Die Suche der Grünen nach der richtigen Abwehrstrategie
Der Wahlkampf der Grünen schien perfekt zu laufen.
Dann kamen Vorwürfe gegen die Kandidatin –
und die Partei reagierte konfus. Eine Chronik.
Vor ein paar Wochen noch standen die Grünen glänzend da. Nach der Nominierung von Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin im April lag die Partei in Umfragen zeitweise vor der Union bei 28 Prozent.
Vieles schien möglich, eine historische Zäsur, eine neue Politik für ein anderes Deutschland. Eine junge Frau von Bündnis90/Die Grünen schien ins Kanzleramt zu streben nach 16 Jahren Angela Merkel, während sich die Union in einem Machtkampf zwischen CDU-Chef Armin Laschet und dem CSU-Vorsitzenden Markus Söder verzettelte und die SPD mit Spitzenkandidat Olaf Scholz in den Umfragen nicht von frustrierenden 15 oder 16 Prozent wegkam.
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Doch ein Vierteljahr nach Baerbocks perfekt inszenierter Kür zur Kandidatinund dem Verzicht des Co-Parteivorsitzenden Robert Habeck stehen die Grünen erst einmal vor einem Scherbenhaufen. Ein Vorwurf nach dem anderen prasselte auf Baerbock ein – ein geschönter Lebenslauf, zu spät gemeldete Nebeneinkünfte, Plagiate beim Verfassen ihres Buches.
Einiges war anfangs noch mit Entschuldigungen aus dem Weg zu räumen, doch die Partei wirkte zunehmend orientierungslos bei den Abwehrversuchen. Eine Kehrtwende folgte der nächsten – und vor der entscheidenden Phase des Wahlkampfs suchen nun die Grünen eine Grundlage, um noch einmal in die Offensive zu kommen.
Die Frage ist, ob das nach all dem, was passiert ist, noch gelingen kann.
Mitte Mai: Nachgemeldete Sonderzahlungen
Annalena Baerbock räumt „Fehler“ ein: Am 19. Mai wird bekannt, dass Baerbock der Verwaltung des Bundestags Sonderzahlungen von mehr als 25.000 Euro nachgemeldet hat, die sie in den Vorjahren als Bundesvorsitzende von ihrer eigenen Partei bekommen hatte. Den Großteil machte dabei Weihnachtsgeld aus. Darunter war aber auch eine coronabedingte Sonderzahlung aus dem Dezember 2020 in Höhe von 1500 Euro.
Nach Kritik nennt Baerbock es einen „Fehler“, die Sonderzahlungen zunächst nicht gemeldet zu haben. Sie habe „nicht auf dem Schirm gehabt“, dass auch das von ihrer Partei gezahlte Weihnachtsgeld der Bundestagsverwaltung gemeldet werden müsse, erklärt die damals noch designierte Grünen-Kanzlerkandidatin ihr Versäumnis. Sie habe dies jedoch unverzüglich nachgemeldet, sobald ihr dies klar geworden sei.
Anfang Juni: Geschönter Lebenslauf
Baerbock nennt Lebenslauf „sehr komprimiert“: Im Juni wird bekannt, dass Baerbock unscharfe und damit geschönt wirkende Angaben in ihrem Lebenslauf gemacht hat. So hatte sie auf ihrer Website unter Mitgliedschaften zunächst unter anderem die Transatlantik-Stiftung German Marshall Fund und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR aufgeführt. Später wurde die Seite geändert, die Überschrift lautet statt „Mitgliedschaften“ nun „Beiräte, (Förder-)Mitgliedschaften, regelmäßige Unterstützung“.
Baerbock wehrt sich in der ARD-Sendung „Farbe bekennen“ gegen den Vorwurf, sie stelle sich toller dar, als sie eigentlich sei. „Das hab' ich so nicht gemacht“, sagt Baerbock. Sie habe wichtige beruflichen Etappen und ihre Verbindungen zu Vereinen und Organisationen im Lebenslauf auf ihrer Website „sehr komprimiert“ dargestellt.
„Das war offensichtlich sehr schlampig“, sagt Baerbock. „Ich habe da offensichtlich einen Fehler gemacht, und das tut mir sehr, sehr leid, weil es ja eigentlich in diesen Momenten um große andere Fragen gerade in unserem Land geht.“
Sie finde es wichtig, zu Fehlern zu stehen und sich zu korrigieren. „Jeder Mensch macht Fehler im Leben.“ Sich nun zu verstecken oder zurückzuziehen, „das bin ich ganz und gar nicht“, sagt Baerbock. Sie macht klar, die Kanzlerkandidatur der Grünen nicht an Co-Parteichef Habeck abgeben zu wollen.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt stärkt Baerbock den Rücken. Fehler seien menschlich, der Umgang damit aber das Entscheidende, sagt sie. Die Glaubwürdigkeit der designierten Kanzlerkandidatin bleibe gewahrt, betont Göring-Eckardt. „Das ist ihre absolute Stärke, dass sie sich in den Wind stellt und dass sie sagt „ja, ich nehme es auch auf meine Haut und trotzdem mache ich weiter. Trotzdem kämpfe ich weiter um das, worum es jetzt geht“.
