von Thomas Heck...
Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenhauer hat vermutlich die Öffentlichkeit getäuscht, sie hat gelogen, als sie behauptete, die aus Afghanistan zurückkehrenden Soldaten hätten eine "stille Ankunft gewünscht". Doch Soldaten widersprechen der Darstellung. "Es wurde im Camp gesagt, es findet wegen Corona nicht statt". Das ist mehr als das übliche freundliche Desinteresse, es ist ein Schlag ins Gesicht aller Soldaten, dass sich kein Regierungsmitglied, kein Parlamentarier und nicht mal die eigene Kanzlerin, noch die Verteidigungsministerin, herabgelassen hat, diejenigen zu begrüßen, die für uns alle die Knochen hingehalten haben.
Als die Reifen des grauen Militärflugzeugs am frühen Abend des 29. Juni 2021 vom Asphalt abheben, wirft Tobias Müller* noch einen letzten Blick auf afghanischen Boden. Während der Truppentransporter aufsteigt und der B52-Bomber der US-Armee, der den Abflug sichert, über dem Gebiet kreist, sieht der Soldat, wie Einheimische die Mauern des Camps überwinden und die Landebahn des Camp Marmal stürmen. Sie wollen die wertvollsten Gegenstände der zurückgelassenen tonnenschweren Ausrüstung an sich bringen, die sich hier im Feldlager in Masar-e-Scharif in 16 Jahren Bundeswehrpräsenz angesammelt haben. Darunter unzählige Feldbetten, Zelte, Container, Sanitätsausrüstung oder auch ein Dutzend Toyota-Hilux-Pickups. Auf die Frage, ob ihn der überhastete Abzug der Bundeswehr an das Desaster der Briten in Dünkirchen 1940 erinnere, muss Müller bitter lachen: „Ein bisschen kann man das vergleichen.“
Nur wenige deutsche Soldaten waren in der fast 20-jährigen Einsatzgeschichte der Bundeswehr in Afghanistan so oft vor Ort wie Müller. Und nur wenige haben in zahlreichen Operationen und Kampfeinsätzen so oft ihr Leben riskiert wie der Berufssoldat. Zahlreiche Kameraden von ihm wurden dabei verletzt, einige sogar getötet. Müller wurde auch noch in Gefechte verwickelt, als die Mehrheit der deutschen Soldaten sich nur noch in ihren Lagern verbarrikadierte, weil die Politiker in Berlin nach 2014 nicht mehr klarmachen konnten, welche konkreten strategischen Ziele ihre Soldaten mehr als 5000 Kilometer entfernt überhaupt erfüllen sollten. Deutschland wolle dem „innerafghanischen Friedensprozess sowie den Anstrengungen des zivilen Aufbaus und der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan die nötige Zeit und den nötigen Raum geben“, so lautet die schwammige Umschreibung der Bundesregierung auf ihrer Homepage.
Spätestens seit 2015 wurde der Afghanistan-Einsatz zum Problem
Die letzten vier Wochen seien ein großes Chaos gewesen, nichts habe mehr Sinn ergeben, sagt Müller rückblickend. „Spätestens da habe ich gemerkt, es ist Wahljahr.“ Führung und Politik hätten darauf gedrängt, dass der Abzug geordnet und ohne großes Aufsehen erfolge. Doch das sei ganz und gar nicht der Fall gewesen. Zuletzt habe man sogar fahrlässig das Leben deutscher Soldaten aufs Spiel gesetzt. Denn während die Taliban schon bis auf zehn Kilometer zum Feldlager vorgerückt waren, hätte die Politik nicht nur die Sicherheitsempfehlungen der Führungsebene ignoriert oder die im Falle eines Angriffs überlebenswichtige Aufklärungstechnik abbauen lassen, sondern auch die Sturmgewehre von 300 der letzten rund 500 Soldaten nach Deutschland ausgeflogen. Wenn Müller und seine Kameraden, die die Berliner Zeitung am Wochenende befragt hat, davon erzählen, können sie sich auch mehr als eine Woche nach der Ankunft in Deutschland noch richtig in Rage reden: „Das war wie im Zirkus“, sagt Müller. „Wir sollten hier geordnet abziehen aus einem Kriegsland und konnten uns gar nicht mehr verteidigen, falls die Taliban doch noch angreifen.“
Der Abzug des deutschen Kontingents am Hindukusch markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Geschichte der Entkopplung zwischen Truppe und Politik. 59 deutschen Soldaten kostete der Afghanistan-Einsatz das Leben. Seit 1992 starben insgesamt 114 deutsche Soldaten im Auslandseinsatz. Sie kamen bei Unfällen und Selbstmordanschlägen um oder wurden in Gefechten erschossen. Was in Afghanistan im Dezember 2001 als UN-Mission für den internationalen Frieden und zur Terrorismusbekämpfung begann, entwickelte sich spätestens seit 2015 zum immer lästiger werdenden Problem für Bundesregierung und Politiker aller Fraktionen. Es fehlte am Willen zu entscheiden, welche Ziele und Aufgaben die Bundeswehr gegenwärtig und künftig haben soll.
