sowjetunion erst spät eingeführt, Vollwolframkarbidgeschosse wie das 3VBM-17 „Mango“ erst 1986. Sie waren oft für Einheiten mit hoher Priorität vorgesehen, die Panzer wie den T-80 einsetzten. Die älteren Geschosse haben eine Mündungsenergie von etwa 6 MJ, während die neueren Geschosse wie Mango eine ähnliche kinetische Energie erreichen, aber aufgrund der größeren Härte und Dichte im Vergleich zu Stahlgeschossen (7,8 g/cm³ gegenüber 17 g/cm³ bei Wolfram) können sie die komplexen Panzerungen leichter durchschlagen. Vergleicht man sie jedoch mit moderner westlicher Munition, so ergibt sich eine interessante Diskrepanz. Dem verstorbenen Professor Ogorkiewicz zufolge haben die 120-mm-Glattrohrkanonen L44 und L55, mit denen die meisten NATO-Panzer ausgerüstet sind, eine Mündungsenergie von 9,8 MJ bzw. 12,5 MJ. Dies ist zwar nicht der einzige ausschlaggebende Faktor für die Letalität der APFSDS, lässt aber darauf schließen, dass westliche Panzer im Panzerduell wesentlich tödlicher sind als ihre russischen Gegenstücke.
ERA zerstört in erster Linie Geschosse mit kinetischer Energie durch Impulsübertragung und erfordert dickere und schwerere vordere Stirnplatten als bei hochexplosiven Panzerabwehrgeschossen (HEAT), da die Geschosse, denen sie entgegenwirken, schwerer und größer sind, so Paul Hazell, Professor für Aufschlagdynamik an der School of Engineering and Information Technology (SEIT) der UNSW Canberra. Das Gewicht und die Härte der Stirnplatte ändern die Flugbahn des APFSDS-Penetrators und können den Penetrator sogar in kleinere Stücke zerplatzen lassen. Die Panzerung hinter der ERA muss jedoch beträchtlich sein, um den Aufprall der Fragmente zu absorbieren. Da die meisten NATO-Panzerkanonen Munition verschießen, die in der Regel länger ist und aufgrund ihres typischerweise höheren Projektilgewichts (und im Falle der L55-Geschütze auch mit höheren Projektilgeschwindigkeiten) eine viel höhere Mündungsenergie erzeugen können, ist es nur logisch, dass der in der Ukraine beobachtete Trend zu zwei Schüssen keine Lehre ist, die sich auf alle Panzerkanonen anwenden lässt. Tests mit NATO-Munition aus den 1980er Jahren haben gezeigt, dass diese meist gegen Kontakt-5 ERA unwirksam war. Es lohnt sich also, zwischen älterer Munition und neuer Munition, die auf dem besseren Verständnis der post-sowjetischen Panzerung beruhen, zu unterscheiden.
Panzer werden auch zur direkten und indirekten Feuerunterstützung gegen Infanterieverbände eingesetzt. Ukrainische Panzer sind für diesen Zweck sogar mit einem Visier ausgestattet, und russische Panzerbesatzungen haben diese Kunst mit Orlan-10-Panzern geübt. Es ist also keine neue Fähigkeit, aber ihre Anwendung in der Ukraine ist interessant – und sei es nur wegen der Gefahr, die sie für Infanteristen darstellt. In einem Bericht der New York Times über die Kämpfe in der Nähe von Izyum heißt es Folgendes:
„Vor allem Panzer sind zu einer ernsthaften Bedrohung geworden, so die Kämpfer, weil sich die Panzer den Stellungen des Bataillons oft bis auf eine Meile nähern und schweren Schaden anrichten. In diesem Monat sind bereits 13 Soldaten des Bataillons getötet und mehr als 60 verwundet worden.“
Aus einem RUSI-Bericht über erste Erkenntnisse aus dem Krieg geht hervor, dass die Ukraine ihre Panzer als mobile Reserve einsetzen konnte. Ihr indirektes Feuer ermöglichte es ihnen, gleichzeitig als Artillerie und Panzer zu agieren und die russischen Streitkräfte in günstigen Momenten anzugreifen. Sie waren Berichten zufolge bis zu einer Entfernung von zehn km genau und benötigten nur wenig Zeit für die Anpassung ihres Feuers.
