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Samstag, 5. Oktober 2024

Wer hat den Ukraine-Krieg verursacht?

von John J. Mearsheimer...

Publizist John J. Mearsheimer



Die Frage, wer für den Krieg in der Ukraine verantwortlich ist, ist seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ein sehr umstrittenes Thema. Die Antwort auf diese Frage ist von enormer Bedeutung, denn der Krieg war aus verschiedenen Gründen eine Katastrophe, von denen die wichtigste darin besteht, dass die Ukraine praktisch zerstört wurde. Sie hat einen beträchtlichen Teil ihres Territoriums verloren und wird wahrscheinlich noch mehr verlieren, ihre Wirtschaft liegt in Trümmern, eine riesige Zahl von Ukrainern wurde als Binnenflüchtlinge vertrieben oder ist aus dem Land geflohen, und das Land hat Hunderttausende von Opfern zu beklagen. Natürlich hat auch Russland einen hohen Blutzoll gezahlt. Auf strategischer Ebene sind die Beziehungen zwischen Russland und Europa, ganz zu schweigen von Russland und der Ukraine, auf unabsehbare Zeit vergiftet, was bedeutet, dass die Gefahr eines größeren Krieges in Europa auch dann noch bestehen wird, wenn der Krieg in der Ukraine zu einem eingefrorenen Konflikt wird. Wer die Verantwortung für diese Katastrophe trägt, ist eine Frage, die nicht so schnell verschwinden wird, sondern eher noch an Bedeutung gewinnen dürfte, je mehr Menschen das Ausmaß der Katastrophe bewusst wird.

Die gängige Meinung im Westen ist, dass Wladimir Putin für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sei. Die Invasion zielte darauf ab, die gesamte Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil eines größeren Russlands zu machen, so die Argumentation. Sobald dieses Ziel erreicht sei, würden die Russen ein Imperium in Osteuropa errichten, ähnlich wie es die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg getan habe. Daher stelle Putin letztlich eine Bedrohung für den Westen dar, der man mit aller Macht begegnen müsse. Kurz gesagt, Putin ist demnach ein Imperialist mit einem Masterplan, der sich nahtlos in die reiche russische Tradition einfügt.

Wiederaufgeflammte Debatte

Das alternative Argument, mit dem ich mich identifiziere und das im Westen eindeutig in der Minderheit ist, lautet, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten diesen Krieg provoziert haben. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist und den Krieg begonnen hat. Die Hauptursache des Konflikts ist jedoch der NATO-Beschluss, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen, was praktisch alle russischen Führer als existenzielle Bedrohung ansehen, die beseitigt werden muss. Die NATO-Erweiterung ist jedoch Teil einer umfassenderen Strategie, die darauf abzielt, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenze zu machen. Ein Beitritt Kiews zur Europäischen Union (EU) und die Förderung einer farbigen Revolution in der Ukraine – die Umwandlung des Landes in eine pro-westliche liberale Demokratie – sind die beiden anderen Säulen dieser Politik. Die russische Führung fürchtet alle drei Bereiche, aber am meisten fürchtet sie die NATO-Erweiterung. Um dieser Bedrohung zu begegnen, hat Russland am 24. Februar 2022 einen Präventivkrieg begonnen.

Die Debatte darüber, wer den Ukraine-Krieg verursacht hat, ist kürzlich wieder aufgeflammt, als zwei prominente westliche Politiker – der ehemalige US-Präsident Donald Trump und der prominente britische Abgeordnete Nigel Farage – das Argument vorbrachten, dass die NATO-Erweiterung die treibende Kraft hinter dem Konflikt sei. Es überrascht nicht, dass ihre Äußerungen von den Verfechtern der konventionellen Meinung mit einem heftigen Gegenangriff beantwortet wurden. Es ist auch erwähnenswert, dass der scheidende NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im vergangenen Jahr zweimal sagte, dass “Präsident Putin diesen Krieg begonnen hat, weil er die Tür zur NATO schließen und der Ukraine das Recht verweigern wollte, ihren eigenen Weg zu wählen”. Kaum jemand im Westen hat dieses bemerkenswerte Eingeständnis des NATO-Chefs in Frage gestellt, und er hat es auch nicht zurückgezogen. Mein Ziel ist es, einen Überblick über die wichtigsten Punkte zu geben, die die Ansicht stützen, dass Putin nicht in die Ukraine einmarschiert ist, weil er ein Imperialist ist, der die Ukraine zu einem Teil eines größeren Russlands machen will – sondern vor allem wegen der NATO-Erweiterung und der Bemühungen des Westens, die Ukraine zu einer westlichen Hochburg an der Grenze Russlands zu machen.

Sieben Gründe, warum das verbreitete westliche Narrativ falsch ist

Lassen Sie mich mit den sieben wichtigsten Gründen für die Ablehnung der herkömmlichen Meinung beginnen.

Erstens: Es gibt schlicht und ergreifend keine Beweise aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022, dass Putin die Ukraine “erobern” oder Russland eingliedern wollte. Vertreter der gängigen Meinung können keine Schriftstücke oder Aussagen von Putin nennen, die darauf hindeuten, dass er die Ukraine erobern wollte. Wenn man sie zu diesem Punkt befragt, liefern die Verfechter der konventionellen Meinung Hinweise, die wenig oder gar nichts mit Putins Motiven für die Invasion der Ukraine zu tun haben. Einige betonen zum Beispiel, dass er sagte, die Ukraine sei ein “künstlicher Staat” oder kein “echter Staat”. Solche undurchsichtigen Äußerungen sagen jedoch nichts über die Gründe für seinen Kriegseintritt aus. Dasselbe gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als “ein Volk” mit einer gemeinsamen Geschichte.

Andere weisen darauf hin, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion als “die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts” bezeichnete. Aber Putin sagte auch: “Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.” Andere wiederum verweisen auf eine Rede, in der er erklärte: “Die moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland.” Aber das ist kaum ein Beweis dafür, dass er an der Eroberung der Ukraine interessiert war. Außerdem sagte er in derselben Rede: “Natürlich können wir die Ereignisse der Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich zugeben.”

Keine Beweise für irgendwelche “Eroberungspläne”

Um zu beweisen, dass Putin die gesamte Ukraine erobern und Russland einverleiben wollte, muss man nachweisen, dass er a) dieses Ziel für erstrebenswert hielt, 2) es für machbar hielt und 3) die Absicht hatte, dieses Ziel zu verfolgen. Es existieren in sämtlichen öffentlichen Aufzeichnungen keine Beweise dafür, dass Putin je erwog, geschweige denn beabsichtigte, die Ukraine als unabhängigen Staat zu terminieren und sie zu einem Teil “Großrusslands” zu machen, als er am 24. Februar 2022 seine Truppen in die Ukraine schickte. Tatsächlich gibt es hingegen erhebliche Beweise dafür, dass Putin die Ukraine als unabhängiges Land anerkannte. In einem bekannten Artikel vom 12. Juli 2021 über die russisch-ukrainischen Beziehungen, der von Befürwortern der konventionellen Meinung oft als Beweis für seine imperialen Ambitionen angeführt wird, sagt er dem ukrainischen Volk: “Ihr wollt einen eigenen Staat gründen: Ihr seid willkommen!” Zur Frage, wie Russland die Ukraine behandeln sollte, schreibt er darin: “Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.” Er schließt seinen langen Artikel mit den folgenden Worten: “Und wie die Ukraine aussehen wird – das müssen ihre Bürger entscheiden.” Diese Aussagen stehen im direkten Widerspruch zu der Behauptung, Putin wolle die Ukraine in ein größeres Russland eingliedern.

In demselben Artikel vom 12. Juli 2021 und erneut in einer wichtigen Rede am 21. Februar 2022 betonte Putin, dass Russland “die neue geopolitische Realität, die nach der Auflösung der UdSSR entstanden ist”, akzeptiere. Diesen Punkt wiederholte er ein drittes Mal am 24. Februar 2022, als er ankündigte, Russland werde in die Ukraine einmarschieren. Insbesondere erklärte er: “Wir haben nicht vor, ukrainisches Territorium zu besetzen”, und machte deutlich, dass er die ukrainische Souveränität respektiere, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: “Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es sich einer ständigen Bedrohung durch das Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt sieht.” Das heißt: Putin war nicht daran interessiert, die Ukraine zu einem Teil Russlands zu machen, sondern er wollte sicherstellen, dass sie nicht zu einem “Sprungbrett” für westliche Aggressionen gegen Russland wird.

Unzureichende militärische Kapazitäten Russlands für Invasion

Zweitens: Es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass Putin eine Marionettenregierung für die Ukraine vorbereitete, dass er in Kiew prorussische Führungspersönlichkeiten aufbaute oder irgendwelche politischen Maßnahmen verfolgte, die eine Besetzung des gesamten Landes und dessen letztendliche Eingliederung in Russland ermöglichen würden. Diese Fakten widersprechen der Behauptung, Putin sei daran interessiert gewesen, die Ukraine von der Landkarte zu tilgen.

Drittens: Putin hatte nicht annähernd genug Truppen, um die Ukraine zu erobern. Beginnen wir mit den Gesamtzahlen; ich schätze seit langem, dass die Russen mit höchstens 190.000 Soldaten in die Ukraine einmarschiert sind. General Oleksandr Syrskyi, der derzeitige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sagte kürzlich in einem Interview mit “The Guardian”, dass die russische Invasionstruppe nur 100.000 Mann stark war. “The Guardian” hatte diese Zahl bereits vor Beginn des Krieges genannt. Es ist unmöglich, dass eine Truppe von 100.000 oder auch 190.000 Mann die gesamte Ukraine erobern, besetzen und in ein Großrussland eingliedern könnte. Bedenken Sie, dass die Wehrmacht beim deutschen Überfall auf die westliche Hälfte Polens im September 1939 etwa 1,5 Millionen Mann zählte. Die Ukraine ist geografisch mehr als dreimal so groß wie die westliche Hälfte Polens im Jahr 1939, und in der Ukraine leben im Jahr 2022 fast doppelt so viele Menschen wie in Polen zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls. Wenn wir die Schätzung von General Syrskyi akzeptieren, dass 100.000 russische Truppen im Jahr 2022 in die Ukraine einmarschierten, bedeutet dies, dass Russland über eine Invasionsstreitmacht verfügte, die ein Fünfzehntel der Größe der deutschen Streitkräfte umfasste, die 1939 in Polen einmarschierten. Und diese kleine russische Armee marschierte in ein Land ein, das sowohl territorial als auch von der Bevölkerungszahl her viel größer war als Polen.