Die Ankunft der Soldaten in Niedersachsen war ein Moment der Freude
Um zu verstehen, warum sich Deutschland heute immer schwerer mit seinem Militär tut, muss man nicht, wie oft behauptet wird, bis ins Jahr 1945 zurückgehen. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler beschrieb das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Militär 2005 noch als „freundliches Desinteresse“. Heute dagegen herrscht Missachtung für das Militär und seine Soldaten. Die Männer und Frauen in Uniform sind in der Ära Merkel zum Spielball von Missmanagement und politischer Machtkämpfe geworden.
Um 13.46 Uhr am 30. Juni erreichte die erste der drei Airbus-A400M-Maschinen mit 264 Soldatinnen und Soldaten an Bord Wunstorf. Zuvor, beim Zwischenstopp in Georgien, habe dann noch die „Bürokratiefaust“ der Bundeswehr zugeschlagen, sagt Müller schmunzelnd. Mehr als vier Stunden habe er 3000 Schuss Munition einzeln in Zählrädchen stecken müssen, bevor es Richtung Heimat ging. In einem Fliegerhorst 30 Minuten außerhalb von Hannover erwarteten Müller und seine Kameraden schließlich ihre Familien, der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos und ein Kamerateam von „Hallo Niedersachsen“. Es war ein Moment der Freude für die Soldaten und ihre Angehörigen.
Das Desinteresse der deutschen Regierung an den Soldaten
Auch durch die Medien schien ein Seufzer der Erleichterung zu gehen. Doch bald mischten sich andere Gefühle hinzu, erst Verwirrung, schließlich Zorn. Denn zwischen den Journalisten, Angehörigen und Generälen fehlten diejenigen, die die politische Verantwortung für den Einsatz haben: die Verteidigungsministerin, Mitglieder der Bundesregierung und vor allem die Bundestagsabgeordneten. Als Annegret Kramp-Karrenbauer am Abend live in den Tagesthemen interviewt wurde, verstand man, wieso sie nicht in Wunstorf hatte sein können. Sie war aus Washington zugeschaltet, wo sie sich zu Gesprächen mit ihrem amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin aufhielt. Caren Miosga schien die räumliche Distanz zwischen der Verteidigungsministerin und ihrer Truppe nicht zu wundern – obwohl bei einem Anschlag auf deutsche Soldaten in Mali kurz zuvor zwölf Soldaten teilweise schwer verletzt wurden, drei schwebten zwischenzeitlich in Lebensgefahr. Während des siebeneinhalbminütigen Interviews fragte die Moderatorin kein einziges Mal nach dem Empfang in Wunstorf. Auch die Ministerin erklärte nicht, warum sie gerade jetzt nach Washington reisen musste, obwohl die Rückkehr der Truppe für diese Zeit zumindest intern angekündigt war.
Doch während die Welt am Abend noch in Ordnung war, erschienen in den kommenden Tagen ungewöhnlich scharfe Kommentare in den Zeitungen. „Fußballspieler, die ein Achtelfinale verstolpert haben, kann man so behandeln – nicht aber Soldaten, die ihr Leben einsetzten, um den Auftrag von Regierung und Parlament zu erfüllen“, schrieb die FAZ. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der WM 2014 schon nach dem Auftaktspiel den spärlich bekleideten Mesut Özil fast bis in die Dusche verfolgte, war sie in 16 Jahren Regentschaft bei keiner Ankunft deutscher Soldaten aus einem Auslandseinsatz dabei. Plötzlich ging es um Treue, Tapferkeit und sogar Ehre. Begriffe, mit denen Politiker heutzutage selten konfrontiert werden. Viele schienen überrascht von der Heftigkeit der Reaktionen.
