Eine kritische Bilanz: Merkels Versagen
Seit zwölf Jahren ist Angela Merkel nun Bundeskanzlerin. Mit dem vertrauenheischenden Spruch „Sie kennen mich“ warb sie vor vier Jahren für ihre Wiederwahl. Doch wer ist Merkel wirklich? Die Kanzlerin bleibt vielen Beobachtern rätselhaft. Was sind ihre echten Überzeugungen, was ist Opportunismus?
Für ihre Fans ist sie eine Lichtgestalt, ein politischer Riese. Ihre Zustimmungswerte in der Bevölkerung sind wieder hoch. Nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten schrieben einige Zeitungen gar, Merkel sei nun „die letzte Verteidigerin des freien Westens“. Aber je mehr man Merkels politisches Wirken näher untersucht, desto weniger strahlt der Heiligenschein, desto mehr schrumpft die Riesengestalt. Merkel ist eher ein Scheinriese.
Nach welchen Prinzipien macht sie Politik? Machterhalt steht weit oben. Die Physikerin aus der DDR ist eine Virtuosin der Machtpolitik, nach 1989, dem Wendejahr, hat sie eine kaum glaubliche Blitzkarriere gemacht, die sie ins höchste Regierungsamt führte. Wird sie im September wiedergewählt, wonach es aussieht, könnte ihre Amtszeit an die 16 Jahre Helmut Kohls heranreichen. Konrad Adenauer hätte sie an Kanzlerjahren übertroffen. Wie Kohl hat sie ihre innerparteiliche Macht zementiert.
Aber welche inhaltlich-weltanschaulichen Prinzipien vertritt sie? Merkel sagt von sich selbst: „Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal sozial.“ Darin schwingt Beliebigkeit mit. Merkels große Stärke ist ihre totale Wendigkeit und ideologische Flexibilität. Im Ergebnis hat sie die Union sozialdemokratisiert und vergrünt. Rot-Grün verzweifelt an dieser rot-grünen Kanzlerin. Der einst starke konservative Flügel der CDU ebenfalls, er ist fast völlig abgestorben. Die Union ist so weit in die (linke) Mitte gerückt, dass rechts neben ihr ein Vakuum entstand, in das eine neue Konkurrenzpartei gestoßen ist. Der wirtschaftsliberale Flügel hatte auch nicht allzu viel zu lachen. Von ordnungspolitisch klarer Politik ist unter Merkel wenig zu sehen.
Lässt man die Merkel-Jahre Revue passieren, findet man mehrere große Entscheidungen ohne Plan und abrupte opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für die gesellschaftliche Stabilität und den Wohlstand in Deutschland. Das von ihren Spin Doctors gezeichnete Bild einer Physikerin, die alle Dinge „vom Ende her denkt“, die quasi naturwissenschaftlich die Konsequenzen, Chancen und Risiken abwägt, ist Fiktion. Offensichtlich ist der Kontrollverlust in der Flüchtlingskrise. Aber auch in der Euro-Krise fehlte ihr die klare Sicht. Und mit der ruckartigen Energiewende hat sie ein industriepolitisches Abenteuer gestartet, dass sie planwirtschaftlich angeht. Der Ausgang ist ungewiss.
„Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben“, wird der Hauptslogan der CDU auf ihren Plakaten im Wahlkampf lauten. Vor allem die gute wirtschaftliche Lage Deutschlands, die rekordhohe Beschäftigung und die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung sollen beeindrucken. Das Land steht ökonomisch scheinbar glänzend da. Doch die Ursache der erfreulichen Arbeitsmarktentwicklung war nicht Merkels Politik, wie Stefan Kooths und Henning Klodt vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel erklären. Vielmehr hat Gerhard Schröders Agenda 2010 mit ihren radikalen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen den Weg dafür bereitet. „Merkel hat geerntet, was ihr Vorgänger Schröder säte, der dafür hohe politische Kosten trug“, urteilen die beiden Ökonomen.
An Merkel liegt es nicht, dass die deutschen Exportunternehmen so erfolgreich auf dem Weltmarkt sind – ihre Qualitätswaren passen perfekt zur globalen Nachfrage, besonders aus den Schwellenländern. Und nicht zuletzt schiebt die Europäische Zentralbank mit ihrer ultralockeren Geldpolitik die hiesige Konjunktur an. Den EZB-Nullzinsen verdankt auch Wolfgang Schäuble zu einem Gutteil seine „schwarze Null“ im Haushalt. Das EZB-Billiggeld beschert ihm jährlich eine zweistellige Milliardenersparnis, wogegen die Sparer, die fürs Alter vorsorgen, unter den Minizinsen leiden.