Fragen zur Quantität und Qualität

Abgesehen von den Zahlen stellt sich die Frage nach der Qualität der russischen Armee. Zunächst einmal war diese eine militärische Streitkraft, die in erster Linie dazu bestimmt war, Russland vor einer Invasion zu schützen. Es handelte sich nicht um eine Armee, die für eine Großoffensive zur Eroberung der gesamten Ukraine, geschweige denn zur Bedrohung des übrigen Europas, gerüstet war. Außerdem ließ die Stärke der Kampftruppen zu wünschen übrig, da die Russen nicht mit einem Krieg rechneten, als sich die Krise im Frühjahr 2021 zuzuspitzen begann. Daher hatten sie kaum mehr Gelegenheit, eine qualifizierte Invasionstruppe auszubilden. Sowohl qualitativ als auch quantitativ war die russische Invasionstruppe nicht annähernd mit der deutschen Wehrmacht der späten 1930er und frühen 1940er Jahre vergleichbar.

Man könnte argumentieren, dass die russische Führung dachte, das ukrainische Militär sei so klein und so unterlegen, dass ihre Armee die ukrainischen Streitkräfte leicht besiegen und das ganze Land erobern könnte. Tatsächlich wussten Putin und seine Leutnants sehr wohl, dass die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten das ukrainische Militär seit Ausbruch der Krise am 22. Februar 2014 bewaffnet und ausgebildet hatten. Die große Befürchtung Moskaus war, dass die Ukraine de facto Mitglied der NATO werden würde. Außerdem beobachteten die russischen Führer, wie die ukrainische Armee, die größer war als ihre Invasionstruppen, zwischen 2014 und 2022 im Donbass erfolgreich kämpfte. Ihnen war sicherlich klar, dass das ukrainische Militär kein Papiertiger war, der schnell und entschlossen besiegt werden konnte, zumal es über eine starke Rückendeckung durch den Westen verfügte. Schließlich waren die Russen im Laufe des Jahres 2022 gezwungen, ihre Armee aus der Oblast Charkiw und aus dem westlichen Teil der Oblast Cherson abzuziehen. Damit gab Moskau Gebiete auf, die seine Armee in den ersten Tagen des Krieges erobert hatte.

Frühe diplomatische Vorstöße Russlands

Es steht außer Frage, dass der Druck der ukrainischen Armee eine Rolle dabei spielte, den russischen Rückzug zu erzwingen. Vor allem aber erkannten Putin und seine Generäle, dass sie nicht über genügend Kräfte verfügten, um das gesamte Gebiet, das ihre Armee in Charkiw und Cherson erobert hatte, zu halten. Also zogen sie sich zurück und schufen besser kontrollierbare Verteidigungspositionen. Dies ist kaum ein Verhalten, das man von einer Armee erwarten würde, die aufgebaut und ausgebildet wurde, um die gesamte Ukraine zu erobern und zu besetzen. Tatsächlich war sie für diesen Zweck nicht konzipiert und konnte daher diese Herkulesaufgabe nicht bewältigen.

Viertens: In den Monaten vor Kriegsbeginn versuchte Putin, eine diplomatische Lösung für die sich anbahnende Krise zu finden. Am 17. Dezember 2021 sandte Putin ein Schreiben an Präsident Joe Biden und NATO-Chef Stoltenberg, in dem er eine Lösung der Krise auf der Grundlage einer schriftlichen Garantie vorschlug, dass a) die Ukraine der NATO nicht beitreten würde, b) keine Angriffswaffen in der Nähe der russischen Grenzen stationiert würden und c) die seit 1997 nach Osteuropa verlegten NATO-Truppen und -Ausrüstung nach Westeuropa zurückverlegt würden. Was auch immer man von der Machbarkeit einer Einigung auf der Grundlage von Putins Eröffnungsforderungen halten mag, über die die Vereinigten Staaten keine Verhandlungen führen wollten: Es zeigt, dass er versuchte, einen Krieg zu vermeiden.

Gesten des guten Willens

Fünftens: Unmittelbar nach Beginn des Krieges hat Russland der Ukraine die Hand gereicht, um Verhandlungen zur Beendigung des Krieges und zur Ausarbeitung eines modus vivendi zwischen den beiden Ländern aufzunehmen. Die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau begannen in Weißrussland nur vier Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Diese weißrussische Schiene wurde schließlich durch eine israelische und eine Istanbuler Schiene ersetzt. Alle verfügbaren Beweise deuten darauf hin, dass Russland ernsthaft verhandelte und nicht an der Übernahme ukrainischen Territoriums interessiert war, – mit Ausnahme der Krim, die es 2014 annektiert hatte, und möglicherweise des Donbass. Die Verhandlungen endeten, als die Ukrainer auf Drängen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten die Verhandlungen abbrachen, die zum Zeitpunkt ihrer Beendigung durchaus gute Fortschritte gemacht hatten. Darüber hinaus berichtet Putin, dass er, als die Verhandlungen anliefen und Fortschritte machten, gebeten wurde, als Geste des guten Willens die russischen Truppen aus dem Gebiet um Kiew abzuziehen, was er am 29. März 2022 auch tat. Keine westliche Regierung und kein ehemaliger Politiker hat diese Behauptung Putins seither angefochten, die in direktem Widerspruch zu seiner Behauptung steht, er wolle die gesamte Ukraine erobern.

Sechstens: Abgesehen von der Ukraine gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Putin die Eroberung anderer osteuropäischer Länder ins Auge gefasst hat. Außerdem ist die russische Armee nicht einmal groß genug, um die gesamte Ukraine zu überrennen – ganz zu schweigen von dem Versuch, die baltischen Staaten, Polen und Rumänien zu erobern. Außerdem sind alle diese Länder NATO-Mitglieder, was mit ziemlicher Sicherheit einen Krieg mit den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten bedeuten würde.

Frühe fragwürdige NATO-Erweiterungspläne

Siebtens: Seit er im Jahr 2000 die Macht übernahm, behauptete bis zur Zuspitzung der Ukraine-Krise im Februar 2014 kaum jemand im Westen, Putin hege imperiale Ambitionen. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde er plötzlich zum imperialen Aggressor. Warum? Weil die westlichen Staats- und Regierungschefs einen Grund brauchten, ihm die Schuld für die Krise zu geben. Der wohl beste Beweis dafür, dass Putin in den ersten vierzehn Jahren seiner Amtszeit nicht als ernsthafte Bedrohung angesehen wurde, ist die Tatsache, dass er auf dem NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest ein geladener Gast war, auf dem das Bündnis bekannt gab, dass die Ukraine und Georgien schließlich Mitglieder werden würden. Putin war natürlich erzürnt über diese Entscheidung und machte seinem Unmut Luft. Sein Widerstand gegen diese Ankündigung hatte jedoch kaum Auswirkungen auf Washington, da das russische Militär als zu schwach eingeschätzt wurde, um eine weitere NATO-Erweiterung zu verhindern – so wie es auch bei den Erweiterungswellen von 1999 und 2004 zu schwach gewesen war, um sie aufzuhalten. Der Westen glaubte, er könne Russland die NATO-Erweiterung noch einmal aufzwingen.

Außerdem war die NATO-Erweiterung vor dem 22. Februar 2014 nicht darauf ausgerichtet, Russland einzudämmen. Angesichts des traurigen Zustands der russischen Militärmacht war Moskau nicht in der Lage, die Ukraine zu erobern, geschweige denn eine revanchistische Politik in Osteuropa zu verfolgen. Der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, der ein entschiedener Verfechter der Ukraine und scharfer Kritiker Putins ist, stellt bezeichnenderweise fest, dass die Einnahme der Krim durch Russland im Jahr 2014 vor Ausbruch der Krise nicht geplant war; es war eine impulsive Reaktion auf den Putsch, der den prorussischen Führer der Ukraine gestürzt hatte. Kurz gesagt: die NATO-Erweiterung war nicht dazu gedacht, eine russische Bedrohung einzudämmen – weil der Westen selbst nicht glaubte, dass es eine solche gab.

Aggressiver Impuls “der Russen” nicht identifizierbar

Erst als im Februar 2014 die Ukraine-Krise ausbrach, begannen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten plötzlich, Putin als gefährlichen Führer mit imperialen Ambitionen und Russland als ernsthafte militärische Bedrohung zu beschreiben, die die NATO eindämmen müsse. Dieser abrupte Wechsel der Rhetorik sollte einem wesentlichen Zweck dienen: dem Westen die Möglichkeit zu geben, Putin für die Krise verantwortlich zu machen und den Westen von der Verantwortung freizusprechen. Es überrascht nicht, dass diese Darstellung Putins nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 deutlich an Zugkraft gewann. Eine Abweichung von der gängigen Meinung ist erwähnenswert. Einige argumentieren, dass die Entscheidung Moskaus, in die Ukraine einzumarschieren, wenig mit Putin selbst zu tun hat und stattdessen Teil einer expansionistischen Tradition ist, die lange vor Putin bestand und tief in der russischen Gesellschaft verwurzelt ist. Dieser Hang zur Aggression, der angeblich von inneren Kräften und nicht von Russlands äußerem Bedrohungsumfeld angetrieben wird, hat im Laufe der Zeit praktisch alle russischen Führer dazu gebracht, sich ihren Nachbarn gegenüber gewalttätig zu verhalten. Es lässt sich nicht leugnen, dass Putin in dieser Geschichte das Sagen hat oder dass er Russland in den Krieg geführt hat, aber es heißt, dass er wenig Einfluss hat. Fast jeder andere russische Führer hätte genauso gehandelt.

Es gibt zwei Probleme mit diesem Argument. Erstens ist es nicht widerlegbar, da der langjährige Charakterzug in der russischen Gesellschaft, der diesen aggressiven Impuls hervorrufe, nie identifiziert wurde. Es heißt, die Russen seien schon immer aggressiv gewesen – egal, wer an der Macht ist – und würden es auch immer sein. Es ist fast so, als ob es in ihrer DNA läge. Die gleiche Behauptung wurde einst über die Deutschen aufgestellt, die im zwanzigsten Jahrhundert oft als angeborene Aggressoren dargestellt wurden. Derartige Argumente werden in der akademischen Welt aus gutem Grund nicht ernst genommen.

Außerdem bezeichnete zwischen 1991 und 2014, als die Ukraine-Krise ausbrach, kaum jemand in den Vereinigten Staaten oder Westeuropa Russland als von Natur aus aggressiv. Außerhalb Polens und der baltischen Staaten wurde die Angst vor russischer Aggression in diesen 24 Jahren nicht häufig geäußert, was man erwarten würde, wenn die Russen zu Aggressionen veranlagt wären. Es scheint klar, dass das plötzliche Auftauchen dieser Argumentation eine bequeme Ausrede war, um Russland die Schuld für den Ukrainekrieg zu geben.