Wütende Reaktionen von Bundeswehrangehörigen
Zahllose Briefe, Mails und Facebook-Nachrichten von entrüsteten Bürgern, viele von Bundeswehrangehörigen, erreichten in der Folge Bundestagsabgeordnete. Von „großem Unverständnis“, fehlender „Ehre und Anerkennung“, „ganz schlechten Ausreden“ war darin zu lesen, einige sprachen sogar von einer „Schande“. Wieso hatte sich nicht ein einziger Parlamentarier gefunden, um die Truppe zu empfangen? So der Tenor vieler Reaktionen. Besonders viele dieser Schreiben erreichten Mitglieder des Verteidigungsausschusses, auch Kerstin Vieregge von der CDU. Sie verfasste als Reaktion am 2. Juli einen Brief an ihre Parteikollegin Kramp-Karrenbauer. Sie bat um eine Erklärung dafür, wieso es Mitgliedern des Verteidigungsausschusses nicht ermöglicht worden war, bei der Ankunft dabei zu sein, und zitierte gleichzeitig wütende Reaktionen von Bundeswehrangehörigen.
Ihre Parteikollegin Kramp-Karrenbauer antwortete prompt: Die Soldaten wollten es so. „Die Entscheidung für eine stille Ankunft und Empfang des Kontingents durch den Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, Generalleutnant Erich Pfeffer, wurde auf ausdrücklichen Wunsch und Vorschlag der zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten getroffen.“ In dem Schreiben heißt es weiter, dies sei ein „klares Zeichen der Wertschätzung und so vorab auch mit dem Verteidigungsausschuss besprochen und durch diesen ausdrücklich unterstützt“ worden.
Von einer Absprache könne keine Rede sein
Eine verblüffende Aussage, denn Kerstin Vieregge sitzt ja selbst im Ausschuss. Mit ihr war das alles wohl nicht besprochen worden, sonst hätte sie ja nicht nachgefragt. Und in den Stunden nach dem Brief der Ministerin, der in Auszügen über die Nachrichtenagenturen lief, meldeten sich immer mehr Mitglieder des Verteidigungsausschusses zu Wort. Weder die Obfrau Siemtje Möller noch der Ausschussvorsitzende Wolfgang Hellmich (beide SPD) konnten sich an eine Absprache erinnern. Sie erklärten, sie wären gerne in Wunstorf dabei gewesen. Doch zu spät seien sie informiert worden, von einer Absprache oder gar Unterstützung einer „stillen Ankunft“ könne keine Rede sein.
Faktisch wurden am Vorabend um 21.37 Uhr nur sechs Mitglieder schriftlich über die geplante Ankunft am Folgetag gegen 12 Uhr mittags unterrichtet. Dass den Parlamentariern eine so wichtige Information bis zuletzt vorenthalten wurde, überrascht, denn normalerweise wird umgehend peinlich genau über jedes schadhafte Rettungsboot oder jede defekte Antenne auf einer Fregatte informiert und dafür zu Sitzungen außerplanmäßig einberufen. Und auch, wenn sie gewollt hätten, hätten die Abgeordneten es gar nicht rechtzeitig nach Wunstorf schaffen können. Denn am Tag der Ankunft fand um 8 Uhr morgens eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses zum Anschlag auf die deutschen Soldaten in Mali statt.
So geht erfolgreiche Verantwortungsverschleierung im Fach Berufspolitik
Einige Abgeordnete vermuten dahinter eine Strategie: Weil Kramp-Karrenbauer wegen ihrer USA-Reise nicht in Wunstorf sein konnte, sollten auch keine anderen Parlamentarier die Soldaten empfangen. Niemand sollte ihr die Show stehlen. Hätten andere in Wunstorf gestanden, wäre die Frage nach der Abwesenheit der Ministerin zwangsläufig aufgekommen. Da passt Kramp-Karrenbauers Vorschlag eines großen Appells für die Soldaten am 31. August in Berlin mit Bundespräsident, Bundeskanzlerin und Verteidigungsministerin besser. So geht erfolgreiche Verantwortungsverschleierung im Hauptfach Berufspolitik.
