von Thomas Heck...
Meine Mutter sagte immer, wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um. Wahre Worte, die übertragen auf die Flüchtlingslage auf dem Mittelmeer genauso zutreffen. So tragen Flüchtlingshelfer genauso ihre Verantwortung für tausende ertrunkener Menschen, weil sie diese aufs Mittelmeer locken, wie die deutsche Politik, die immer neue Anreize schafft, wie aber auch die Flüchtlinge selbst, die meinen, mit Nussschalen das Mittelmeer überqueren zu wollen und sich selbst und selbst Kinder in höchste Gefahr bringen.
Deutsche Studentin auf einem Seenotrettungsschiff "Sie sind alle ertrunken"
Wenn Retter nicht retten dürfen: Maike J., 24, war zeitgleich mit der "Lifeline" auf einer Seenotrettungsmission. Hier berichtet die Medizinstudentin von ihrem Einsatz vor der Küste Libyens.
Wer es wagt, in einem Schlauch- oder Holzboot von Libyen aus das Mittelmeer zu überqueren, hat vier Möglichkeiten. Erstens: Die Überfahrt gelingt; das ist allerdings so gut wie unmöglich. Zweitens: Das Boot gerät in Seenot, kentert, die Insassen ertrinken; das passiert sehr häufig. Mehr als 1400 Menschen sind laut der Organisation für Migration auf diese Weise bereits seit Anfang 2018 tödlich verunglückt.
Drittens: Die libysche Küstenwache rettet die Flüchtlinge und bringt sie zurück nach Libyen, wo afrikanische Migranten immer wieder von Folter, Misshandlung oder Vergewaltigung besonders in illegalen Internierungslagern berichten. Viertens: Sie werden von einem Seenotrettungsschiff aufgenommen und mit dessen Hilfe nach Europa, zumeist nach Italien, gebracht. So war es in den vergangenen Jahren oft.
Kritiker werfen den Rettern vor, auf diese Weise die Schlepperbanden zu unterstützen. Seit dem Wahlerfolg von Rechtspopulisten und Nationalisten in Italien tobt derzeit zudem ein Streit über die Frage, wohin Gerettete in Zukunft gebracht werden - trotz insgesamt deutlich weniger Überfahrten im vergangenen und in diesem Jahr. Italiens neue Regierung hatte zuletzt mehreren NGO-Rettungsschiffen die Einfahrt in einen Hafen verwehrt, jetzt teilte der italienische Innenminister Matteo Salvini sogar mit, dass das Land keine im Mittelmeer geretteten Menschen mehr aufnehmen wolle.
Wegen der zunächst fehlenden Aufnahmebereitschaft anderer Mittelmeerländer trieben kürzlich bereits Hunderte Migranten tagelang auf dem Meer. Die "Aquarius" von Ärzte ohne Grenzen durfte schließlich nach Spanien, die "Lifeline" nach Malta. Dort steht der Kapitän der "Lifeline" jetzt vor Gericht. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, sein Schiff nicht ordentlich registriert und die Anweisungen italienischer Behörden ignoriert zu haben. Lesen Sie hier eine Rekonstruktion der Irrfahrt der "Lifeline". Am Wochenende gingen in mehreren deutschen Städten Tausende Demonstranten auf die Straßen, sie fordern sichere Fluchtwege und eine Entkriminalisierung der Seenotrettung.
Wie es auf einem Seenotrettungsschiff zuging, das zeitgleich mit der "Lifeline" vor Libyen war, berichtet hier eine deutsche Studentin. Sie ist gerade von ihrer Mission zurückgekehrt.
Zur Person
- Maike J., Jahrgang 1994, studiert Medizin und schreibt derzeit ihre Doktorarbeit. Im Juni nahm sie an ihrer ersten Seenotrettungsmission vor der Küste Libyens teil. Sie fuhr auf der "Seefuchs" mit, die zum deutschen Verein Sea-Eye gehört. 14.378 Menschen hat die Organisation mit ihren drei Schiffen bereits laut eigenen Angaben vor dem Ertrinken gerettet.
Ich stehe an der Reling der "Seefuchs", das Mittelmeer war noch nie so schön wie heute. Meine Wangen sind tränennass. In diesen Minuten ertrinken in unserer Nähe Menschen. Vor ein paar Stunden hatten wir eine Sichtung: Eine orangefarbene Rettungsweste trieb ruhig circa 300 Meter backbord auf der fast flachen See vor dem pinkrosa Sonnenuntergang. Die Weste war leer. Sie war klein, vielleicht eine Kinderweste.
Und wir können nicht helfen. Dürfen nicht helfen.
Als ich zehn Tage zuvor in Frankfurt in den Flieger nach Malta steige, fühle ich mich wie ein Kind, so naiv und hoffnungsvoll. Zwei Wochen auf einem Seenotrettungsschiff liegen vor mir, es ist mein erster Einsatz. Die "Seefuchs" ist ein vergleichsweise kleines Schiff, ein 60 Jahre alter ehemaliger Fischkutter aus DDR-Zeiten, der seit 2017 in den Diensten des deutschen Vereins Sea-Eye - und unter niederländischer Flagge - als Ersthelferschiff vor der libyschen Küste Flüchtlinge mit Schwimmwesten und Wasser versorgt, die auf ihren überfüllten Schlauchbooten zu kentern und zu ertrinken drohen.