Aufschlussreiche Originalzitate

Lassen Sie mich nun sozusagen einen anderen Gang einlegen und drei Hauptgründe darlegen, die dafür sprechen, dass die NATO-Erweiterung die Hauptursache für den Ukraine-Krieg war.

Erstens sagten russische Führer aller Art vor Kriegsbeginn wiederholt, dass sie die NATO-Erweiterung in die Ukraine als eine existenzielle Bedrohung betrachten, die beseitigt werden muss. Putin hat diese Argumentation bereits vor dem 24. Februar 2022 mehrfach öffentlich dargelegt. In einer Rede vor der Führungsebene des Verteidigungsministeriums am 21. Dezember 2021 erklärte er: “Was sie in der Ukraine tun oder versuchen oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern entfernt von unserer Landesgrenze statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwo mehr hin zurückziehen können. Glauben sie wirklich, dass wir diese Bedrohungen nicht wahrnehmen? Oder glauben sie, dass wir tatenlos zusehen werden, wie Bedrohungen für Russland entstehen?” Zwei Monate später, auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 2022, nur wenige Tage vor Kriegsbeginn, sagte Putin: „Wir sind kategorisch gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt, und wir haben Argumente, die dies unterstützen. Ich habe in diesem Saal wiederholt darüber gesprochen.“ Dann machte er deutlich, dass er begreift, dass die Ukraine ein De-facto-Mitglied der NATO werden soll. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, sagte er, “pumpen die derzeitigen Kiewer Machthaber weiterhin mit modernen Waffentypen voll”. Er fuhr fort, dass Moskau, wenn dies nicht gestoppt werde, “mit einem bis an die Zähne bewaffneten ‘Antirussland’ dastehen würde. Das ist völlig inakzeptabel.”

Auch andere führende russische Politiker – darunter der Verteidigungsminister, der Außenminister, der stellvertretende Außenminister und der russische Botschafter in Washington – betonten die zentrale Bedeutung der NATO-Erweiterung als Auslöser der Ukraine-Krise. Außenminister Sergej Lawrow brachte es auf einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 auf den Punkt: “Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass die NATO nicht nach Osten expandieren wird.” Man hört oft das Argument, die russischen Befürchtungen seien unbegründet, weil es keine Chance gebe, dass die Ukraine dem Bündnis in absehbarer Zukunft beitreten werde – wenn überhaupt. Tatsächlich wird behauptet, die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten hätten der Aufnahme der Ukraine in die NATO vor dem Krieg wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Aber selbst wenn die Ukraine dem Bündnis beitreten würde, wäre dies keine existenzielle Bedrohung für Russland, da die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Daher kann die NATO-Erweiterung weder eine Ursache der ursprünglichen Krise gewesen sein, die im Februar 2014 ausbrach, noch des Krieges, der im Februar 2022 begann.

Selenskyjs Kurswechsel 2021

Diese Argumentation ist falsch. Tatsächlich bestand die westliche Reaktion auf die Ereignisse von 2014 darin, die bestehende Strategie zu verdoppeln und die Ukraine noch näher an die NATO heranzuführen. Das Bündnis begann 2014 mit der Ausbildung des ukrainischen Militärs und bildete in den folgenden acht Jahren durchschnittlich 10.000 Soldaten pro Jahr aus. Im Dezember 2017 beschloss die Trump-Regierung, Kiew mit „Verteidigungswaffen“ zu versorgen. Andere NATO-Länder zogen bald nach und lieferten noch mehr Waffen an die Ukraine. Darüber hinaus begannen die ukrainische Armee, Marine und Luftwaffe, an gemeinsamen Militärübungen mit NATO-Streitkräften teilzunehmen. Die Bemühungen des Westens, das ukrainische Militär zu bewaffnen und auszubilden, erklären zu einem großen Teil, warum es im ersten Kriegsjahr so gut gegen die russische Armee abschnitt. Eine Schlagzeile im “Wall Street Journal” vom April 2022 lautete: “Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahrelange NATO-Ausbildung.”

Abgesehen von den laufenden Bemühungen des Bündnisses, das ukrainische Militär zu einer schlagkräftigeren Kampftruppe zu machen, die an der Seite der NATO-Truppen operieren kann, gab es im Westen im Laufe des Jahres 2021 eine neue Begeisterung für die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Gleichzeitig vollzog Präsident Selensky, der nie viel Enthusiasmus für eine Aufnahme der Ukraine in das Bündnis gezeigt hatte und im März 2019 auf der Grundlage einer Plattform gewählt wurde, die zur Zusammenarbeit mit Russland bei der Beilegung der anhaltenden Krise aufrief, Anfang 2021 einen Kurswechsel – und befürwortete nicht nur die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern vertrat auch eine harte Linie gegenüber Moskau.

Präsident Biden, der im Januar 2021 ins Weiße Haus einzog, hatte sich seit langem für die Aufnahme der Ukraine in die NATO eingesetzt und war ein “Super-Falke” gegenüber Russland.

Ukrainischer NATO-Kurs bis 2021 stand außer Frage

Es überrascht nicht, dass die NATO am 14. Juni 2021 auf ihrem jährlichen Gipfel in Brüssel ein Kommuniqué herausgab, in dem es hieß: “Wir bekräftigen den auf dem Gipfel von Bukarest 2008 gefassten Beschluss, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird.” Am 1. September 2021 besuchte Selensky das Weiße Haus, wo Biden klarstellte, dass die Vereinigten Staaten “fest entschlossen” seien, “die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen”. Am 10. November 2021 unterzeichneten Außenminister Antony Blinken und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba ein wichtiges Dokument – die Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine. Das Ziel beider Parteien, so heißt es darin, ist es, “das Engagement für die Durchführung tiefgreifender und umfassender Reformen in der Ukraine zu unterstreichen, die für eine vollständige Integration in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen erforderlich sind.” Es bekräftigt auch ausdrücklich das Engagement der USA “…für die Bukarester Gipfelerklärung von 2008”.

Es scheint kaum Zweifel daran zu geben, dass die Ukraine auf dem besten Weg war, bis Ende 2021 Mitglied der NATO zu werden. Dennoch argumentieren einige Befürworter dieser Politik, dass sich Moskau keine Sorgen über dieses Ergebnis hätte machen müssen, denn “die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar”. Aber das ist eben nicht die Meinung Putins und anderer russischer Politiker über die NATO, und es kommt darauf an, was sie denken. Kurz gesagt, es steht außer Frage, dass Moskau den Beitritt der Ukraine zur NATO als eine existenzielle Bedrohung ansah, die nicht hingenommen werden durfte.

Die Mahnungen William Burns’ und anderer

Zweitens erkannte eine beträchtliche Anzahl einflussreicher und hoch angesehener Persönlichkeiten im Westen vor dem Krieg, dass die Expansion der NATO – insbesondere in die Ukraine – von der russischen Führung als tödliche Bedrohung angesehen werden und schließlich zur Katastrophe führen würde. William Burns, der heute die CIA leitet, aber zum Zeitpunkt des NATO-Gipfels in Bukarest im April 2008 US-Botschafter in Moskau war, verfasste ein Memo an die damalige Außenministerin Condoleezza Rice, in dem er die russischen Überlegungen zur Aufnahme der Ukraine in die Allianz prägnant beschreibt. “Der Beitritt der Ukraine zur NATO”, so schrieb er, “ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunklen Nischen des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern, habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen.” Die NATO, so sagte er weiter, “würde als ein strategischer Fehdehandschuh angesehen werden. Das heutige Russland wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen würden auf Eis gelegt … Das würde einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.”

Burns war 2008 nicht der einzige westliche Entscheidungsträger, der erkannte, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO mit Gefahren verbunden war. Auf dem Bukarester Gipfel sprachen sich sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus, weil sie wussten, dass dies Russland alarmieren und verärgern würde. Merkel erklärte kürzlich ihre Ablehnung: “Ich war mir sehr sicher, … dass Putin das nicht einfach zulassen wird. Aus seiner Sicht wäre das eine Kriegserklärung.” Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Zahlreiche amerikanische Politiker und Strategen sprachen sich in den 1990er Jahren gegen die Entscheidung von Präsident Clinton aus, die NATO zu erweitern, als diese Entscheidung noch zur Debatte stand. Diesen Gegnern war von Anfang an klar, dass die russische Führung darin eine Bedrohung ihrer lebenswichtigen Interessen sehen würde und dass diese Politik letztlich in eine Katastrophe münden würde. Die Liste der Gegner umfasst prominente Persönlichkeiten des Establishments wie George Kennan, sowohl Präsident Clintons Verteidigungsminister William Perry als auch seinen Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs, General John Shalikashvili, Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen.

Nachvollziehbare Position Putins

Die Logik von Putins Position sollte für Amerikaner, die seit langem der Monroe-Doktrin verpflichtet sind, eigentlich vollkommen verständlich sein. Letztere besagt, dass keine entfernte Großmacht ein Bündnis mit einem Land in der westlichen Hemisphäre eingehen und ihre militärischen Streitkräfte dort stationieren darf. Die Vereinigten Staaten würden einen solchen Schritt als existenzielle Bedrohung auffassen und alles tun, um diese Gefahr zu beseitigen. Dies geschah natürlich auch während der Kubakrise 1962, als Präsident Kennedy den Sowjets klarmachte, dass ihre Atomraketen aus Kuba abgezogen werden müssten. Putin ist zutiefst von derselben Logik beeinflusst. Schließlich wollen Großmächte nicht, dass sich entfernte Großmächte in ihrem Hinterhof ansiedeln.

