von Mirjam Lübke...
Ein Trend schwappt gerade aus den USA zu uns hinüber, der ähnlich schräg ist wie Wokeness und Diversity: Geimpfte erheben schwere Vorwürfe, nicht etwa gegen die Gesundheitsbehörden oder die Regierung - nein, die Ungeimpften sind Ziel des Unmuts. Zum einen sind sie ohnehin schon gesellschaftlich angezählt, da kann man nicht viel falsch machen, bekanntlich ist es stets einfacher, abwärts zu treten. Aber der Grund ist so absurd, man mag es kaum glauben: Die Ungeimpften sollen es versäumt haben, rechtzeitig vor der Impfung zu warnen. Da ist man erst einmal sprachlos.
Es gibt eine Reihe an Unternehmungen, die man leichter hätte absolvieren können. Etwa eine Dampfwalze mit der Hand aufzuhalten, die Titanic an einer Angelschnur heben oder aber auch Godzilla an der Leine spazieren zu führen. Auch wenn es Zeiten gab, in denen die Bürger mit Bratwürsten und Kirmesbesuchen an die Spritze gelockt werden mussten, so hätte mancher seine Großmutter in die Sklaverei verkauft, um an das begehrte Stöffchen zu kommen. Besonders peinlich waren die Pflasterfotos, welche mehr oder minder Prominente wie Dunya Hayali über Twitter verbreiteten. So als hätten sie gerade eine Runde Überlebenstraining hinter sich gebracht und tapfer gegrillte Maden verspeist. Unterschwellig haben sie eventuell schon etwas geahnt. Manche ließen sich das Pflaster gar tätowieren - das werden sie nun nicht mehr los. Gegen diesen Wahn hatte man keine Chance - nicht umsonst spricht Gunnar Kaiser von einem Kult. Es fühlte sich an wie in einem Horrorfilm, in dem Überlebende einer angeblichen Schutzzone entgegenstreben - und der Zuschauer schon genau weiß, dass dort die Falle zuschnappt. Da kann man den Fernseher noch so laut anschreien, es ändert nichts. Zumal die Menschen an die Rettung glauben wollen.
Es fehlte wahrlich nicht an Versuchen, die Gläubigen zur Abkehr zu bewegen. Auch wenn man sich durch diesen Versuch den wüstesten Beschimpfungen preisgab. "Ungeimpfte halten die Gesellschaft in Geiselhaft!", schimpfte Marie-Agnes Strack-Zimmermann. In Corona-Belangen durften sich nur Auserwählte äußern. Ähnlich wie beim Klimawandel wurde propagiert, bloß nicht auf jene zu hören, welche Minderheitenmeinungen vertraten. Das in der Wissenschaft übliche Zweifeln wurde zum Sakrileg. Die mittlerweile zur Propagandashow mutierte Sendung "Quarks" lieferte uns die Erklärung, warum Andersdenkende nicht in Talkshows eingeladen wurden: Wegen des "false balance"-Effektes. Angeblich könne so der falsche Eindruck entstehen, Virologen wie Streeck oder Wodarg verträten eine große Gruppe von Wissenschaftlern. Da hat man ihnen mal sicherheitshalber ganz den Mund verboten und nur Experten gleicher Meinung eingeladen.
Für Karl Lauterbach wird dieser Mangel an Gegenmeinungen nun zum Rettungsring. Derzeit ist er der prominenteste Vertreter der "keiner hat mich gewarnt"-Bewegung, in diesem Falle bezüglich der unnötigen Schulschließungen. Das ist deshalb so makaber, weil seine Kollegen vom Bundesfamilienministerium schon im letzten Jahr eine Studie durchführten, welche die Folgen der Lockdown-Politik auf Kinder untersuchte und auf Angststörungen und Depressionen hinwies. Sehr verhalten zwar, aber immerhin wurde nicht alles als Unfug abgetan. Die unfehlbare Wissenschaft von damals ist für Lauterbach nun plötzlich "ungenau". Wenn man seinen Fokus nur auf "Wir werden alle sterben!"-Studien legt, kann man so etwas schon einmal übersehen.
Dabei würden die Vorwürfe bezüglich der getroffenen Maßnahmen wahrscheinlich weitaus milder ausfallen, wenn sie wirklich nur Fehlentscheidungen aufgrund mangelnder Daten gewesen wären - und von den Verantwortlichen ein klares Wort der Entschuldigung gefallen wäre. Auch eine gewisse Unsicherheit zu Beginn der Pandemie könnte man den Verantwortlichen nachsehen - hinterher ist man bekanntlich immer klüger. Sich nun aber darauf herauszureden, man habe auch 2021 noch nicht genügend Informationen besessen, ist eine bodenlose Dreistigkeit. Aus Südafrika war bekannt, dass die Omikron-Variante des Virus keine schweren Verläufe verursacht - trotzdem redete man den Bürgern weiter Ängste ein. Auch nahm kaum jemand Notiz davon, dass Israel die Impfpflicht sofort abschaffte, als Studien über schwere Risiken veröffentlicht worden waren. Diese Nachricht hätte natürlich das "Alle machen das so!"-Narrativ gestört. Karl Lauterbach muss davon gewusst haben - dennoch machte er weiter.
Wo soll das alles enden? Rücktritte sind unter deutschen Politikern selten geworden, Einsicht noch seltener. Wenn wir irgendwann einmal im Dunkeln sitzen, weil der große Blackout kam, beklagt sich dann Robert Habeck, weil ihn niemand darauf aufmerksam machte, wie unzuverlässig Windkraftanlagen sind? Oder aber weint Annalena Baerbock eines Tages in den Trümmern von Berlin, weil ihr niemand sagte, dass ihre Äußerungen im Kreml Unmut auslösen könnten?
Es ist schon makaber: Da setzt eine Corona-Lobby eine Schweigespirale in Gang, wie wir seit der DDR-Zensur keine mehr erlebt haben. Und nun beschwert man sich, weil sie so gut funktionierte und niemand die Notbremse gezogen hat. Apokalypse hausgemacht.