Seit 16 Jahren unterrichtet NRW-CDU-Chef Laschet an der RWTH Aachen. Dann geht ihm ein Stapel Klausuren verloren. Das Problem versucht er auf kuriose Weise zu lösen: indem er Noten einfach erfindet.
Armin Laschet will nur noch weg. Er will den Journalisten nichts sagen. „Sie bekommen eine Stellungnahme“, ruft er ihnen noch zu. Dann bringt er seinen prominenten Besucher zum Eingang des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Eigentlich wollte der CDU-Fraktionschef am Dienstagmorgen mit dem eigens angereisten Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), Michael Vassiliadis, den medialen Schulterschluss als Beschützer der Braunkohle-Industrie präsentieren. Doch längst geistert ein anderes Thema durch erste Regionalzeitungen und über die Flure des Parlaments.
Es geht um dubiose Noten für Klausuren, die Laschet als Lehrbeauftragter der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen an Studierende vergeben hat. Er hat deshalb sogar kurzerhand seine Lehrtätigkeit aufgegeben. Man will also unbedingt mehr wissen, doch auch als Laschet den Gewerkschaftschef verabschiedet hat und zur CDU-Fraktion wiederkehrt, weigert er sich, etwas zu sagen, und geht rasch in den schützenden Fraktionssaal. Die Kameras filmen einen Politiker auf der Flucht.
Man kann die brisante Geschichte mit einem zweiseitigen Brief beginnen. Laschet musste etwa zwei Dutzend angehenden Politikwissenschaftlern eine unangenehme Nachricht kurz vor Ostern mitteilen. Der ambitionierte Spitzenpolitiker ist seit 16 Jahren Lehrbeauftragter an der RWTH und räumte gegenüber seinen Studierenden am 27. März schriftlich ein, es seien Klausuren eines Berlin-Seminars „auf dem Postweg abhandengekommen“.
Der Stellvertreter von CDU-Parteichefin Angela Merkel erklärte seinen Studenten, die im Sommer 2014 das Thema „Europa in der Berliner Politik“ als einwöchiges Blockseminar absolviert hatten, eine scheinbar großzügige Idee. Er hatte es offenbar eilig, denn da stand: „Da die Klausur gut ausgefallen war, erschien uns eine Neuansetzung mit großem Abstand zum Seminar als keine gute, faire und sachgerechte Lösung.“
Laschet betonte dann seltsam ungelenk und mit dreifachem Hinweis: „Da ich mir zu jeder Klausur und auch zu jedem Seminar Noten mache, habe ich aus meinen und den Notizen der mich unterstützenden Co-Korrektorin Frau Lehrbeauftragte Dr. Mayssoun Zein Al Din anhand ihrer und meiner Notizen eine Rekonstruktion versucht. Dieses Verfahren war nicht optimal. Aber es war die beste Lösung, Ihnen, den Studenten, eine erneute Klausur zu ersparen.“ Für die Zukunft, merkte Laschet noch abschließend an, habe man vereinbart, „von allen Klausuren nach Abgabe durch die Studierenden Kopien anzufertigen, sodass ein Verlust auf dem Postweg in Zukunft definitiv ausgeschlossen ist“, heißt es im Schreiben, das der „Welt“ vorliegt.
Dieser zweifelhafte Verfahren ist Laschet, der sich gerade erfolgreich als Oppositionschef und Herausforderer von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) in NRW profiliert, zum Verhängnis geworden, denn aus Schreiben und Stellungnahmen des CDU-Politikers und der RWTH geht hervor, dass die Notenvergabe so einige Merkwürdigkeiten aufweist. Laschet benotete damals demnach auch Studenten, die diese Klausur gar nicht mitgeschrieben hatten; einem Studenten, der teilgenommen hatte, wiederum fehlte eine Note. „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Aachener Nachrichten“ habe diese anrüchige Notenvergabe herausgefunden und ein Beben in Politik und Hochschullandschaft in NRW ausgelöst.
Die Geschichte hatte schon einen Vorlauf
Der aufstrebende Christdemokrat steckt in der Bredouille, denn vieles klingt nicht nach einer seriösen Seminarführung. So teilte die angesehene, aber dadurch nun ebenfalls beschädigte RWTH auf „Welt“-Anfrage mit, da „keine Teilnehmerliste vorliegt, kann auch nachträglich nicht eindeutig festgestellt werden, welche Studierenden nicht nur am Seminar teilgenommen, sondern auch die Klausur mitgeschrieben haben“. Laschet „nahm noch vor der Rücksprache mit dem Prüfungsausschuss aufgrund seiner Notizen eine nachträgliche Bewertung vor, um zu verhindern, dass die Studierenden erneut eine Klausur ablegen mussten“.