Drittens: Die zentrale Bedeutung der tiefen Angst Russlands vor einem NATO-Beitritt der Ukraine wird durch zwei Entwicklungen seit Kriegsbeginn verdeutlicht. Während der Istanbuler Verhandlungen, die unmittelbar nach Beginn der Invasion stattfanden, machten die Russen deutlich, dass die Ukraine eine „dauerhafte Neutralität“ akzeptieren müsse und der NATO nicht beitreten könne. Die Ukrainer akzeptierten die Forderung Russlands ohne ernsthaften Widerstand – sicherlich, weil sie wussten, dass es sonst unmöglich wäre, den Krieg zu beenden. In jüngerer Zeit, am 14. Juni 2024, stellte Putin zwei Forderungen, die die Ukraine erfüllen müsse, bevor er einem Waffenstillstand und der Aufnahme von Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zustimmen würde. Eine dieser Forderungen war, dass Kiew “offiziell” erklären müsse, “dass es seine Pläne, der NATO beizutreten, aufgibt”. Das alles ist nicht überraschend – denn Russland hat die Ukraine in der NATO immer als existenzielle Bedrohung gesehen, die um jeden Preis verhindert werden muss. Diese Logik ist die treibende Kraft hinter dem Ukraine-Krieg. Sowohl aus der Verhandlungsposition Russlands in Istanbul sowie aus Putins Äußerungen zur Beendigung des Krieges in seiner Ansprache vom 14. Juni 2024 wird letztlich klar ersichtlich, dass er nicht daran interessiert ist, die gesamte Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil eines größeren Russlands zu machen.


Der Artikel gibt ausdrücklich NICHT die Meinung des Heck Tickers wieder.


Mittwoch, 8. März 2023

In Rostock brach die Sabotage-Jacht zu ihrer Nord-Stream-Mission auf

von Thomas Heck...

Überraschende Wendung in Sachen Nord-Stream-Angriff. Anders als im Hersh-Bericht verbreitet waren es nicht die USA, sondern jetzt sollen es die Ukrainer gewesen sein, die eine Jacht in Deutschland charterten, mit Sprengstoff beluden 150 km auf die Ostsee fuhren, um an der richtigen Stelle in geschätzt 90 m Wassertiefe (Sporttaucher tauchen so bis 40 Meter Wassertiefe) an 3 Stellen Sprengsätze anzubringen und per Zeitzünder zur Explosion brachten.

Es hätte eine brilliante Geheimdienstaktion sein können, wenn diese James Bonds nicht zwei Reisepässe zurückgelassen hätten. Aber Fehler können schon mal passieren. 

Will man uns hier für dumm verkaufen? Was hätte die Ukraine davon gehabt, seine engsten Verbündeten zu verprellen, auf deren Hilfe sie dringend angewiesen ist? Würde man uns diesen Plot in Form eines James Bond-Films verkaufen wollen, kämen wir aus dem Kino und würden uns an den Kopf fassen. Für mich riecht das eher nach einer False Flag-Operation russischer Einheiten mit dem Ziel, die Ukraine zu diskreditieren und Unruhe in die NATO zu bringen. Denn hierzulande wird oft vergessen, dass hier nicht ein Krieg gegen die Ukraine läuft, sondern parallel auf ein Informationskrieg auf allen Ebenen. Das Wiederauferstehen einer Friedensbewegung ist kein Zufall. Wir werden es zu Ostern wieder erleben.

Und die Desinformationskampagne gegen die Ukraine ist den Russen auch gut gelungen. Der Tenor auf Twitter war in den letzten Monaten, dass es die USA waren, jetzt wird der Putin-liebende Pöbel die gleiche Mär von der Ukraine als Angreifer verbreiten. Denn eines sollte man sich immer klarmachen: Wir als Bürger werden nie umfassend informiert werden, was da wirklich vorgefallen ist. Jeder wird das glauben, was er glauben will und wird sich auch nicht durch Argumente überzeugen lassen. Und die USA-Hasser werden weiterhin die hanebüchene Geschichte des Hersh-Berichts glauben und weiter verbreiten. Sollen sie... vielleicht können wir es noch den FFF-Terroristen um Luisa Neubauer in die Schuhe schieben.

Auszuschließen ist ja nicht mal eine Option, nach der Deutschland selbst den Anschlag in Auftrag gegeben hat, um das lästige Thema Nordstream endlich vom Hals zu sein. Eines kann man sich jedoch sicher sein. Manuela Schwesig war es mit 100%iger Sicherheit nicht. Die hat sogar ihre politische Zukunft für das Ziel aufs Spiel gesetzt, dass die Pipeline unter Umgehung US-amerikanischer Sanktionen ans Netz ging, und hat das deutsche Gesetz gebrochen und gebeugt, dass sich die Balgen biegen.


Bei der Untersuchung der Sprengung der Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee im September ist deutschen Ermittlungsbehörden laut Medienberichten offenbar ein Durchbruch gelungen.

Bei dem Sabotageakt führten Spuren in die Ukraine, berichteten „Die Zeit“ und die ARD am Dienstag unter Berufung auf Ermittlungsergebnisse. Die Tätergruppe habe ein Boot genutzt, das von einer Firma im Besitz zweier Ukrainer angemietet worden sei. Die „New York Times“ berichtete über Erkenntnisse über eine „pro-ukrainische Gruppe“.

Mit einer Jacht fahren die Nord-Stream-Saboteure zur Pipeline

Die „Zeit“ berichtete auf ihrer Website, gemeinsame Recherchen mit dem ARD-Hauptstadtstudio, dem ARD-Politikmagazin „Kontraste“ und dem SWR hätten ergeben, dass deutsche Ermittlungsbehörden weitgehend rekonstruiert hätten, wie und wann der Sprengstoffanschlag auf die Pipelines Nord Stream 1 und 2 vorbereitet wurde. Demnach identifizierten sie das Boot, das mutmaßlich für die Geheimoperation in der Nacht zum 26. September 2022 genutzt wurde.

Dem Bericht zufolge soll es sich um eine Jacht handeln, die von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sei. Die Firma gehöre offenbar zwei Ukrainern. An der Sprengung seien den Ermittlungen zufolge fünf Männer und eine Frau beteiligt gewesen. Die Gruppe habe sich zusammengesetzt aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin.

Auf der Jacht finden die Ermittler Sprengstoffspuren

Das Team verfügte laut „Zeit“ und ARD über professionell gefälschte Reisepässe, die unter anderem für die Anmietung des Bootes genutzt worden sein sollen. Das Kommando sei am 6. September 2022 von Rostock aus in See gestochen. Die Ausrüstung für die Geheimoperation sei vorher mit einem Lieferwagen in den Hafen gebracht worden.

Im weiteren Verlauf gelang es den Ermittlern den Medienrecherchen zufolge, das Boot am folgenden Tag in Wieck am Darß und später an der dänischen Insel Christiansö zu orten. Nachdem die Jacht in ungereinigtem Zustand zurückgegeben worden sei, hätten Ermittler auf dem Tisch in der Kabine Spuren von Sprengstoff nachgewiesen. Die Ermittler fanden den Recherchen zufolge allerdings keine Beweise dafür, wer die Nord-Stream-Zerstörung in Auftrag gegeben hat.

Ermittler schließen auch eine False-Flag-Aktion nicht aus

In der ARD hieß es, in internationalen Sicherheitskreisen werde nicht ausgeschlossen, dass bewusst Spuren gelegt worden sein könnten, um die Ukraine als Urheber hinzustellen. Hinweise auf eine solche sogenannte False-Flag-Aktion lägen den Ermittlern aber offenbar nicht vor.

Die „New York Times“ ("NYT") berichtete am Dienstag, dass nach Erkenntnissen der US-Regierung eine pro-ukrainische Gruppe hinter dem Sprengstoffanschlag stecke. Verantwortlich seien vermutlich ukrainische oder russische Staatsbürger, sagten demnach mehrere anonyme US-Regierungsvertreter unter Berufung auf neue Geheimdienstinformationen. Hinweise auf eine Verwicklung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj oder seines engen Umfelds gebe es nicht.

CIA gibt keine Antwort auf „NYT“-Anfrage

Eine Sprecherin der Bundesregierung erklärte auf Anfrage, die Bundesregierung habe den „NYT“-Bericht zur Kenntnis genommen. Deutschland, Schweden und Dänemark hätten den UN-Sicherheitsrat vor wenigen Tagen darüber informiert, dass ihre „Untersuchungen laufen und es noch kein Ergebnis gebe“.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte US-Präsident Joe Biden am Freitag in Washington getroffen. Ob es dabei auch um die Ermittlungen zu den Nord-Stream-Sprengungen ging, ist nicht bekannt.

Der US-Auslandsgeheimdienst CIA wollte den „NYT“-Bericht nicht kommentieren. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, sagte auf Nachfrage, die Ermittlungen von Deutschland, Schweden und Dänemark seien noch nicht abgeschlossen, und er wolle den Ergebnissen nicht vorgreifen.

Stoltenberg will nicht spekulieren

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg pflichtete bei einem Besuch in Stockholm bei, es sei „nicht richtig zu spekulieren, bis die laufenden Ermittlungen abgeschlossen wurden“.

Die Explosionen hatten im September in den Wirtschaftszonen Schwedens und Dänemarks in der Ostsee mehrere Lecks in die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 gerissen, die für den Transport von russischem Gas nach Deutschland gebaut worden waren. Die Pipelines waren zum Zeitpunkt der Explosionen nicht in Betrieb, enthielten aber Gas. Nach Angaben Schwedens wurden Sprengstoffreste nachgewiesen.

Russland weist Vorwürfe entschieden zurück

Als Drahtzieher der mutmaßlichen Sabotage wurde unter anderem Russland selbst verdächtigt. Die russische Regierung wies dies entschieden zurück und zeigte mit dem Finger auf Washington.

"Es ist einfach ein Mittel, um den Verdacht von denjenigen in offiziellen Regierungspositionen, die die Angriffe in der Ostsee angeordnet und koordiniert haben, auf irgendwelche abstrakten Personen zu lenken", erklärt die russische Botschaft in den USA auf der Nachrichtenplattform Telegram. „Wir können und wollen nicht an die Unparteilichkeit der Schlussfolgerungen der US-Geheimdienste glauben.“ Die US-Regierung hatte den Bau von Nord Stream 2 als geopolitisches Druckmittel des Kremls verurteilt.

Anfang Februar sorgte dann der bekannte US-Investigativreporter Seymour Hersh mit einem Bericht für Aufsehen, demzufolge US-Marinetaucher bereits im Juni Sprengsätze an den Gaspipelines angebracht haben sollen. Diese seien im September ferngezündet worden.

Die US-Regierung hat dies entschieden zurückgewiesen. Unabhängige Faktenprüfer haben auf Ungereimtheiten in dem Hersh-Bericht hingewiesen.




 

Samstag, 25. Februar 2023

Der russische Kampf gegen die ukrainische Luftverteidigung

von Thomas Heck...