Ein Mangel an eigenen Panzern und die begrenzte Reichweite von Panzerabwehrwaffen bedeuten, dass Panzer unter den richtigen Umständen sehr tödlich sein können. Syrische Panzer haben an einem einzigen Nachmittag Hunderte Opfer verursacht, weil es keine Panzerabwehrwaffen gab. Das Fehlen von Panzern hat sich auch in anderen Konflikten bemerkbar gemacht. Die Koalitionstruppen in Afghanistan wurden oft durch die Feuerkraft der Taliban in die Enge getrieben, so dass sie auf Kampfhubschrauber und Luftunterstützung angewiesen waren, um sich aus dem Feuergefecht zu befreien. Ein einziger Panzer in dieser Situation – wie auch andere AFVs mit mittelkalibrigen Kanonen – würde dieses Ungleichgewicht in der Feuerkraft aufheben. In „Panzer Ace“, den veröffentlichten Memoiren von Richard von Rosen, einem deutschen Panzerkommandanten im Zweiten Weltkrieg, berichtet Rosen von Gelegenheiten, bei denen sowjetische Panzerabwehrkanonen schnell zum Schweigen gebracht wurden und die Infanterie den gepanzerten Verbänden ausgeliefert war, was zu schweren feindlichen Verlusten führte.
Panzer sind auch entscheidend bei Offensivoperationen, und es ist völlig klar, dass sie ohne Unterstützung durch Infanterie und Schützenpanzer (IFV) isoliert und zerstört werden. Als Element einer Offensivoperation gegen Infanterieverbände sind sie jedoch aufgrund des Schutzes, den sie bieten, absolut entscheidend, weil Infanteristen spezielle Mittel benötigen, um sie außer Gefecht zu setzen. Dies macht sie zu einem zentralen Element effektiver Offensivoperationen, da sie nur mit Mühe auszuschalten sind und häufig mehr als einen Treffer erfordern. Ungeachtet der vielen Videos von zerstörten Panzern sind sie schwer zu stoppen und können für Infanteristen ohne geeignete Abwehrwaffen katastrophale Folgen haben.
Daraus folgt, dass die Vorherrschaft der Panzer ein relativ konstanter Aspekt der Kriegsführung ist. Wenn ein Infanterieverband von unterstützenden Wirkmitteln abgeschnitten und von Panzern angegriffen wird, kann er schwere Verluste erleiden. Der Einsatz von Panzern zur indirekten Feuerunterstützung gegen Stellungen in der Ukraine mag also etwas Neues sein, die Überlegenheit von Panzern in Abwesenheit von Panzerabwehrwaffen ist es nicht. Was ist also von ATGM und ihrem Einsatz in der Ukraine zu halten?
Was können wir aus dem Ukrainekrieg über ATGM lernen?
Wenn man den Krieg in der Ukraine mit anderen Konflikten vergleicht, wird deutlich, dass sich die Durchschlagskraft moderner HEAT-Sprengköpfe bei schwer gepanzerten Fahrzeugen nicht ohne Weiteres zur eindeutigen Zerstörung führt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass Panzer überlebensfähig sind und dass manche Panzer überlebensfähiger sind als andere. Ein Merkmal des Ukrainekrieges ist jedoch die große Menge an ATGM. Es gibt so viele davon, dass Soldaten sie einsetzen, um Bunker, LKWs, leicht gepanzerte Fahrzeuge, Soldaten und andere Ziele zu bekämpfen. Dieser flächendeckende Einsatz von ATGM ist nicht neu: In Afghanistan war es üblich, dass Soldaten Javelin als eine Art Präzisionswaffe mit großer Reichweite einsetzten, im Gegensatz zur Luftnahunterstützung oder Artillerie. Darin spiegelt sich eine Binsenweisheit des Krieges wider: Soldaten werden höchstwahrscheinlich das wirksamste und sicherste Mittel einsetzen, das ihnen zur Verfügung steht, und nicht das billigste oder wirkungsstärkste. Die Masse der ATGM und ihre Auswirkungen auf gepanzerte Operationen sind jedoch eine Lehre, die es zu beachten gilt.