Meine 13-köpfige Crew ist nett, schnell sind wir ein Team. Alle sind freiwillig und auf eigene Kosten hier: Ein Taxifahrer, ein Raffineriemechaniker in Rente, eine Münchener Journalistin, ein emeritierter Professor, ein Konditor und Optiker, eine Sozialpädagogin, ein Ingenieur aus Berlin, ein Bio-Science-Student, eine Studentin für Entwicklungshilfe, ein britisch-italienisches Pärchen, das Geschichte studiert, ein Arzt und ich.
Zunächst liegen wir noch im Hafen, schleppen 1008 Kilogramm Wasser, 30 Kilogramm Joghurt und andere Vorräte sowie Seile und medizinische Ausrüstung an Bord. Wir lernen zu funken, mit unseren Schnellbooten zu fahren und gewöhnen uns an den Gedanken, nicht zu duschen und nachts quer übers Deck zur Toilette zu wanken. Am ersten Abend überlege ich lange, wie ich das in Zukunft machen soll: Einfach abends nichts trinken? Oder versuchen, heimlich unter der Bettdecke in eine Flasche zu pinkeln? Unmöglich kann ich bei Seegang und Dunkelheit zur Toilette stolpern. Nach drei Tagen kann ich es.
Meine Koje ist die geräumigste, aber auch die lauteste, direkt am Lüftungsschacht. In den ersten Nächten schlafe ich schlecht, bin aufgeregt und nervös. In unseren Gedanken und Gesprächen sind wir schon vor der libyschen Küste, spülen Wunden, halten Paniken aus, hieven Leute, rufen, brüllen, haben Angst, sind gefordert und überfordert.
Dann geht es endlich los. Nach 30 Stunden erreichen wir unser Einsatzgebiet. Die "Aquarius" und die "Sea-Watch" sind schon nicht mehr hier. Wir sind, zusammen mit der "Lifeline" aus Dresden, die einzigen Seenotrettungsschiffe vor Ort für ein Gebiet, dessen Durchquerung circa zwanzig Stunden dauert.
In den letzten Monaten haben es einige wenige Schlauchboote 40 Seemeilen hinausgeschafft, bevor sie gerettet wurden. Die meisten gingen bereits knapp hinter der Zwölf-Seemeilen-Grenze, die libysches Gewässer markiert, zu Bruch. Motor kaputt, Schläuche nicht mehr dicht, Benzin ausgelaufen. Wie soll man das Mittelmeer mit einem solchen Schlauchboot überqueren? Wie verzweifelt muss man sein, um sein Leben auf dieses Los zu setzen? Warum sollte jemand, der Leben retten kann, es nicht tun?
Das Meer wird ruhiger. Seevögel folgen unserem Schiff in kleinen Schwärmen. Henry, der Konditor, backt Apfelkuchen. Unser Tagesprogramm: Wache halten, das Schiff manövrieren, putzen, Gemüse schneiden, Knoten lernen, Logbuch führen, anderen Schiffen ausweichen, unsere Maschine ölen. Während der Wachen unterhalten wir uns, lachen über missglückte Tinder-Dates, zeigen Fotos herum, von unserem normalen Leben, dem Garten, dem Partner, der letzten Reise.
So wie die See jeden Tag ruhiger und friedlicher wird, steigt in der Crew die Spannung. Je besser das Wetter, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Boote von der libyschen Küste starten. Große Schlauchboote mit einem Motor. Die Frauen und Kinder werden meistens in der Mitte und vorne am Bug platziert, die Männer außen auf den Schläuchen. Die meisten von ihnen können nicht schwimmen. Wer kentert, ertrinkt oft schnell.
Der Taxifahrer kocht köstlich. Es ist Sonntag, der dritte Tag der Mission, und wir essen mitten auf dem Mittelmeer unter strahlender Sonne Schweinebraten mit Gemüse und Kartoffeln. Am Abend um kurz nach elf kommt der erste Funkspruch. Die "Seagull", ein Aufklärungsflugzeug, meldet eine Position: "Ein Schlauchboot, ungefähr 120 Menschen an Bord, aus dem Bug ist bereits die Luft raus, der Motor funktioniert wahrscheinlich nicht mehr. Ein großes Schiff ist in der Nähe."
Das Schlauchboot befindet sich innerhalb der 24-Seemeilen-Zone, wo Libyen noch über zahlreiche Kontrollrechte verfügt. Wir kreuzen 30 Seemeilen vor der Küste, fahren selten bis 28 Seemeilen an die Küste heran. Und in die 24-Meilen-Zone bewegen wir uns nur nach Absprache mit unserem Verein und dem Maritime Rescue Coordination Center Rom (MRCC), der Seenotrettungsleitstelle für die Seegebiete rund um Italien, bei der alle Notrufe eingehen und die alle Rettungseinsätze koordiniert.