Ich höre immer schon das Internet aufheulen, wenn der ukrainische Präsident Selenskij neue Forderungen an seiner "Unterstützer" im Westen richtet, doch der Krieg wird ohne Unterstützung aus dem Westen nicht gewinnbar sein. Fortlaufende Unterstützung, wohlgemerkt. Ein Schlüssel in diesem Krieg, wie eigentlich in jedem Krieg der Neuzeit, ist das Gewinnen der Lufthoheit. Diese erlangt man, in dem man durch hochwirksame Flugabwehr das eigene Territorium, die eigene Infrastruktur lückenlose überwachen und sichern kann. In einem zweiten Schritt käme es denn zu der Erlangung der Luftüberlegenheit im umkämpften Gebiet, idealerweise auch im Territorium des Angreifers.

Die aktuelle Diskussion um die Lieferung von Kampfflugzeugen ist daher eher nur temporärer Natur, denn diese wird kommen. Je früher desto besser. Russland hat gegen die wirtschaftliche Macht des Westens auf Dauer keine Chance. Besser, man macht es Putin daher frühzeitig klar, damit dieser Krieg schneller enden kann.


Der Krieg in der Ukraine weist eine Besonderheit auf: Der Einsatz der Luftstreitkräfte findet auf beiden Seiten praktisch nur in absoluter Frontnähe statt. Die Gründe dafür liegen in den Luftverteidigungsfähigkeiten beider Parteien. Diese stellen für die jeweiligen Luftstreitkräfte eine derart große Bedrohung dar, dass Angriffe in die Tiefe des gegnerischen Raumes – abgesehen von den ersten Kriegstagen – fast ausschließlich mit Abstandswaffen, die vom eigenen Territorium aus verschossen werden, erfolgen. Grund dafür sind die Luftverteidigungsfähigkeiten der jeweils gegnerischen Seite in Kombination mit schwach ausgeprägten Freund-Feind-Erkennungsfähigkeiten, die zu mehreren Abschüssen eigener Maschinen geführt haben. Dies haben die für die Luftkriegsführung zuständigen Experten des Royal United Services Institute (RUSI) bereits Anfang November im Rahmen der „The Russian Air War and Ukrainian Requirements for Air Defence“ benannten Studie analysiert.

Die Ukraine verfügt kaum über eigene Flieger, um großangelegte Luftoperationen zu starten. Russland hingegen hätte sowohl genügend Kampfbomber als auch strategische Bomber, will diese aber wohl nicht für riskante Operationen aufs Spiel setzen, da diese im Vergleich zu Landsystemen erheblich schwerer nachzubeschaffen wären und man auch über keine Reservebeständen an eingemotteten Flugzeugen verfügt. So schien es seit Monaten, dass der Krieg fast ausschließlich auf dem Boden stattgefunden hätte. In den vergangenen Monaten sind jedoch weitere Aspekte zu beobachten, die bessere Rückschlüsse auf die russische Strategie um die Luftherrschaft in der Ukraine erlauben.

Es vergeht kaum eine Woche, in der kein Luftalarm über den ukrainischen Großstädten ausgelöst wird. Und auch wenn die ukrainische Luftverteidigung – mit Hilfe der bereits zahlreich gelieferten Flugabwehrmittel – die Masse der aus Russland anfliegenden Marschflugkörper und Drohnen abfängt, gelingt es denn Russen immer wieder, empfindliche Treffer zu landen. Ziel der Angriffe sind zumeist Objekte der ukrainischen Energieinfrastruktur. Dies hat vermutlich mehrere Ursachen.

Eine mögliche Strategie hinter den Raketenangriffen

Verfolgt man insbesondere die deutsche Berichterstattung, wird von den Medien, Politikern und Experten fast ausschließlich die Terrorisierung der ukrainischen Bevölkerung als Grund für diese Angriffe aufgeführt. Diese Betrachtungsweise greift vermutlich zu kurz. So hat die Geschichte, beginnend mit den deutschen Luftangriffen auf London, bereits mehrmals gezeigt, dass diese „Strategie des Terrors“ die Wirkung verfehlt und eher das Gegenteil bewirkt: Die Bevölkerung kommt noch näher zusammen und unterstützt die Verteidigungsbemühungen noch entschlossener. In einer nüchternen Betrachtung der Geschehnisse muss man davon ausgehen, dass die Verbreitung von Terror nicht das primäre Ziel solcher Angriffe ist. Auch wenn die russischen Streitkräfte in dem letzten Jahr viele Fehler begangen haben, muss am Ende des Tages doch immer davon ausgegangen werden, dass da nicht nur Amateure am Werk sind. Auch russische Offiziere haben in diesem Krieg für die knappen Präzisionswaffen sicherlich eine bessere Verwendung als die Terrorisierung der ukrainischen Bevölkerung mehrerer hundert Kilometer hinter der Front, während gleichzeitig mehrere tausend Soldaten im Monat fallen, weil nicht genügend Feuerkraft für die Überwindung ukrainischer Verteidigungsstellungen zur Verfügung steht.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf ist es ratsam, die Strategie hinter den Angriffen zu suchen. Und da sind beispielsweise US-Beobachter des Kriegsgeschehens deutlich nüchterner und damit weiter in ihrer Analyse als viele deutsche Beobachter bzw. Kommentatoren des Krieges, die sich darin erschöpfen, Angriffe auf die zivile Infrastruktur moralisch zu verdammen. Michael Kofman, Direktor des Russia Studies Program am CNA, verweist in einer Anfang Januar erschienenen Podcast-Folge von „War on the Rocks“, beispielsweise darauf, dass die Energieinfrastruktur aus russischer Perspektive ein legitimes militärisches Ziel ist, schließlich ist diese wichtig für die ukrainischen Verteidigungsbemühungen. Weiterhin geht der Kofman davon aus, dass Russland die Raketenangriffe dazu nutzt, um die ukrainische Flugabwehr abzunutzen. So nimmt Russland die Abschüsse der eigenen Angriffswaffen billigend in Kauf, mit dem Ziel den ukrainischen Vorrat an Flugabwehrraketen zu erschöpfen und so die Voraussetzung für den Einsatz russischer Kampfflugzeuge über ukrainischem Territorium zu schaffen. Würde dies gelingen, wäre Russland aufgrund seiner zahlenmäßig und qualitativ überlegenen Luftwaffe einseitig in der Lage, die Bodentruppen im Kampf zu unterstützen, was einen klaren Vorteil darstellen würde.

Legt man diese Absicht als die treibende Kraft der russischen Raketenangriffsstrategie aus, versteht man auch recht schnell, wieso insbesondere die Energieinfrastruktur als Ziel der Angriffe ausgewählt wurde.

Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass der russische Targeting-Zyklus zu langsam ist. Gemeint ist die Zeit zwischen Formulierung eines Zielaufklärungsbedarfs höherer Stellen, bis zum Erzielen einer Wirkung im Ziel, inklusive Aufklärungsdauer sowie Auswertung und Entschlussfassung. Zudem liegt die Präzision vieler russischer Wirkmittel eher im zwei- als im einstelligen Meterbereich.

Gleichzeitig sind die Ukrainer sehr geschickt darin, militärische Hochwertziele, wozu beispielsweise logistische Einrichtungen oder Führungsstrukturen zählen, vor Aufklärung zu schützen oder stetig zu verlegen.

Eine Beispielrechnung soll hier der Verdeutlichung dienen. Angenommen Russland braucht 24 Stunden, um ein Ziel in der Tiefe des ukrainischen Raumes aufzuklären und zu bekämpfen. Gleichzeitig nehmen wir für dieses Beispiel an, dass ein ukrainisches Hochwertziel im Wirkungsbereich russischer Aufklärung und Wirkmittel nicht länger als zwölf Stunden an einer Stelle bleibt. Dann ist es für Russland schlicht unmöglich diese Ziele mittels der strategischen Raketenangriffe zu bekämpfen.

Nun wird also deutlich welche Zielkategorie überhaupt erfolgversprechend angegriffen werden kann, statische Ziele mit einer Zielgröße von vorzugsweise mindestens mehr als zehn Quadratmetern Zielfläche. Daneben müssen die Ziele wichtig genug sein, dass die Ukraine kostbare Flugabwehrraketen für die Verteidigung dieser Ziele einsetzt, selbst wenn diese nur mit günstigen und vergleichsweise primitiven Drohnen angegriffen werden, damit die russische Strategie aufgeht. Alles das trifft auf die Energieinfrastruktur zu.

Glaubt man jüngsten russischen Ankündigungen, scheint das Ziel bald erreicht. Denn Russland hat letzte Woche angekündigt, die eigene Luftwaffe stärker in die Kämpfe einbinden zu wollen.
Fazit

„War is a test of will and it’s a test of logistics“, führt Generalleutnant a.D. Ben Hodges, ehemaliger Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa bei seinen Vorträgen und Interviews zum Ukrainekrieg immer wieder an. Dies bedeutet so viel, dass Krieg ein Test der Logistik und Willenskraft ist. Schafft es eine Seite, logistische Überlegenheit zu erlangen, kann sie diese in Erfolge im Kampf umwandeln.

Gelänge es Russland also, die ukrainische Luftverteidigung dauerhaft zu überlasten, wäre der Weg frei für den Einsatz russischer Frontbomber. Damit hätte Russland dann gleichzeitig ein anderes Problem aus der Welt geschafft, nämlich dass der geringen Verfügbarkeit von weitreichenden Präzisionswirkmitteln. Die Kampfbomber könnten dann klassische Bomben zum Einsatz bringen, von denen Russland noch erhebliche Vorräte hat.

Wenn der Westen also nicht möchte, dass Russland die Luftherrschaft über der Ukraine erringt, ist es zwingend erforderlich, weitere Luftverteidigungssysteme und vor allem Nachschub an dafür benötigter Munition an die Ukraine zu liefern. Hierfür werden unter Umständen auch eigene Lagerbestände angezapft werden müssen. Da Russland zudem gezeigt hat, dass es trotz westlicher Sanktionen immer noch in der Lage ist, stetig eine gewisse Anzahl an weitreichenden Angriffswaffen zu produzieren, muss auch die heimische Produktionskapazität von Abwehrraketen so ausgebaut werden, dass man den Munitionsnachschub an die Ukraine dauerhaft über den Verbrauch halten kann. Zudem müssen Alternativen gefunden werden, die den Abschuss billiger Angriffswaffen ermöglichen, ohne dass dafür Flugkörper zum Einsatz kommen müssen, die teilweise das Zehn- oder Hundertfache kosten. Sonst werden auch die Unterstützerstaaten der Ukraine große Herausforderungen haben, den Test der Logistik zu bestehen.




Freitag, 24. Februar 2023

Lehren aus dem Ukrainekrieg: Gepanzerte Kampffahrzeuge

von Thomas Heck...