ATGM wurden zum ersten Mal während des Jom-Kippur-Krieges 1973 in großer Anzahl eingesetzt. Dieser oft untersuchte Konflikt hatte erhebliche Auswirkungen auf die USA und andere Streitkräfte. Die ägyptischen und syrischen Streitkräfte setzten 9M14 Malyutka ‚AT-3 Sagger‘-Raketen ein und erreichten bei einem erfolgreichen Treffer eine Durchschlagskraft von 60 Prozent. Dies führte zu durchschnittlich zwei Todesopfern pro Fahrzeug. Als Reaktion darauf verbesserte Israel die Überlebensfähigkeit seiner Fahrzeuge, was zu einer geringeren Zahl von Opfern pro Treffer führte. Ägypten hatte seine Malyutkas in Erwartung eines israelischen Panzerangriffs als Reaktion auf die Überquerung des Sinai zusammengezogen, sie aus den Reserveeinheiten herausgelöst und der Infanterie an der Front zugeteilt. Die Malyutka-Besatzungen hatten außerdem drei Jahre lang mit ihren Waffen geübt, um sicherzustellen, dass sie so leistungsfähig wie möglich waren. Die israelischen Streitkräfte setzten ihre Panzer bereitwillig in „Penny Packets“ (kleinen Gruppen) ohne Infanterieunterstützung ein, was den ägyptischen Generalstabschef zu der Bemerkung veranlasste, er habe nicht erwartet, dass die israelischen Streitkräfte so kooperativ sein würden. Der Jom-Kippur-Krieg diente also zur Veranschaulichung der Tatsache, dass ein massiver ATGM-Einsatz einen Panzervorstoß zunichte machen kann, bestätigte aber auch die aus dem Zweiten Weltkrieg bekannte Lehre, dass gepanzerte Fahrzeuge allein verwundbar sind.
Beweist der massenhafte Einsatz von ATGM in der Ukraine also etwas grundlegend Neues? In den Veröffentlichungen der U.S. Army über Manöver mit verbundenen Waffen wird darauf hingewiesen, dass „keine einzelne Waffe kriegsentscheidend ist“ und Operationen mit verbundenen Waffen für den Sieg unerlässlich sind. Es liegt auf der Hand, dass Beobachtungen über die Wirksamkeit von ATGM – oder einer beliebigen Kombination von Waffen und Taktiken – gegen Verbände, die nur aus Panzern bestehen, wenig hilfreich sind und unser Verständnis der modernen Kriegsführung nicht erweitern.
Die Wirksamkeit von ATGM gilt seit 1973 unverändert. Ein Vorstoß mit nur einem oder zwei Panzern und wenigen Infanteristen gegen einen Gegner mit ATGM wird erfolglos sein, vor allem, weil die Verteidiger mit ihren vielen ATGM das bedrohlichste Element dieser Streitkräfte ausschalten können. Gleichzeitig müssen wir aber auch das ukrainische Gefechtsfeld berücksichtigen. Keine der beiden Seiten ist in der Lage oder willens, mehr als eine Kampfgruppe in Kompaniegröße für Offensivoperationen aufzustellen. In jedem anderen Szenario käme dies einem „Penny-Packet“-Einsatz gleich, doch in der Ukraine könnte dies sowohl auf Zermürbung als auch auf die enorme Länge der umkämpften Front zurückzuführen sein. Das bedeutet, dass der Verteidiger möglicherweise nur einige wenige Fahrzeuge zerstören oder außer Gefecht setzen muss, um den Angreifer vom weiteren Vorgehen abzuhalten, was wiederum die Wirkung von ATGM verstärkt.
