Ein Leopard 2 der Bundeswehr: Kampfpanzer sind im gegenwärtigen Krieg wieder zu einer Art militärischen Währung geworden.
Das Handwerk, das von Korff bei seinem Vorstoss nach Prizren noch im Schlaf beherrscht hatte, ist unterdessen verkümmert. Die Bundeswehr hat ihren harten Kern bis über die Schmerzgrenze hinaus reduziert. Die deutschen Bodentruppen, das Heer, verfügen nur noch über zwei Grossverbände, die dem Namen nach etwas mit Krieg zu tun haben: Von den einst sechs deutschen Panzerdivisionen der Heeresstruktur 4 im Kalten Krieg sind nur noch die erste und die zehnte Panzerdivision übrig geblieben.
Die Namen entstammen der Tradition der Bundeswehr. Doch eigentlich ist die Bezeichnung der beiden Grossverbände ein Etikettenschwindel. Die Kampfpanzer, die harte Währung der Bodentruppen, wurden so weit zusammengestrichen, dass sie innerhalb der zwei deutschen Panzerdivisionen fast schon Seltenheitswert haben. Dem deutschen Heer fehlt die Kampfkraft, um in einem konventionellen Krieg bestehen zu können. Erst mit starken Panzerverbänden kann ein Angreifer am Boden auch wirklich vertrieben werden.
Selbst die Kampfpanzer, über die das Heer verfügen sollte, sind zurzeit nicht alle einsatzbereit: Zwischen dem Soll- und dem Ist-Bestand besteht eine beträchtliche Lücke. Ähnlich dürfte es sich mit anderen Waffensystemen wie der Artillerie verhalten: Schauergeschichten über den militärischen Lotterbetrieb gibt es viele, aber harte Fakten kaum. Das Bundesministerium für Verteidigung hält die konkreten Zahlen unter Verschluss. Den Gegnern der Nato soll die Schwäche der Bundeswehr nicht unter die Nase gerieben werden.
Die NZZ hat deshalb bei den Kampfpanzern die Probe aufs Exempel gemacht. Ausgangspunkt ist die «ordre de bataille» der beiden Panzerdivisionen. Dieses taktische Organigramm lässt sich über die Angaben auf der Homepage der Bundeswehr nachzeichnen. Daraus wird klar, wie weit die deutsche Abrüstung wirklich gegangen ist. Dazu gelang es, ein vertrauliches Papier mit den gegenwärtigen Beständen an Leopard-2-Kampfpanzern zu beschaffen. Natürlich funktionieren moderne Streitkräfte im Verbund. Der Fokus auf die Kampfpanzer illustriert indes das grundsätzliche Malaise.
Ein Viertel der Kampfpanzer Leopard 2 zu wenig?
Innerhalb der beiden erwähnten Panzerdivisionen verfügt die Bundeswehr noch über fünf aktive Panzerbataillone. Davon ist eines ein niederländisch-deutscher Mischverband. Im Organigramm stehen noch zwei weitere Bataillone, doch beim Gebirgspanzerbataillon 8 handelt es sich um einen Reserververband. Ein zusätzlicher Truppenkörper wird als «Panzerlehrbataillon» geführt.
Um alle Verbände auszurüsten, benötigt die Bundeswehr 264 Leopard-2-Panzer
Panzerverbände der 1. und 10. Panzerdivision
Das Hauptkampfmittel der deutschen Panzerverbände ist der Kampfpanzer Leopard 2. Jedes Bataillon hat 44 Stück davon. Abweichungen sind möglich, können aber für das Gesamtbild über die Einsatzfähigkeit der deutschen Leopard-Flotte vernachlässigt werden.
Berücksichtigt man nur die fünf aktiven Panzerbataillone, besteht ein Soll-Bestand von 220 Leopard 2. Dazu kommen mindestens 44 weitere Kampfpanzer für die Ausbildung. Das Panzerlehrbataillon 93 kann überdies ebenfalls in den Einsatz geschickt werden. Minimal benötigt die Bundeswehr gemäss dieser Rechnung also 264 Leopard 2, damit alle Verbände vollständig ausgerüstet sind.
Doch selbst dem abgerüsteten Heer fehlen zurzeit einsatzbereite Panzer: Ein aktuelles, intern klassifiziertes Dokument, das der NZZ vorliegt, listet die Anzahl Leopard-Panzer der Bundeswehr detailliert auf:
Aktive Leopard-2-Kampfpanzer der Bundeswehr Typ A7V (ausgerüstet für den Kampf im überbauten Gebiet): 53
Typ A6 (Programm «Erhalt der Einsatzbereitschaft»): 110
Typ A6M (besonderer Minenschutz): 30
Im Umbau: 99 (44 A6, 20 A6M, 18 A7, 17 A7V)
Typ A5 zur Zieldarstellung: 19
Relevant für die Panzerbataillone sind die Typen A7V, A6M und A6. Davon hat die Bundeswehr gemäss dieser Übersicht Stand Mai dieses Jahres 193 Stück. Damit fehlt gegenwärtig wohl rund ein Viertel der minimal benötigten 264 Leopard-Panzer. Kommen später die 99 Panzer dazu, die zurzeit umgebaut werden, erreicht die Bundeswehr wieder den Soll-Bestand. Bei den Leopard-Panzern versucht das deutsche Heer also das Image einer Papierarmee loszuwerden.
Die Bundeswehr hat zurzeit nicht die nötigen Panzer, um ihre Truppen auszurüsten
Soll- und Ist-Bestand Leopard 2
Zum Vergleich: Die ebenfalls bis aufs Gerippe abgerüstete Schweizer Armee hat heute 134 Leopard 2 im Einsatz, die einer Fitnesskur zum «Werterhalt» unterzogen worden sind. Dazu stehen 96 weitere Exemplare in einer Lagerhalle als Reserve bereit, mit denen bei Bedarf mindestens zwei weitere Panzerbataillone ausgerüstet werden könnten. Die Ausgangslage der Schweiz für den Wiederaufbau ihrer Armee ist also deutlich komfortabler als im zehnmal grösseren Nachbarland Deutschland.
«Die Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da»
Der Nachholbedarf der Bundeswehr ist gewaltig: Drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine rief der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar eine «Zeitenwende» im Bundestag aus. Mit einem «Sondervermögen» von 100 Milliarden Euro sollte die Bundeswehr in wenigen Jahren zur schlagkräftigsten konventionellen Truppe in Europa ausgebaut werden. Das Ziel sei eine leistungsfähige, hochmoderne und fortschrittliche Bundeswehr, wie sie «für ein Land unserer Grösse und Bedeutung in Europa» angemessen sei.
Schon drei Tage zuvor hatte der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, seinem Ärger Luft gemacht. Auf seiner Linkedin-Seite schrieb der Generalleutnant: «Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.» Auch acht Jahre nach der Krim-Annexion, so Mais, habe Deutschland nicht die Konsequenzen gezogen und in die eigene Verteidigungsbereitschaft investiert. Dieser Offenbarungseid des ranghöchsten Soldaten des deutschen Heeres sorgte intern für Ärger, war aber für die Politik ein Anstoss zum Handeln.