Wer hätte noch vor einen Jahr gedacht, dass die Ukraine so durchhaltefähig sein würde, einem dermaßen starken Gegner Russland gewachsen zu sein? Ich selbst war der Meinung, dass Russland seine militärischen Ziele schnell erreichen würde. Und Kanzler Scholz hoffte und dachte ebenfalls, dass der Konflikt schnell vorbei wäre, denn der Ukraine-Krieg kam für die Ampel-Koalition zur Unzeit. Fragt sich nur, ob Deutschland seine Lehren daraus ziehen wird und die Bundeswehr wieder zu dem machen wird, was sie in Zeiten des Kalten Krieges war: Eine schlagkräftige Armee.


Seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat, gibt es etliche Versuche, Lehren aus diesem Konflikt zu ziehen. Hunderte Videos auf Social-Media-Plattformen geben einen Einblick in das Kriegsgeschehen und machen den Krieg greifbar, was sonst nur schwer möglich ist, wenn man nicht selbst an den Kämpfen teilnimmt.

Dies hat viele Leute zu Analysen angeregt, die sie aus diesem Konflikt ableiten und auf den Krieg als Solches anwenden wollen. Allerdings ist in zweierlei Hinsicht Vorsicht geboten. Erstens gibt es nach vorsichtigen Schätzungen mehr als 200.000 Kriegsteilnehmer, und obwohl eine Menge Videos zur Verfügung steht, zeigt dieses Filmmaterial nicht die gesamte Bandbreite der Ereignisse an der langen Frontlinie. Diese Videos geben nur eine begrenzte Menge an Informationen, denen obendrein der Kontext fehlt und die daher nur einen kleinen Ausschnitt des Kriegsgeschehens zeigen. So können beispielsweise Videos, die zeigen, wie Panzer von Panzerabwehrlenkflugkörper (ATGM) getroffen werden, nicht als Beweis dafür dienen, dass der Panzer auch tatsächlich endgültig zerstört ist.Der zweite Grund liegt in der Besonderheit dieses Krieges. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ihre Streitkräfte modernisiert, aber keiner der beiden Staaten hatte die artilleriezentrierten Doktrinen aus Sowjetzeiten hinter sich gelassen. Russland hat einige spätsowjetische Doktrin verwirklicht, wie das Prinzip, die kritische Infrastruktur des Gegners ins Visier nehmen zu können und gleichzeitig seine Flotte gepanzerter Kampffahrzeuge (AFV) zu modernisieren, aber im Großen und Ganzen blieb die russische Armee eine Artilleriearmee mit vielen Panzern. Analysten des Royal United Services Institute (RUSI), einer Londoner Denkfabrik, die die Ukraine vor und während des Krieges besucht hatten, stellen fest, dass es einige ukrainische Einheiten mit Kommandostrukturen gab, die Gemeinsamkeiten mit denen NATO haben, dass aber die meisten Einheiten nach wie vor ihren sowjetischen Vorgängern sehr ähneln.Hinzu kommt, dass beide Seiten bei Kriegsbeginn über die gleiche Anzahl an Artilleriesystemen verfügten. Nur die Verfügbarkeit von Munition machte den Unterschied. Deshalb ähneln sich die Streitkräfte Russlands und der Ukraine, aber haben mit den meisten Militärs der Welt nur wenig gemeinsam. Daher bieten viele Aspekte des Ukrainekriegs nur wenig Anschauungsmaterial für diejenigen, die Doktrinen und Lehren entwickeln wollen, da sie auf ungewöhnlichen Situationen beruhen und in anderen Kriegen kaum reproduzierbar wären.

Nehmen wir zum Beispiel die enormen Mengen an Artilleriemunition, die Russland verschießt – zeitweise waren es 20.000 Schuss pro Tag. Das zeigt die Notwendigkeit einer großen Lagerhaltung an Artilleriemunition und großer mechanisierter Verbände, die in der Lage sind, eine solche Feuerkraft zu gewährleisten und den damit verbundenen Verschleiß durchzuhalten. Es gibt auf der Welt nur wenige Streitkräfte, die diese Art von Wirkung auf dem Schlachtfeld erzielen können, und noch weniger, die dazu bereit sind. Es ist eine sehr kostspielige Taktik, die enorme Reserven an Munition und Personal erfordert. Für die russischen Streitkräfte funktioniert diese Taktik, weil sie für diese Art der Kriegsführung ausgebildet wurden. Gleichzeitig kompensiert diese Taktik auch den Mangel an taktischem Geschick. Wenn man also die Möglichkeit eines Krieges mit Russland in Betracht zieht, dann ist dies ein wichtiger Aspekt, den man berücksichtigen muss, aber ob sich das auf andere Konflikte anwenden lässt, ist fraglich.

Kann man dennoch aus dem Ukraine-Krieg Lehren für den Einsatz von Schützenpanzern ziehen, die auch für ein breiteres Publikum von Nutzen sind als auch für diejenigen, die sich auf eine Konfrontation mit dem russischen Militär vorbereiten müssen? Einige Aspekte gibt es sicher, aber es ist schwer zu beurteilen, ob diese Lehren wirklich neu sind nur oder Variationen vergangener Konflikte.

Es ist sinnvoll, die Erkenntnisse aus dem Ukrainekrieg in ein breiteres Verständnis der Kriegsführung des 20. und 21. Jahrhunderts einzubetten. Dieser Artikel versucht, eine kontextbezogene Analyse zu liefern, um zu beurteilen, ob die Lehren aus dem Ukrainekrieg grundlegend neu sind. Zuallererst ist es angebracht, ein uraltes Thema durch die Brille des Ukrainekrieges zu betrachten und zu fragen: Hat der Panzer seine beste Zeit hinter sich?

Panzer

Der Panzer ist noch lange nicht am Ende. Diejenigen, die an das Ende des Panzerzeitalters glauben, halten die Zerstörung eines Panzers für den Beweis seiner Sinnlosigkeit. Ein altes Sprichwort besagt: „Ein Panzer ist wie ein Smoking, den man nur selten braucht, aber wenn man ihn braucht, hilft nichts anderes mehr.“

Panzer werden im Ukrainekrieg von beiden Seiten ausgiebig eingesetzt. Auf dem Gefechtsfeld kam eine beeindruckende Mischung aus T-62, T-64, T-72, T-80 und T-90 in verschiedenen Modernisierungsstadien zum Einsatz, einige von ihnen zum ersten Mal. Sie wurden auf verschiedene Weise eingesetzt, woraus man Lehren ziehen kann.

Panzer-gegen-Panzer-Duelle sind relativ häufig, aber wenn beide Seiten Verteidigungspositionen einnehmen, tritt auf dem weitläufigen Gefechtsfeld nur ein einziger Panzer gegen einen anderen an. Dann kommt es zu Gefechten auf sehr kurze Distanz. Es ist interessant, dass die an den Panzern angebrachten explosiv-reaktiven Panzerungen (ERA) häufig zwei Schüsse für ein erfolgreichen Treffer erforderlich machen – der erste Schuss mit einer hochexplosiven Granate, um die Reaktivpanzerung auszuhebeln, und der zweite Schuss mit einer Granate mit kinetischer Energie, um die Panzerung zu durchdringen und die Besatzung zu töten. Daraus lässt sich eine vermeintlich einfache Schlussfolgerung ziehen: Panzer benötigen zwei Schüsse, um einen gegnerischen Panzer auszuschalten.

Doch einige Faktoren dieser Gleichung sind unbekannt. Der erste Faktor ist die Art der Munition, die von den ukrainischen und russischen Panzerbesatzungen verwendet wird.

Frühere sowjetische panzerbrechende Munitionstypen mit flügelstabilisiertem Geschoss (APFSDS) (wie die allgegenwärtige 3VBM-9 „Zakolka“) verwenden ein Stahlprojektil, das hinter einer panzerbrechenden Kappe ein Wolframgeschoss trägt. Monoblockgeschosse mit abgereichertem Uran wie das 3VBM-13 „Vant“ wurden in der Sowjetunion erst spät eingeführt, Vollwolframkarbidgeschosse wie das 3VBM-17 „Mango“ erst 1986. Sie waren oft für Einheiten mit hoher Priorität vorgesehen, die Panzer wie den T-80 einsetzten. Die älteren Geschosse haben eine Mündungsenergie von etwa 6 MJ, während die neueren Geschosse wie Mango eine ähnliche kinetische Energie erreichen, aber aufgrund der größeren Härte und Dichte im Vergleich zu Stahlgeschossen (7,8 g/cm³ gegenüber 17 g/cm³ bei Wolfram) können sie die komplexen Panzerungen leichter durchschlagen. Vergleicht man sie jedoch mit moderner westlicher Munition, so ergibt sich eine interessante Diskrepanz. Dem verstorbenen Professor Ogorkiewicz zufolge haben die 120-mm-Glattrohrkanonen L44 und L55, mit denen die meisten NATO-Panzer ausgerüstet sind, eine Mündungsenergie von 9,8 MJ bzw. 12,5 MJ. Dies ist zwar nicht der einzige ausschlaggebende Faktor für die Letalität der APFSDS, lässt aber darauf schließen, dass westliche Panzer im Panzerduell wesentlich tödlicher sind als ihre russischen Gegenstücke.

ERA zerstört in erster Linie Geschosse mit kinetischer Energie durch Impulsübertragung und erfordert dickere und schwerere vordere Stirnplatten als bei hochexplosiven Panzerabwehrgeschossen (HEAT), da die Geschosse, denen sie entgegenwirken, schwerer und größer sind, so Paul Hazell, Professor für Aufschlagdynamik an der School of Engineering and Information Technology (SEIT) der UNSW Canberra. Das Gewicht und die Härte der Stirnplatte ändern die Flugbahn des APFSDS-Penetrators und können den Penetrator sogar in kleinere Stücke zerplatzen lassen. Die Panzerung hinter der ERA muss jedoch beträchtlich sein, um den Aufprall der Fragmente zu absorbieren. Da die meisten NATO-Panzerkanonen Munition verschießen, die in der Regel länger ist und aufgrund ihres typischerweise höheren Projektilgewichts (und im Falle der L55-Geschütze auch mit höheren Projektilgeschwindigkeiten) eine viel höhere Mündungsenergie erzeugen können, ist es nur logisch, dass der in der Ukraine beobachtete Trend zu zwei Schüssen keine Lehre ist, die sich auf alle Panzerkanonen anwenden lässt. Tests mit NATO-Munition aus den 1980er Jahren haben gezeigt, dass diese meist gegen Kontakt-5 ERA unwirksam war. Es lohnt sich also, zwischen älterer Munition und neuer Munition, die auf dem besseren Verständnis der post-sowjetischen Panzerung beruhen, zu unterscheiden.