Hört man sich in der Truppe um, fällt das Urteil über das Vorgehen des Verteidigungsministeriums vernichtend aus. Die Soldaten unterstellen Kramp-Karrenbauer nachträglich, nur auf das negative Medienecho reagiert zu haben und werfen ihr vor, gelogen zu haben. Tobias Müller, der im Lager alle entscheidenden Prozesse mitbekam und selbst auf dem Flug dabei war, weiß nichts von derartigen „Wünschen“ seiner Kameraden: „Das ist Blödsinn. Wir werden nie gefragt. Wir müssen für jeden Schwachsinn einfach antreten.“ Außerdem gäbe es im Militärjargon den Begriff einer „stillen Ankunft“ überhaupt nicht.
„Es wurde im Camp gesagt, es findet wegen Corona nicht statt“
Generationen von Wehrdienstleistenden werden bei der Formulierung von „Wünschen“ beim Militär sowieso aufgehorcht haben. Doch heute, zehn Jahre nach dem Ende der Wehrpflicht, wissen immer weniger Menschen, dass das Soldatenleben aus Befehl und Gehorsam besteht – nie aus einer Kultur des „Wünsch-dir-Was“. Es wäre wohl das erste Mal in der Geschichte der Bundeswehr, dass die Anliegen der Soldaten in solch einem historischen Moment wie dem Ende eines Kampfeinsatzes eine Rolle gespielt hätten.
Und auch die anderen Ausflüchte des Ministeriums sind für Müller absurd. „Es wurde im Camp gesagt, es findet wegen Corona nicht statt.“ Mit Corona habe ja auch das Ministerium die Abwesenheit von Politikern begründet, sagt der Soldat. Eine Aussage, die überrascht, denn am Wochenende fanden in mehreren Diskotheken in Hannover ganz legal Feiern mit 250 Besuchern statt. Auch ist die Corona-Impfung für Soldaten in Auslandseinsätzen seit März 2021 verpflichtend. Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr wollte zu diesen Vorwürfen keine Stellung nehmen. Eine Sprecherin verwies auf frühere Statements.
„Ein würdevoller Empfang ist offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen“
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, Harald Kujat, in dessen Amtszeit die parlamentarische Entscheidung über den ISAF-Einsatz in Afghanistan 2001 fiel, sieht das ähnlich wie Müller. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Soldaten wirklich gefragt wurden. Und es wäre für sie sicherlich kein Problem gewesen, ihre Familien nach so langer Abwesenheit eine halbe Stunde später zu sehen.“ Leider sei das inzwischen das ganz normale Verhalten gegenüber der Bundeswehr. Und er siedelt die Kritik auch an anderer Stelle an: „Ich erinnere mich noch gut an die Bilder von der Begegnung der Bundeskanzlerin mit den Spielern der Fußballnationalmannschaft. Ein wenig von dieser Wertschätzung würde ich mir auch für unsere Soldaten wünschen.“
Und Kujat geht in seiner Beurteilung der Politik noch weiter: „Ein würdevoller offizieller Empfang ist offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen. Und alles wirkt so, als wenn die Veranstaltung am 31.8. als Reaktion auf die massive öffentliche Kritik angesetzt wurde.“ Die Distanz der Politik zur Bundeswehr sei vor allem auch die Ursache für die kritische bis ablehnende Einstellung der Bevölkerung. Regierung und Parlament würden Soldaten in Einsätze schicken, die höchste Anforderungen an die Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Soldaten stellen, ohne ihnen die Ausrüstung zu geben, die den Einsatzerfolg bei einem Höchstmaß an persönlicher Sicherheit gewährleistet. Trotz dieser schwierigen Bedingungen hätten die Soldaten in Afghanistan Hervorragendes geleistet. Viel mehr, als man ihnen angesichts des skrupellosen Verhaltens der politisch Verantwortlichen hätte zumuten dürfen.