Ende Juni: Vorwürfe des Plagiats
Kellner nennt Plagiatsvorwürfe „Rufmord“: Ende Juni gerät die inzwischen vom Parteitag zur Kandidatin gekürte Baerbock in die Kritik, weil sich in ihrem Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ auffallende sprachliche Ähnlichkeiten zu anderen Veröffentlichungen finden. Der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber spricht von möglichen Urheberrechtsverletzungen.
Im Vergleich zu früheren Vorwürfen gegen Baerbock reagiert die Grünen-Parteispitze dieses Mal mit äußerster Entschlossenheit. In einer E-Mail an Unterstützer mit dem Betreff „Das ist Rufmord!“, schreibt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, es handle sich um eine Kampagne und schlägt vor: „Twittere selbst dazu oder retweete und zeige damit volle Solidarität mit Annalena!“
[Mehr zum Thema: Grünen-Chef im Aufwind :Wie Habeck von Baerbocks Schwäche profitiert (T+)]
Harte Kritik von CSU-Generalsekretär Markus Blume kontert Kellner äußerst empört. „Es ist erstaunlich, wie bereitwillig, sich Teile der CSU an Desinformationskampagnen beteiligen und den Rest an Anstand über Bord werfen“, erklärt Kellner. „Dass sich der CSU-Generalsekretär zum Helfershelfer einer dubiosen Kampagne macht, ist entlarvend.“
Fraktionschefin Göring-Eckardt versucht, Schärfe herauszunehmen und twittert: „Wir führen gern harten Wahlkampf (...). Aber hört auf mit diesem Schmutz. Demokratischer Wettbewerb hat auch mit Anstand zu tun.“
Baerbock selbst verteidigt sich am 1. Juli gegen die Vorwürfe. „Ich habe kein Sachbuch oder so geschrieben“, sagt sie bei „Brigitte live“. Sie habe ein Buch geschrieben, in dem sie deutlich machen wollte, wer sie sei und was sie antreibe. „ Aber da es kein Sachbuch oder wissenschaftliche Arbeit gibt, gibt es gar keine Fußnoten in diesem Buch“, sagt Baerbock.
Einen Tag später verteidigt Kellner den Umgang der Grünen mit den Plagiatsvorwürfen gegen Baerbock. Es würden „Kleinigkeiten aufgebauscht“, auch um von den wichtigen Fragen wie dem Klimawandel abzulenken, sagt er. Nachdem der Vorwurf der Urheberrechtsverletzung im Raum gestanden habe, habe die Partei ein „Stoppschild“ setzen wollen.
Am 5. Juli macht Kellner klar, dass Baerbock Grünen-Kanzlerkandidatin bleibe. „Wir gehen als Team, als grünes Team, gemeinsam in diesen Wahlkampf mit Annalena Baerbock an der Spitze“, sagt er.
Klar sei, dass jeder Kanzlerkandidat hart angegriffen werden würde, sagt der Bundesgeschäftsführer der Grünen. Er warnt aber vor Desinformationskampagnen. Zudem würden „Bagatellen aufgebauscht, um von den inhaltlichen Auseinandersetzungen, von den großen Fragen abzulenken“. Dahinter stecke möglicherweise die Sorge, dass andere Parteien hier „blasser“ dastehen könnten als die Grünen.
Baerbock nimmt die Kritik ernst: Zwei Tage später räumt Baerbock dann aber selbst einen Fehler ein. „Rückblickend wäre es sicherlich besser gewesen, wenn ich doch mit einem Quellenverzeichnis gearbeitet hätte“,sagt sie der „Süddeutschen Zeitung“. Sie habe für ihr Buch bewusst auf öffentlich zugängliche Quellen zurückgegriffen, gerade wenn es um Fakten gehe. „Aber ich nehme die Kritik ernst“, sagt Baerbock.
Gleichzeitig räumt sie auch Fehler in der Abwehrstrategie gegen die Vorwürfe ein. „Mehr als drei Jahre lang haben wir in der Partei, haben Robert Habeck und ich, intensiv daran gearbeitet, über eine andere Ansprache und Haltung Gräben zu überwinden“, sagt sie. Diese Art der Kommunikation werde in einem harten Wahlkampf auf die Probe gestellt, gerade wegen persönlicher Anfeindungen.