Panzer werden auch zur direkten und indirekten Feuerunterstützung gegen Infanterieverbände eingesetzt. Ukrainische Panzer sind für diesen Zweck sogar mit einem Visier ausgestattet, und russische Panzerbesatzungen haben diese Kunst mit Orlan-10-Panzern geübt. Es ist also keine neue Fähigkeit, aber ihre Anwendung in der Ukraine ist interessant – und sei es nur wegen der Gefahr, die sie für Infanteristen darstellt. In einem Bericht der New York Times über die Kämpfe in der Nähe von Izyum heißt es Folgendes:

„Vor allem Panzer sind zu einer ernsthaften Bedrohung geworden, so die Kämpfer, weil sich die Panzer den Stellungen des Bataillons oft bis auf eine Meile nähern und schweren Schaden anrichten. In diesem Monat sind bereits 13 Soldaten des Bataillons getötet und mehr als 60 verwundet worden.“

Aus einem RUSI-Bericht über erste Erkenntnisse aus dem Krieg geht hervor, dass die Ukraine ihre Panzer als mobile Reserve einsetzen konnte. Ihr indirektes Feuer ermöglichte es ihnen, gleichzeitig als Artillerie und Panzer zu agieren und die russischen Streitkräfte in günstigen Momenten anzugreifen. Sie waren Berichten zufolge bis zu einer Entfernung von zehn km genau und benötigten nur wenig Zeit für die Anpassung ihres Feuers.

Ein Mangel an eigenen Panzern und die begrenzte Reichweite von Panzerabwehrwaffen bedeuten, dass Panzer unter den richtigen Umständen sehr tödlich sein können. Syrische Panzer haben an einem einzigen Nachmittag Hunderte Opfer verursacht, weil es keine Panzerabwehrwaffen gab. Das Fehlen von Panzern hat sich auch in anderen Konflikten bemerkbar gemacht. Die Koalitionstruppen in Afghanistan wurden oft durch die Feuerkraft der Taliban in die Enge getrieben, so dass sie auf Kampfhubschrauber und Luftunterstützung angewiesen waren, um sich aus dem Feuergefecht zu befreien. Ein einziger Panzer in dieser Situation – wie auch andere AFVs mit mittelkalibrigen Kanonen – würde dieses Ungleichgewicht in der Feuerkraft aufheben. In „Panzer Ace“, den veröffentlichten Memoiren von Richard von Rosen, einem deutschen Panzerkommandanten im Zweiten Weltkrieg, berichtet Rosen von Gelegenheiten, bei denen sowjetische Panzerabwehrkanonen schnell zum Schweigen gebracht wurden und die Infanterie den gepanzerten Verbänden ausgeliefert war, was zu schweren feindlichen Verlusten führte.

Panzer sind auch entscheidend bei Offensivoperationen, und es ist völlig klar, dass sie ohne Unterstützung durch Infanterie und Schützenpanzer (IFV) isoliert und zerstört werden. Als Element einer Offensivoperation gegen Infanterieverbände sind sie jedoch aufgrund des Schutzes, den sie bieten, absolut entscheidend, weil Infanteristen spezielle Mittel benötigen, um sie außer Gefecht zu setzen. Dies macht sie zu einem zentralen Element effektiver Offensivoperationen, da sie nur mit Mühe auszuschalten sind und häufig mehr als einen Treffer erfordern. Ungeachtet der vielen Videos von zerstörten Panzern sind sie schwer zu stoppen und können für Infanteristen ohne geeignete Abwehrwaffen katastrophale Folgen haben.

Daraus folgt, dass die Vorherrschaft der Panzer ein relativ konstanter Aspekt der Kriegsführung ist. Wenn ein Infanterieverband von unterstützenden Wirkmitteln abgeschnitten und von Panzern angegriffen wird, kann er schwere Verluste erleiden. Der Einsatz von Panzern zur indirekten Feuerunterstützung gegen Stellungen in der Ukraine mag also etwas Neues sein, die Überlegenheit von Panzern in Abwesenheit von Panzerabwehrwaffen ist es nicht. Was ist also von ATGM und ihrem Einsatz in der Ukraine zu halten?

Panzerabwehrlenkflugkörper – ATGM

ATGM haben sich auch innerhalb der russischen Streitkräfte rasch verbreitet. Sie haben sich von einem extrem teuren Gerät für Kommandeure der Sowjetarmee zu einer Waffe entwickelt, das in fast jeder Einheit zu finden ist. Die Ukrainer begannen den Krieg mit einem reichlichen Arsenal an im Inland entwickelten ATGM wie der Stugna-P des Luch Design Büros. Westliche Waffen wie die FGM-148 Javelin und NLAW lenkten den Blick von ukrainischen Fähigkeiten ab, erwiesen sich aber trotz minimaler Ausbildung als wertvoll. Es ist bekannt, dass ATGM für gepanzerte Fahrzeuge auf dem modernen Gefechtsfeld tödlich sind. Die hochexplosiven Panzerabwehrsprengköpfe (HEAT), mit denen die meisten ATGM bestückt sind, lassen sich nur schwer abwehren. Die Spitze eines HEAT-Strahls kann Geschwindigkeiten von 10 km/s erreichen, obwohl sie nur einen Durchmesser von zwei bis drei Millimeter hat, und je nach Gesamtdurchmesser des Gefechtskopfes können viele moderne HEAT-Gefechtsköpfe mehr als 1.000 mm festen Stahl durchschlagen. Trotz dieser Fähigkeiten führen selbst erfolgreiche Treffer nicht immer zur Zerstörung des Fahrzeugs. Israelische Streitkräfte, die mit Merkava-Panzern operieren, wurden 2006 in den Libanon entsandt und waren dort mehreren erfolgreichen ATGM-Treffern ausgesetzt, wobei mehr als 50 Panzer getroffen wurden. Von den 50 Treffern wurden 21 Panzer durchschlagen, wobei zehn Fahrzeuge Verluste erlitten. Moderne Panzer können also ATGM-Angriffen standhalten, ohne dass die Besatzung oder das Fahrzeug außer Gefecht gesetzt werden. Dies ist vor allem der Verbesserung der Überlebensfähigkeit zu verdanken, wie z. B. dem Austausch von auf brennbarer Hydraulikflüssigkeit basierenden Turmsteuerungssystemen gegen Elektromotoren, einer sichereren Munitionslagerung und anderen Modifikationen.

Was können wir aus dem Ukrainekrieg über ATGM lernen?

Wenn man den Krieg in der Ukraine mit anderen Konflikten vergleicht, wird deutlich, dass sich die Durchschlagskraft moderner HEAT-Sprengköpfe bei schwer gepanzerten Fahrzeugen nicht ohne Weiteres zur eindeutigen Zerstörung führt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass Panzer überlebensfähig sind und dass manche Panzer überlebensfähiger sind als andere. Ein Merkmal des Ukrainekrieges ist jedoch die große Menge an ATGM. Es gibt so viele davon, dass Soldaten sie einsetzen, um Bunker, LKWs, leicht gepanzerte Fahrzeuge, Soldaten und andere Ziele zu bekämpfen. Dieser flächendeckende Einsatz von ATGM ist nicht neu: In Afghanistan war es üblich, dass Soldaten Javelin als eine Art Präzisionswaffe mit großer Reichweite einsetzten, im Gegensatz zur Luftnahunterstützung oder Artillerie. Darin spiegelt sich eine Binsenweisheit des Krieges wider: Soldaten werden höchstwahrscheinlich das wirksamste und sicherste Mittel einsetzen, das ihnen zur Verfügung steht, und nicht das billigste oder wirkungsstärkste. Die Masse der ATGM und ihre Auswirkungen auf gepanzerte Operationen sind jedoch eine Lehre, die es zu beachten gilt.

ATGM wurden zum ersten Mal während des Jom-Kippur-Krieges 1973 in großer Anzahl eingesetzt. Dieser oft untersuchte Konflikt hatte erhebliche Auswirkungen auf die USA und andere Streitkräfte. Die ägyptischen und syrischen Streitkräfte setzten 9M14 Malyutka ‚AT-3 Sagger‘-Raketen ein und erreichten bei einem erfolgreichen Treffer eine Durchschlagskraft von 60 Prozent. Dies führte zu durchschnittlich zwei Todesopfern pro Fahrzeug. Als Reaktion darauf verbesserte Israel die Überlebensfähigkeit seiner Fahrzeuge, was zu einer geringeren Zahl von Opfern pro Treffer führte. Ägypten hatte seine Malyutkas in Erwartung eines israelischen Panzerangriffs als Reaktion auf die Überquerung des Sinai zusammengezogen, sie aus den Reserveeinheiten herausgelöst und der Infanterie an der Front zugeteilt. Die Malyutka-Besatzungen hatten außerdem drei Jahre lang mit ihren Waffen geübt, um sicherzustellen, dass sie so leistungsfähig wie möglich waren. Die israelischen Streitkräfte setzten ihre Panzer bereitwillig in „Penny Packets“ (kleinen Gruppen) ohne Infanterieunterstützung ein, was den ägyptischen Generalstabschef zu der Bemerkung veranlasste, er habe nicht erwartet, dass die israelischen Streitkräfte so kooperativ sein würden. Der Jom-Kippur-Krieg diente also zur Veranschaulichung der Tatsache, dass ein massiver ATGM-Einsatz einen Panzervorstoß zunichte machen kann, bestätigte aber auch die aus dem Zweiten Weltkrieg bekannte Lehre, dass gepanzerte Fahrzeuge allein verwundbar sind.

Beweist der massenhafte Einsatz von ATGM in der Ukraine also etwas grundlegend Neues? In den Veröffentlichungen der U.S. Army über Manöver mit verbundenen Waffen wird darauf hingewiesen, dass „keine einzelne Waffe kriegsentscheidend ist“ und Operationen mit verbundenen Waffen für den Sieg unerlässlich sind. Es liegt auf der Hand, dass Beobachtungen über die Wirksamkeit von ATGM – oder einer beliebigen Kombination von Waffen und Taktiken – gegen Verbände, die nur aus Panzern bestehen, wenig hilfreich sind und unser Verständnis der modernen Kriegsführung nicht erweitern.