Unter Merkel wurde der Sozialstaat weiter ausgebaut, sie hat der wachsenden älteren Wählerschaft teure Rentengeschenke gemacht. Finanziert werden diese Ausgaben durch immer höhere Steuerzahlungen der Bürger, angefangen mit der großen Mehrwertsteuererhöhung. Seit 2005, dem Jahr von Merkels Amtsantritt, ist die Steuer- und Abgabenquote von 38,5 auf 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Von allen Industrieländern hat Deutschland (nach Belgien) die zweithöchsten Steuer- und Abgabenlasten, wie die OECD feststellt. Fast 50 Prozent werden vom Einkommen eines Durchschnittsverdieners abgezogen. „Deutschland ist eine Steuerhölle“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“.
Merkel trat einst, auf dem Leipziger Parteitag der CDU 2003, als neoliberale Reformerin an. Von ihren damaligen Reformkonzepten ist nichts mehr übrig, auch nicht von der damals versprochenen radikalen Vereinfachung und Senkung der Einkommensteuer (dem Bierdeckel-Konzept des Friedrich Merz). Jetzt stellt die Union den Bürgern zwar wieder eine Steuerentlastung in Aussicht. Doch auch vor den letzten zwei Bundestagswahlen wurden Steuersenkungen versprochen. In der Realität kam es anders. Der Historiker Daniel Koerfer, ein Ludwig-Erhard-Experte, wirft ihr vor, den wirtschaftsliberalen Geist Erhards nie richtig verstanden zu haben. „Ihr fehlt der ordnungspolitische Kompass.“ Das zeige sich in der Euro-Krise, der Energiewende und in der Migrationskrise.
Als die Deutschen eher widerstrebend in die europäische Währungsunion geführt wurden, beschwor die CDU das „No Bailout“-Prinzip als Sicherung gegen eine Schulden- und Transferunion. „Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen? – Ein ganz klares Nein“, hieß es auf einem CDU-Wahlplakat zur Europawahl 1999. Heute kann man darüber nur lachen. Die Kanzlerin leistete in der 2010 ausgebrochenen Euro-Krise zwar Lippenbekenntnisse zum „No Bailout“-Prinzip. Faktisch hat es aber eine Vergemeinschaftung der Schulden gegeben. Zum einen über die Rettungskredite, zum anderen über das Target-Zahlungssystem der Euronotenbanken, das zu einer gigantischen Maschine für Überziehungskredite zugunsten des Südens mutiert ist. 850 Milliarden Euro Forderungen hat die Bundesbank inzwischen. Erstaunlich ist, dass im Bundestag noch nie darüber debattiert wurde, wundert sich der britische Euroexperte David Marsh. Wie steht es generell um die demokratische Legitimierung der Rettungspolitik, die mit Druck durchs Parlament gepeitscht wurde?
Mit ihrem Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ hat sich Merkel darauf festgelegt, kein einziges Land aus der Währungsunion ausscheiden zu lassen. Griechenland wurde mit bislang drei Milliardenpaketen beinahe zu Tode gerettet. Die Euro-Rettung hat Europa aber nicht geeint, sondern gespalten: in Gläubiger und Schuldner, die erbittert über Rettungskosten und Sparauflagen streiten. Während das kleine Griechenland zu einem hohen Preis an Bord der Währungsunion gehalten wurde, hat Merkel vor dem Brexit-Votum erstaunlich wenig unternommen, um Großbritannien mit Konzessionen – etwa in der Zuwanderungsfrage – in der EU zu halten. War das die richtige Prioritätensetzung?
Zu einem Milliardengrab entwickelt sich die Energiewende. Nach dem Fukushima-Unfall im fernen Japan drehte die Kanzlerin ihre Politik um 180 Grad. Eben noch hatte sie die Atomlaufzeiten verlängert, nun kam der abrupte Ausstieg. Kein anderes Land der Erde folgte Deutschland auf diesem Weg. Wie teuer wird die Wende hin zu Erneuerbaren? Der frühere Umwelt- und heutige Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) taxierte die Gesamtkosten einmal auf eine Billion Euro; so viel brachte die Wiedervereinigung an neuen Schulden. Teuer wird die Energiewende vor allem deshalb, weil die Regierung auf eine Energie-Planwirtschaft setzt, stellt der Ökonom Justus Haucap fest. Der Staat gibt Preisgarantien für Solar- und Windstromanbieter, entwirft Ausbauziele und Quoten für die ferne Zukunft. Die Bürger werden über die Stromrechnung zur Kasse gebeten. Jeder Einwohner wird in den nächsten zehn Jahren 440 Euro jährlich zahlen. Insgesamt summieren sich die Kosten bis 2025 schon auf 520 Milliarden Euro.