Während gepanzerte Streitkräfte nach einer Taktik suchen müssen, um wirksame Maßnahmen gegen ATGM zu finden, stellt sich die Frage nach dem Umfang. Wenn der Angreifer mehr Kräfte aufbringt, muss der Verteidiger mehr ATGM aufbringen, um wirksam zu sein. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass ATGM im gesamten Konfliktspektrum die gleiche Art und den gleichen Grad an Bedrohung darstellen. Aktive Schutzsysteme (APS) wie Trophy und Iron Fist verleihen Kampfpanzern ein hohes Maß an Überlebensfähigkeit in ebenbürtigen Konflikten. Bei solchen Szenarien handelt es sich häufig um einen Krieg in den Städten, der kombinierte Waffenmanöver aufgrund von Platzmangel oder mangelnden Möglichkeiten schwierig machen kann. Der Einsatz von ATGM in diesen Konflikten beschränkt sich jedoch in der Regel auf ein oder zwei pro Einsatz, neben schultergeführten Waffen wie der RPG-7. In Konflikten auf Augenhöhe helfen APS den Panzern, ihre Überlebensfähigkeit aufrechtzuerhalten, aber die Bekämpfung von massiven ATGM-Angriffen hängt von der Fähigkeit der Streitkräfte ab, ATGM-Teams und unterstützende Panzer mit Infanterie zu unterdrücken oder umgekehrt.
Alles in allem zeigt der Ukrainekrieg, dass ATGM weiterhin tödlich gegen Panzer sind, was das große Interesse an APS erklärt. Der Einsatz verbundenener Waffen ist nach wie vor entscheidend für die Überlebensfähigkeit gegen diese Bedrohungen, und ihr massiver Einsatz ist für gepanzerte Verbände riskant. Der Ukrainekrieg wirft die Frage auf, wie sich der Umfang des ATGM-Einsatzes auf eine Formation auswirkt. Dabei geht es weniger um die Tödlichkeit – diese ist bereits gut bekannt -, sondern vielmehr um die Frage, wie sich ATGM, die in einem kleinen Gebiet konzentriert sind, auf eine Formation auswirken können und wie man dieser Gefahr begegnen kann. Des Weiteren steht die Frage im Raum, wie repräsentativ die Kämpfe in der Ukraine für das moderne Schlachtfeld sind.
Kanonen, überall Kanonen
Diese Beispiele zeigen, dass sich der Status des Panzers durch den Krieg in der Ukraine nicht grundlegend geändert hat und ATGM weiterhin ein Problem sind, wenn auch kein unüberwindbares.
Es gibt jedoch einen Aspekt des Krieges, der näher beleuchtet werden sollte, weil er in früheren Kriegen weniger Beachtung fand als z.B. die Luftverteidigung oder der Nutzen der Luftwaffe, nämlich die Rolle der mittelkalibrigen Kanone. Beide Seiten setzen die 30-mm-Kanone 2A42 Shipunov ein, mit der die BMP-2 und BMD-2 bewaffnet sind, sowie die 2A72, eine leichtere Variante, die auf den BTR-82A und den russischen BMP-3 und BMD-4M Fahrzeugen zu finden ist. Auch die Ukraine setzt eine lokal hergestellte Version auf ihren Rad-Schützenpanzern BTR-3 und BTR-4 ein. Diese Kanonen sind weit verbreitet und haben das Kampfgeschehen auf beiden Seiten geprägt, siehe zum Beispiel diesen Bericht eines ukrainischen Kämpfers:
„Meiner Meinung nach sind russische BTR gefährlicher als Panzer. Ihre Kanone feuert schneller und diese Fahrzeuge transportieren Soldaten. Wenn wir einen BTR sehen, wissen wir, dass auch Soldaten in der Nähe sind. Wenn wir aber einen Panzer sehen, ist er manchmal allein und leichter zu zerstören. Die Verletzungen durch diese Kanonen sind furchtbar. Ein Treffer in den Körper lässt jemanden fast explodieren. Sie sind leicht zu zerstören, aber im direkten Kampf sehr gefährlich.“
Die Leistung der Kanone ist gewaltig. Die 2A72 kann 500 Schuss pro Minute abfeuern und ist im BMP-3 in beiden Achsen stabilisiert und mit einem Feuerleitsystem verbunden, das eine hohe Zielgenauigkeit auf Distanz ermöglicht. Die hohe Feuerrate ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Waffen gasbetrieben sind. Die Feuerrate kann sich sogar noch erhöhen, wenn sich das Rohr erwärmt, da der Wärmeverlust der Treibgase verringert wird, was zu einem höheren Druck führt, der wiederum die Funktionsmechanismen der Waffe schneller in Gang setzt.