Die Wirksamkeit von ATGM gilt seit 1973 unverändert. Ein Vorstoß mit nur einem oder zwei Panzern und wenigen Infanteristen gegen einen Gegner mit ATGM wird erfolglos sein, vor allem, weil die Verteidiger mit ihren vielen ATGM das bedrohlichste Element dieser Streitkräfte ausschalten können. Gleichzeitig müssen wir aber auch das ukrainische Gefechtsfeld berücksichtigen. Keine der beiden Seiten ist in der Lage oder willens, mehr als eine Kampfgruppe in Kompaniegröße für Offensivoperationen aufzustellen. In jedem anderen Szenario käme dies einem „Penny-Packet“-Einsatz gleich, doch in der Ukraine könnte dies sowohl auf Zermürbung als auch auf die enorme Länge der umkämpften Front zurückzuführen sein. Das bedeutet, dass der Verteidiger möglicherweise nur einige wenige Fahrzeuge zerstören oder außer Gefecht setzen muss, um den Angreifer vom weiteren Vorgehen abzuhalten, was wiederum die Wirkung von ATGM verstärkt.

Während gepanzerte Streitkräfte nach einer Taktik suchen müssen, um wirksame Maßnahmen gegen ATGM zu finden, stellt sich die Frage nach dem Umfang. Wenn der Angreifer mehr Kräfte aufbringt, muss der Verteidiger mehr ATGM aufbringen, um wirksam zu sein. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass ATGM im gesamten Konfliktspektrum die gleiche Art und den gleichen Grad an Bedrohung darstellen. Aktive Schutzsysteme (APS) wie Trophy und Iron Fist verleihen Kampfpanzern ein hohes Maß an Überlebensfähigkeit in ebenbürtigen Konflikten. Bei solchen Szenarien handelt es sich häufig um einen Krieg in den Städten, der kombinierte Waffenmanöver aufgrund von Platzmangel oder mangelnden Möglichkeiten schwierig machen kann. Der Einsatz von ATGM in diesen Konflikten beschränkt sich jedoch in der Regel auf ein oder zwei pro Einsatz, neben schultergeführten Waffen wie der RPG-7. In Konflikten auf Augenhöhe helfen APS den Panzern, ihre Überlebensfähigkeit aufrechtzuerhalten, aber die Bekämpfung von massiven ATGM-Angriffen hängt von der Fähigkeit der Streitkräfte ab, ATGM-Teams und unterstützende Panzer mit Infanterie zu unterdrücken oder umgekehrt.

Alles in allem zeigt der Ukrainekrieg, dass ATGM weiterhin tödlich gegen Panzer sind, was das große Interesse an APS erklärt. Der Einsatz verbundenener Waffen ist nach wie vor entscheidend für die Überlebensfähigkeit gegen diese Bedrohungen, und ihr massiver Einsatz ist für gepanzerte Verbände riskant. Der Ukrainekrieg wirft die Frage auf, wie sich der Umfang des ATGM-Einsatzes auf eine Formation auswirkt. Dabei geht es weniger um die Tödlichkeit – diese ist bereits gut bekannt -, sondern vielmehr um die Frage, wie sich ATGM, die in einem kleinen Gebiet konzentriert sind, auf eine Formation auswirken können und wie man dieser Gefahr begegnen kann. Des Weiteren steht die Frage im Raum, wie repräsentativ die Kämpfe in der Ukraine für das moderne Schlachtfeld sind.

Kanonen, überall Kanonen

Diese Beispiele zeigen, dass sich der Status des Panzers durch den Krieg in der Ukraine nicht grundlegend geändert hat und ATGM weiterhin ein Problem sind, wenn auch kein unüberwindbares.

Es gibt jedoch einen Aspekt des Krieges, der näher beleuchtet werden sollte, weil er in früheren Kriegen weniger Beachtung fand als z.B. die Luftverteidigung oder der Nutzen der Luftwaffe, nämlich die Rolle der mittelkalibrigen Kanone. Beide Seiten setzen die 30-mm-Kanone 2A42 Shipunov ein, mit der die BMP-2 und BMD-2 bewaffnet sind, sowie die 2A72, eine leichtere Variante, die auf den BTR-82A und den russischen BMP-3 und BMD-4M Fahrzeugen zu finden ist. Auch die Ukraine setzt eine lokal hergestellte Version auf ihren Rad-Schützenpanzern BTR-3 und BTR-4 ein. Diese Kanonen sind weit verbreitet und haben das Kampfgeschehen auf beiden Seiten geprägt, siehe zum Beispiel diesen Bericht eines ukrainischen Kämpfers:

„Meiner Meinung nach sind russische BTR gefährlicher als Panzer. Ihre Kanone feuert schneller und diese Fahrzeuge transportieren Soldaten. Wenn wir einen BTR sehen, wissen wir, dass auch Soldaten in der Nähe sind. Wenn wir aber einen Panzer sehen, ist er manchmal allein und leichter zu zerstören. Die Verletzungen durch diese Kanonen sind furchtbar. Ein Treffer in den Körper lässt jemanden fast explodieren. Sie sind leicht zu zerstören, aber im direkten Kampf sehr gefährlich.“

Die Leistung der Kanone ist gewaltig. Die 2A72 kann 500 Schuss pro Minute abfeuern und ist im BMP-3 in beiden Achsen stabilisiert und mit einem Feuerleitsystem verbunden, das eine hohe Zielgenauigkeit auf Distanz ermöglicht. Die hohe Feuerrate ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Waffen gasbetrieben sind. Die Feuerrate kann sich sogar noch erhöhen, wenn sich das Rohr erwärmt, da der Wärmeverlust der Treibgase verringert wird, was zu einem höheren Druck führt, der wiederum die Funktionsmechanismen der Waffe schneller in Gang setzt.

Die Feuerkraft dieser Kanonen ermöglicht es, Infanterieverbände aus der Ferne zu überwältigen, und sie sind so wirkungsstark, dass sie unter Umständen auch einem Panzer Schaden zufügen können. Beide Verwendungszwecke der mittelkalibrigen Kanone wurden in der Ukraine beobachtet, und es hat sich gezeigt, dass diese Kanonen für Infanterieverbände sehr gefährlich sind, wenn die Infanteristen nicht unterstützt werden. Sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Kriegsführung im städtischen Raum, da sie Stellungen aus Entfernungen unterdrücken, die außerhalb der Reichweite der von Infanterieverbänden mitgeführten Standard-Schulterfeuerwaffen gegen Panzer liegen.

Auch das ist kein neuer Trend. Die US-Streitkräfte setzten 1991 und 2003 im Irak das 25-mm-M242-Geschütz ein, mit dem der Schützenpanzer M2/M3 Bradley bewaffnet war, und erzielten damit große Erfolge, indem sie sogar eingegrabene T-62 mit Schüssen durch das Turmdach außer Gefecht setzten. Sie waren im Stadtkampf von unschätzbarem Wert, da sie schnelles und demoralisierendes direktes Feuer gegen Infanterie in Gebäuden und, falls erforderlich, durch Mauern hindurch lieferten. Das Vereinigte Königreich setzte seine 30-mm-RARDEN-Kanonen während des Falkland-Krieges 1982 ebenfalls mit gutem Erfolg ein. Kanonen wurden auch als eine Form des direkten Präzisionsfeuers in Afghanistan eingesetzt, wo sie dazu dienten, Taliban-Kräfte schnell zu unterdrücken, und ähnliche Ergebnisse wurden von den französischen Streitkräften in Mali berichtet. Die Ukraine zeigt jedoch den entscheidenden Nutzen dieser Waffen in einem Konflikt unter Ebenbürtigen. Früher wurden diese Waffen häufig in Konflikten ungleicher Gegner eingesetzt, wo die eine Seite besser ausgerüstet war als die andere. Der Einsatz dieser Kanonen in der Ukraine zeigt, dass sie eine äußerst tödliche und nützliche Waffe sind, was auch erklärt, warum die meisten AFVs der NATO diese Waffe jetzt tragen.

Wichtig ist, dass man sich über das Risiko im Klaren ist, das entsteht, wenn Fahrzeuge, die keine Kanonen tragen, auf Fahrzeuge mit Kanonen treffen. Wie wird sich beispielsweise die britische Boxer-Flotte in einem ebenbürtigen Konflikt schlagen, wenn sie nicht mit mittelkalibrigen Waffen ausgerüstet ist?

Die mittelkalibrige Kanone ist eine äußerst nützliche Waffe. Sie kann zur Bekämpfung einer Vielzahl von Zielen eingesetzt werden und verleiht Infanterieverbänden eine große Tödlichkeit. Diese Lehre war bereits bekannt, aber der Krieg in der Ukraine hat bewiesen, dass sie sich in einem hochintensiven Gefecht unter ebenbürtigen Gegnern bewahrheitet.

Schlussfolgerung

Obwohl der Krieg in der Ukraine zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels bereits fast ein Jahr andauert, ist noch immer nicht klar, ob es eindeutige Lehren für Luftplattformen gibt. Gegenwärtig kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die Ukraine Analysematerial liefert, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Aber es ist noch nicht der Punkt erreicht, an dem das Wissen als Information oder Weisheit betrachtet werden kann. Die obigen Ausführungen zeigen, dass sorgfältige Überlegungen erforderlich sind, um sicherzustellen, dass „neue“ Erkenntnisse nicht einfach ein Aufguss alter Lehren sind.

Natürlich lassen sich aus der Ukraine einige Lehren ziehen. So sind beispielsweise die Auswirkungen von Drohnen auf dem Schlachtfeld weitreichend. Aber auch hier gilt es zu unterscheiden, was an dem Krieg in der Ukraine grundlegend neu ist und was bereits bekannt ist. Cyberkrieger können daraus lernen, wie viel Aufwand und Ressourcen erforderlich sind, um nationale Daten vor entschlossenen und gezielten Cyberangriffen zu schützen. Auch in Bezug auf die Abschreckung und die Art des zwischenstaatlichen Wettbewerbs sowie die Rolle, die Streitkräfte letztlich spielen, müssen neue Lehren gezogen werden. Was gepanzerte Fahrzeuge betrifft, so hat der Ukrainekrieg nach Ansicht des Autors keine grundsätzlich neuen Lehren hervorgebracht, die für die Welt der gepanzerten Kriegsführung grundlegend neu sind. Wie so oft im Krieg haben sich neue und einfallsreiche Taktiken unter Verwendung vorhandener Systeme als fruchtbar erwiesen, und einfallslose Taktiken wurden bestraft, aber nicht jede Taktik der Ukraine oder jede Erfahrung einer russischen Panzergruppe ist auch anwendbar auf andere Konflikte. Nichtsdestotrotz sollte der Ukrainekrieg an den Aufwand erinnern, der nötig ist, um gepanzerte Streitkräfte zu unterhalten und sie in den Krieg zu schicken, sowie an die absolut zentrale Rolle, die sie im Krieg spielen.