„Auch ich bin da kurz in alte Schützengräben gerutscht“, gibt Baerbock zu. „Dabei geht es mir um das Gegenteil: die großen Zukunftsfragen offen und breit zu diskutieren, hart und klar in der Sache, aber fair im Ton und offen für Argumente.“ So wolle sie Wahlkampf machen.
Kellner spricht von Fehlern im Wahlkampf: Am Tag darauf (8. Juli) räumt Bundesgeschäftsführer Kellner Mängel im bisherigen Wahlkampf der Grünen ein. „Es wurden Fehler gemacht, das ist offensichtlich“, sagt Kellner dem „Spiegel“. Gerade in harten politischen Auseinandersetzungen gelte es „auch selbstkritisch zu sein, immer mal wieder innezuhalten und zu überprüfen, wo man steht“.
Zu den Plagiatsvorwürfen gegen Baerbock sagt Kellner: „Kritik ist stets legitim, auch hier.“ Trotzdem seien das Kleinigkeiten „gemessen an den Herausforderungen unserer Zeit“.
Kellner verteidigt noch einmal die harte Reaktion auf die Vorwürfe, doch sagt auch: „Wir werden angriffslustig sein und uns wehren, wo nötig, aber nicht aggressiv oder respektlos sein.“
Habeck zeigt sich selbstkritisch: In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ räumt auch Co-Parteichef Habeck ein, dass die Grünen Fehler gemacht haben. Die letzten Wochen seien „kein Glanzstück“ gewesen, sagte Habeck.
„Diese Vorgänge waren für alle überraschend“, sagte Habeck zu den diversen Vorwürfen gegen Baerbock. „Hätten wir gewusst, dass an den Stellen solider hätte gearbeitet werden müssen, wäre da solider gearbeitet worden.“
Habeck sagt, es sei klar gewesen, dass „mit der Ausrufung einer Kanzlerkandidatin eine Personalisierung einsetzt“. Die Grünen hätten gehofft, diese Personalisierung nutzen zu können, um ihre Themen nach vorn zu stellen. „Insofern müssen wir uns unsere Fehler schon selber ankreiden.“
Es sei nicht die Aufgabe anderer, „uns davor zu schützen. Unsere Gegner dürfen uns kritisieren. Es ist Wahlkampf“. Aufgabe der Grünen sei es nun, sich auf ihre Stärken zu besinnen. „Und die sind: die Themen setzen, die Kontroverse einfordern,“ sagt Habeck. In den gut zwei Monaten bis zum Wahlabend am 26. September könne man klar machen, „dass Vertrauen in die richtige Politik die Abstimmung bestimmen sollte“. Er sehe noch große Chancen, „dieses kostbare Gut Vertrauen zu erwerben“.
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Ein Wechsel der Kandidatur von Baerbock zu ihm ziehe die Partei nicht in Erwägung. „Das ist Kokolores“, sagt Habeck. Er versichert: „Wir brauchen keinen Neustart.“ Man müsse „zu den Dingen zurückkehren, die uns in die Situation gebracht haben, überhaupt erst eine Kanzlerkandidatin zu benennen“.
Juli: Baerbocks Stipendium von der Böll-Stiftung
Baerbock will Stipendium prüfen lassen: Baerbock teilt am Samstag (10.7.) mit, die Vergabe eines Promotionsstipendiums an sie durch die Heinrich-Böll-Stiftung untersuchen lassen zu wollen. Baerbock hatte rund 40.000 Euro erhalten, bis sie ihre Arbeit an der Dissertation mit Einzug in den Bundestag einstellte. Bis dahin hatte sie nach Angaben der Stiftung für insgesamt 39 Monate Leistungen bezogen.
„Angesichts der Medienanfragen zum parteipolitischen Engagement und dem Promotionsstipendium hat Frau Baerbock die Heinrich-Böll-Stiftung gebeten, den nunmehr knapp zehn Jahre zurückliegenden Sachverhalt noch einmal zu betrachten“, teilt eine Grünen-Sprecherin mit.
Baerbock wird unter anderem vorgehalten, sie habe sich eingedenk ihrer vielfältigen politischen Tätigkeiten nicht in der für den Erhalt eines Stipendiums erforderlichen Weise ihrer Doktorarbeit widmen können. Die Grünen-Sprecherin bestreitet dies: Der „Hauptfokus“ der Politikerin, damals unter anderem Landesvorsitzende der Brandenburger Grünen, habe in diesen Jahren auf der Arbeit an ihrem Promotionsvorhaben gelegen.
In einem internen Papier mit Argumentationshilfen zum Wahlkampf, das Geschäftsführer Kellner und sein Team erarbeitet haben, betonen die Grünen unterdessen, vor allem auf die eigenen politischen Ideen und Inhalte setzenzu wollen.
Die Grünen wollten sich der Konkurrenz stellen, dabei aber das Augenmaß behalten. „Wir sind angriffslustig, aber nicht aggressiv“, heißt die Devise.