Das Tragische dabei ist, dass die klimapolitische Wirkung der deutschen Energiewende praktisch gleich null ist. Keine einzige Tonne CO2 wird in Europa eingespart. Denn die Gesamtmenge der Emissionen ist durch den europäischen Zertifikatehandel gedeckelt. Was ein Land nicht verbraucht, übernimmt ein anderes. Die deutschen Milliardensubventionen für grünen Strom führen nicht zu einer Verringerung, nur zu einer Verlagerung der Emissionen. „Warum Merkel, die als Physikerin und kluger Kopf diesen Zusammenhang wohl verstanden haben wird, den teuren, klimapolitisch nutzlosen Irrweg nicht beendet, gehört zu den großen Rätseln“, wundert sich Haucap. Die Kanzlerin, die sich von den Medien als „Klimakanzlerin“ feiern ließ, ist auch auf diesem Feld eindeutig ein Scheinriese. Man könnte von Hochstapelei sprechen.
Merkel wird von vielen dafür gerühmt, dass sie stets, auch in den schwierigsten Situationen, einen kühlen Kopf bewahre. Was war im Herbst 2015? Damals gab sie das große Willkommenssignal, „Flüchtlings-Selfies“ gingen um die Welt, woraufhin Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten unkontrolliert nach Deutschland strömten. Grüne und Bahnhofsklatscher waren begeistert. Wie ein Hippie-Staat benahm sich Deutschland damals, sagte der britische Politologe Anthony Glees. Ein beispielloses Migrationschaos und ein staatlicher Kontrollverlust waren die Folgen. Merkels Popularität in den Umfragen ging in den Keller, als der Berg an Integrationsproblemen der Bevölkerung langsam klar wurde. Mit ihrem Alleingang in Sachen Grenzöffnung hat Merkel nicht nur CDU und CSU sowie Deutschland gespalten, sondern ganz Europa. Die Osteuropäer, zuvor Bewunderer Merkels, wandten sich von ihr ab.
In Großbritannien spielte das kontinentale Migrations-Chaos den Brexit-Befürwortern in die Hände. „Man kann mit guten Gründen annehmen, dass das knappe Brexit-Votum einen umgekehrten Ausgang genommen hätte, wenn Frau Merkel vorausschauend die Eskalation der Flüchtlings- und Migrationskrise im Herbst 2015 vermieden hätte“, meint Glees. Etwa, indem Deutschland großzügig ein paar Milliarden in eine bessere Ausstattung der Flüchtlingslager im Nahen Osten investiert hätte. Seit 2015 kamen rund 1,5 Millionen Asylbewerber hierher. Die Integrationsprobleme und -kosten für den Sozialstaat werden Deutschland noch über viele Jahre beschäftigen. Hat Merkel das alles „vom Ende her bedacht“, als sie die Parole „Wir schaffen das“ ausgab?
Was Merkel auszeichnet, ist nicht nur ihr Machtwille, sondern auch ihr politischer Stil der behaupteten Alternativlosigkeit. Bei alldem gibt sie sich bescheiden, demütig, einfach. „Zu ihrem Kult der Einfachheit gehört auch das Schweigen als Waffe. Es erstickt jede Debatte im Keim – ob innerparteilich, parlamentarisch oder kulturell“, analysiert der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz. „Viele empfinden dieses neue Biedermeier als durchaus angenehm. Mutti schwebt über den Parteien und behält mit der Raute das letzte Wort.“ In der Union wird nicht mehr offen diskutiert, seit Merkel dort herrscht. Kritiker der Euro-Rettung, Skeptiker der Energiewende, Gegner der unkontrollierten Massenimmigration – alle wurden an den Rand gedrängt. Die Union ist programmatisch entkernt und zum reinen Kanzlerin-Unterstützerverein mutiert.
Höchstwahrscheinlich wird Merkel im September abermals gewinnen. Doch sie hat den Zenit ihrer Macht überschritten. In der Endphase ihrer Kanzlerschaft werden die Konflikte zunehmen, auch in ihrer Partei. Zunehmend wird die Frage diskutiert, wer nach ihr kommt. Denn nichts und niemand ist alternativlos.