Durch einen weiteren Brief wird die Angelegenheit noch brisanter: Zwei Monate vor Laschet schrieb die damalige Geschäftsführerin der Master Europastudien an der RWTH an die Studenten, die seit Sommer 2014 auf ihre Klausurnoten warteten: „Eine gute Nachricht: Ihre Klausurnoten liegen mir vor. Ich konnte inzwischen auch feststellen, dass keine Note fehlt. Eine schlechte Nachricht: Die korrigierten Klausuren sind zurück auf dem Postweg an die RWTH verloren gegangen.“ Sie müsse am kommenden Montag „noch weitere Unregelmäßigkeiten ausschließen“ und habe den gesamten Vorgang an den Prüfungsausschuss weitergeleitet, schrieb Holst.
Fast zwei Wochen später meldete sie sich wieder und schrieb den Studierenden, dass diese sich für die Anerkennung der Noten oder für eine Annullierung der Prüfung und somit eine Wiederholung der Klausur entscheiden könnten: „Entschuldigen Sie die Umstände – ich bin allerdings froh, dass wir dieses Problem bald gelöst haben werden“, schrieb die MES-Geschäftsführerin noch. Sie hatte sich offenbar zu früh gefreut. Denn dann kam ihr Laschet mit seinem Schreiben in die Quere. Die Geschäftsführerin musste den Studenten erneut schreiben.
Ihr Unmut über die dubiose Notenvergabe lässt sich herauslesen: „Wenn von Anfang an klar gewesen wäre, dass die Notenliste, die ich zugeschickt bekommen habe, eine Rekonstruktion ist, wäre alles auf eine sofortige Annullierung der Prüfung hinausgelaufen.“ Das „gesamte Notenszenario“ sei „doch wesentlich uneindeutiger als zunächst angenommen“. Trotz dieser problematischen Faktenlage habe der Prüfungsausschuss aus Rücksicht auf die Studenten von einer Annullierung der gesamten Prüfung abgesehen. „Da sich das Szenario aber natürlich noch einmal sehr verändert hat, steht es Ihnen nun frei, ihren Antrag auf Anerkennung der Note zu widerrufen“, teilte sie mit. Es handele sich allerdings um eine Nachschreibeklausur, bei der man sich auch verschlechtern könne.
Laschet soll keine Prüfungen mehr abnehmen
Sie erwähnte noch, man habe Konsequenzen aus dem „Schlammassel“ gezogen. Die Nachschreibeklausuren müssten im Original im Haus bleiben. Die Korrekturen dürften entweder im Uni-Büro erfolgen oder anhand von Kopien, die Laschet bereitgestellt werden. Außerdem werde man Seminare von Laschet nur noch als „Zusatzkurse ohne Prüfungsleistung“ anbieten.
Die Maßnahmen klingen nach einem umfassenden Vertrauensentzug. Für die rot-grünen Koalitionsfraktionen im Landtag ist diese brisante Notenvergabe eine Steilvorlage. SPD-Fraktionschef Norbert Römer spricht davon, dass Laschet „trickst und täuscht“ und den Ruf einer angesehenen Hochschule beschädige. Es seien noch „viele Fragen“ offen. Ein Lehrer, der sich so verhalten hätte, müsste mit einem dienstrechtlichen Verfahren rechnen, betonte Römer. Laschet sei jetzt „derjenige, der Offenheit an den Tag legen muss, der Fragen von Journalisten beantworten muss und nicht weglaufen darf“. Als Prüfungstermin für das Nachschreiben der für Laschet verhängnisvollen Klausur war der gestrige 2. Juni angesetzt. Es hatten sich drei Studenten angemeldet.
Just diesen 2. Juni hatte sich Laschet auch für seine Stellungnahme zur Affäre vorgenommen. Diese kommt spät an diesem Tag, aber sie kommt. Laschet betont darin, es sei alles mit der Hochschule abgesprochen gewesen. Der Christdemokrat gibt sich aber zerknirscht: „Bei allem gemeinsamen Bemühen um die beste Lösung für die aufgetretene Situation gilt: Der Verlust der Klausurunterlagen hätte nicht passieren dürfen und dies bedauere ich sehr.“ Der Versand per Post entspreche den Gepflogenheiten und habe zuvor nie zu Problemen geführt.
Laschet schreibt selbstkritisch, es „wäre bei der Dokumentation und Überstellung der Studienleistungen an die Universität eine größere Sorgfalt möglich und angemessen gewesen, auch und gerade meinerseits als verantwortlicher Lehrbeauftragter. Deshalb habe ich vollstes Verständnis für die bei einzelnen Studierenden aufgetretene Verärgerung.“