Wir machen uns einsatzbereit, Schwimmwesten, lange Hosen, Stirnlampen. Sampo, unser Kapitän, funkt mit dem MRCC für weitere Anweisungen. Doch deren Antwort ist nur: "Nein, von uns gibt es keinen Auftrag. Fragt die Libyer um Erlaubnis."
Verwirrung. Wie stellt sich das MRCC das vor? Wir arbeiteten nicht für die Libyer. Wir haben keinen Kontakt. Obwohl das internationale Seerecht dazu verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten, sollen wir nur mit einer klaren Anweisung des MRCC Menschen auf ihren Booten versorgen und im Notfall bei uns aufnehmen. Denn sonst kann es passieren, dass wir keine Hilfe geschickt bekommen, keinen Hafen finden und uns die Geretteten nicht abgenommen werden.
Wir fahren an die 28-Meilen-Linie und lauschen dem Funk. Wir sind uns sicher: Das MRCC wird sich noch mal melden. Sagen, dass sie mit den Libyern gesprochen hätten. Dass wir an die aktuelle Position des Schlauchbootes fahren sollen. Oder dass wir dem großen Tanker, der in der Nähe wartet, assistieren sollen.
Es passiert nichts. Sampo schickt uns nach unten, wir sollen uns noch etwas ausruhen. Nach einer Stunde schleiche ich zurück auf die Brücke, werfe einen Blick auf unser Navigationssystem: Wir fahren in die falsche Richtung. "Der Einsatzleiter hat angerufen", sagt Sampo. "Das MRCC wird uns nicht mehr kontaktieren, Kontakt mit den Libyern ist ausgeschlossen. Wir sollen die Zone wieder verlassen." Dass das MRCC nicht vermittelt und dass die Libyer sich nicht melden, ist eine neue Entwicklung.
Der Tanker. Er wird retten. Laut Navigation ist er nur fünf Seemeilen von der ursprünglichen Position des Schlauchboots entfernt. Er hatte gefunkt, der Name war schlecht verständlich, "Bob Marley" oder so ähnlich. Warum fahren sie nicht näher?
Müsli und Orangensaft zum Frühstück. Die Nachtwache berichtet, dass sich "Bob Marley" um halb vier Uhr morgens langsam von seiner Position entfernt habe. Im Funk sei das Schlauchboot nicht mehr erwähnt worden. Niemand hat gerettet. Peter kann es abends nicht mehr unterdrücken: Warum sind wir nicht einfach ungehorsam gewesen? 120 Menschen. Wir sind weggefahren.
Am nächsten Tag ist die Stimmung wieder besser. Es ist Fluchtsonnenschein und Fluchtwindstille. Es wird eine Fluchtnacht werden. Auch wenn es pervers klingt, solche Gedanken kommen in solchen Momenten: Wenn nicht diese Menschen, dann wenigstens andere retten.
Ich soll von zwei bis fünf Uhr morgens Wache halten, gehe daher früh schlafen. Um 23 Uhr weckt mich Carlotta: Die ganze Crew soll sich versammeln, Sampo hat einen Anruf bekommen. "Es ist ernst", sagt unser Kapitän. "Wir haben unseren Flaggenschutz verloren."
Was war passiert? Der italienische Verkehrsminister Danilo Toninelli hatte über soziale Netzwerke Zweifel daran angemeldet, dass die "Seefuchs" ordnungsgemäß registriert sei. Unser Verein kontaktierte unseren Flaggenstaat, die Niederlande, um sich zu erkundigen, was es damit auf sich hat. Die Niederlande teilten zwei Tage später mit, dass uns kein Schutz gewährt würde.
Wir seien Piraten, twitterte daraufhin der italienische Innenminister Matteo Salvini und kündigte an, die "Seefuchs" und die "Lifeline" zu beschlagnahmen und die Crews festzunehmen. Sind wir jetzt überhaupt noch versichert? Dürfen wir noch in einen Hafen einlaufen?
So können Sie Flüchtlingen helfen
"Bring die Maschine auf ihr Maximaltempo", ruft Sampo. "Wir fahren jetzt durch. Wir wollen versuchen, so schnell wie möglich nach Malta zu kommen, um dort noch im Hafen von Valletta anlegen zu können." Die "Lifeline" nimmt in dieser Nacht 234 Menschen an Bord, mit denen sie danach fast eine Woche keinen Hafen findet, der sie aufnimmt und deren Kapitän nun sogar vor Gericht steht.
Auf dem Weg nach Malta bekommen wir einen Funkspruch: 220 Menschen in einem Holzboot, dort, wo die "Seefuchs" eben noch gelegen hat. Wir fahren nicht zurück. Niemand fährt zu ihnen. Später werden wir erfahren: Sie sind alle ertrunken.
In der nächsten Nacht um zwei Uhr morgens machen wir in Malta fest. In Sicherheit.
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