Die Feuerkraft dieser Kanonen ermöglicht es, Infanterieverbände aus der Ferne zu überwältigen, und sie sind so wirkungsstark, dass sie unter Umständen auch einem Panzer Schaden zufügen können. Beide Verwendungszwecke der mittelkalibrigen Kanone wurden in der Ukraine beobachtet, und es hat sich gezeigt, dass diese Kanonen für Infanterieverbände sehr gefährlich sind, wenn die Infanteristen nicht unterstützt werden. Sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Kriegsführung im städtischen Raum, da sie Stellungen aus Entfernungen unterdrücken, die außerhalb der Reichweite der von Infanterieverbänden mitgeführten Standard-Schulterfeuerwaffen gegen Panzer liegen.
Auch das ist kein neuer Trend. Die US-Streitkräfte setzten 1991 und 2003 im Irak das 25-mm-M242-Geschütz ein, mit dem der Schützenpanzer M2/M3 Bradley bewaffnet war, und erzielten damit große Erfolge, indem sie sogar eingegrabene T-62 mit Schüssen durch das Turmdach außer Gefecht setzten. Sie waren im Stadtkampf von unschätzbarem Wert, da sie schnelles und demoralisierendes direktes Feuer gegen Infanterie in Gebäuden und, falls erforderlich, durch Mauern hindurch lieferten. Das Vereinigte Königreich setzte seine 30-mm-RARDEN-Kanonen während des Falkland-Krieges 1982 ebenfalls mit gutem Erfolg ein. Kanonen wurden auch als eine Form des direkten Präzisionsfeuers in Afghanistan eingesetzt, wo sie dazu dienten, Taliban-Kräfte schnell zu unterdrücken, und ähnliche Ergebnisse wurden von den französischen Streitkräften in Mali berichtet. Die Ukraine zeigt jedoch den entscheidenden Nutzen dieser Waffen in einem Konflikt unter Ebenbürtigen. Früher wurden diese Waffen häufig in Konflikten ungleicher Gegner eingesetzt, wo die eine Seite besser ausgerüstet war als die andere. Der Einsatz dieser Kanonen in der Ukraine zeigt, dass sie eine äußerst tödliche und nützliche Waffe sind, was auch erklärt, warum die meisten AFVs der NATO diese Waffe jetzt tragen.
Wichtig ist, dass man sich über das Risiko im Klaren ist, das entsteht, wenn Fahrzeuge, die keine Kanonen tragen, auf Fahrzeuge mit Kanonen treffen. Wie wird sich beispielsweise die britische Boxer-Flotte in einem ebenbürtigen Konflikt schlagen, wenn sie nicht mit mittelkalibrigen Waffen ausgerüstet ist?
Die mittelkalibrige Kanone ist eine äußerst nützliche Waffe. Sie kann zur Bekämpfung einer Vielzahl von Zielen eingesetzt werden und verleiht Infanterieverbänden eine große Tödlichkeit. Diese Lehre war bereits bekannt, aber der Krieg in der Ukraine hat bewiesen, dass sie sich in einem hochintensiven Gefecht unter ebenbürtigen Gegnern bewahrheitet.