Die Bedingungen werden immer prekärer
Kujat, der die Entwicklung der Bundeswehr über viele Jahre mitgestaltet hat, ist über ihren heutigen Zustand und ihr Ansehen in der Bevölkerung zutiefst betroffen. Dass die Entfremdung allein mit der deutschen Geschichte und der Wehrmacht zusammenhänge, hält er für eine Nebelkerze. Das habe es gegeben in der Wiederbewaffnungsdebatte und bis in den Anfang der 1990er-Jahre: „Aber die jetzige Entfremdung ist alleinige Schuld der Bundesregierung.“
Er nennt als Beispiele für Politiker, die sich massiv für die deutschen Sicherheitsinteressen und für eine leistungsfähige, in der Bevölkerung angesehene Truppe eingesetzt hätten, die SPD-Politiker Helmut Schmidt und Georg Leber. Mit der unüberlegten Aussetzung der Wehrpflicht und der sogenannten „Neuausrichtung der Bundeswehr“ – weg vom verfassungsmäßigen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung, hin zu Auslandseinsätzen – sei das Verhältnis zwischen Aufgaben, militärischen Fähigkeiten und den dafür erforderlichen finanziellen Mitteln immer prekärer geworden.
Eiserner Sparzwang und Überbürokratisierung
Auch wenn sich die Aussetzung der Wehrpflicht für große Teile der Bevölkerung zunächst wie eine folgerichtige Entscheidung anfühlte, verschlechterte sie die Bedingungen in der Armee tatsächlich. Eiserner Sparzwang und Überbürokratisierung zogen ein. Das dynamische Verfügungsmanagement wurde zum geflügelten Wort innerhalb der Streitkräfte. Nur, hinter dem wohlklingenden Namen verbirgt sich schlicht, dass es der Bundeswehr überall an Ausrüstung und Fahrzeugen fehlte und eine Vollausstattung nicht mehr erreicht werden konnte. Dagegen sollten die Einheiten nur über bis zu 70 Prozent des nötigen Materials verfügen und nur für Einsatz oder Ausbildung aufstocken können. Der Verschleiß nahm dramatisch zu.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel etwa schlachtete diese Mangelwirtschaft in den vergangenen Jahren gnadenlos aus. Von Einheiten, die sich vor Nato-Manövern in der ganzen Republik „Panzer schnorren“, und von Schützenpanzern, die sich teilweise mit Attrappen statt Bordkanonen den alliierten Kameraden präsentierten (und von einer bis auf ein Boot defekten U-Boot-Flotte), war die Rede. Zwischenzeitlich waren etwa von 43 Marine-Hubschraubern nur vier und von 109 Eurofighter-Jets nur acht voll einsatzbereit.
Es entsteht kein kameradschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl
„Ich habe diese Geschichten doch selber gerne gelesen“, frotzelt Soldat Müller, zurück in Deutschland, „das ist doch gute Unterhaltung“. Das Problem sei aber, dass das Ganze die Soldaten direkt gefährde. Spricht man mit Soldaten, die mit Ideen zu neuer Ausrüstung betraut sind, beklagen sie, dass heute rund 500 kompetente Vertragsjuristen fehlen, die die konkreten Wünsche der Truppe schnell und präzise in pragmatische Anweisungen für die Rüstungskonzerne übersetzen könnten. Und so kommt es schon einmal vor, dass Rheinmetall eine Splitterschutzweste mit falschen Taschen anliefert, mit der die Soldaten im Gefecht nichts anfangen könnten.
Müller und die anderen einsatzerfahrenen Berufssoldaten stört bei der Bundeswehr vor allem die Verantwortungsdiffusion in allen Bereichen. Vor allem bei der Beschaffung könne etwa für fehlende Funkgeräte bei der Truppe niemand direkt verantwortlich gemacht werden. Denn an den Prozessen seien zu viele Militärs, inkompetente Beamte und Politiker beteiligt. „Wir machen uns doch lächerlich“, sagt Müller, „die Bevölkerung denkt, bei uns arbeiten nur Idioten“. Und genau das ist für den erfahrenen Soldaten das Hauptproblem: „Die Qualität des Personals hat sich total verschlechtert, wer möchte denn bei all den Problemen noch zur Bundeswehr heute?“ Statt eine schlagkräftige Berufsarmee aufzubauen, gängele man die Soldaten mit Einzelvorschriften. „45 Minuten nach dem Essen darf zum Beispiel kein Sport gemacht werden“, sagt Müller. So bereite man die Truppe also auf einen potenziellen Krieg vor. Außerdem könne sich der einfache Soldat inzwischen direkt bei der Ministerin über jede Entscheidung der Vorgesetzten beschweren. So entstehe kein kameradschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern eine Kultur des Misstrauens.
Der Ort der Trauer für Bundeswehrsoldaten ist nur schwer zugänglich
Ein paar Mal hätten er und seine Kameraden schon Briefe an ihre Bundestagsabgeordneten geschrieben, um auf Probleme aufmerksam zu machen. Aber statt wirklicher Anteilnahme und Verbesserungsvorschlägen gab es nichtssagende und gestelzte Antwortschreiben von Büroangestellten. „Ich fühle mich total verarscht“, sagt Müller bitter. „Die Identifizierung mit dem Job wird immer schlechter. Es gibt das Selbstverständnis für den Beruf Soldat generell nicht mehr.“ Müller habe daher schon mehrere Male überlegt, einfach aus dem Dienst auszuscheiden: „Das Einzige, was mich hält, sind Kameradschaft und die Liebe zu meinem Land. Auch wenn das alles, wie zuletzt in Afghanistan, strategisch keinen Sinn macht.“
Für Harald Kujat könnte diese toxische Mischung in Zukunft zu ganz realen Risiken führen. Soldaten stünden eben in einem besonderen Treueverhältnis zu ihrem Staat. Wenn dieses Treueverhältnis von der Politik gebrochen wird und sie von den Medien und der Gesellschaft nicht anerkannt würden, könnte dies auf Dauer negative Auswirkungen auf ihre Motivation und Leistungsbereitschaft haben.
In Berlin und Potsdam kann man dieser Tage gut beobachten, wie diese Wertschätzung der Soldaten durch den Staat im Jahr 2021 aussieht. Seit 2014 gibt es in Potsdam in der Henning-von-Tresckow-Kaserne mit dem „Wald der Erinnerung“ einen Ort der Trauer für die in den Einsätzen verstorbenen Soldaten. Hier stehen auch die Ehrenhaine aus den Einsatzgebieten der Bundeswehr. Will man als Angehöriger oder Zivilist den gefallenen Soldaten hier gedenken, muss man derzeit ein aufwendiges Prozedere durchlaufen. Denn ohne vorige Anmeldung kann die Gedenkstätte als Zivilist nicht besucht werden. Man wird von einem Kraftfahrer am Kasernentor abgeholt und von einem Betreuer bei der Besichtigung auf Schritt und Tritt begleitet. 2020 besuchten daher lediglich 4000 Zivilisten den Ort.
In Dänemark gebe es viele Ehrenmale für Soldaten
Wer in der Hauptstadt den zentralen Ort der Trauer für im Dienst verstorbene Soldaten der Bundeswehr, das 2009 errichtete Ehrenmal im Botschaftsviertel, besuchen will, dem fällt auf, wie geschickt die Politik diese 120 Quadratmeter große Erinnerungsstätte in der Großstadt versteckt hat. Die Hildebrandstraße, in der das Ehrenmal an der Westseite am Zaun des Verteidigungsministeriums liegt, ist eine kleine Stichstraße ohne Parkmöglichkeit und jeglichen Publikumsverkehr abseits der großen Hauptstraßen. Von hier aus erreicht man nur die Hintereingänge der Häuser. Außer ein paar Botschaftsangestellte hat sich an diesem Dienstagmorgen nur eine dänische Familie hierher verirrt. Der Vater, Veteran der dänischen Streitkräfte, wundert sich über die Erinnerungskultur in Deutschland.
„Bei uns in Dänemark gibt es viele Soldatenfriedhöfe“, sagt seine Frau, „die liegen mitten in Kopenhagen und anderen Städten und sind ganz öffentlich zugänglich.“ Die kleine Familie, die gerade Urlaub in Berlin macht, kann nicht verstehen, warum Deutschland so mit seinen Soldaten umgeht. „In Afghanistan sind doch eure eigenen Bürger gestorben.“ In Dänemark würde sowas niemals so gehandhabt: „Bei uns werden ja die Gräber der deutschen Gefallenen aus dem Zweiten Weltkrieg besser geehrt.“
*Name geändert und der Redaktion bekannt
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