Dienstag, 6. September 2022

Sind Historiker bald Verfassungsfeinde?

von Mirjam Lübke...

Wenn einen etwas auf die Palme bringen kann, dann ist es das Herumreiten auf einem Detail der eigenen Argumentation, das aber mit den deutlich sichtbaren Tatsachen, welche gerade besprochen werden, rein gar nichts zu tun hat. Nehmen wir einmal an, jemand hätte meine Einfahrt zugeparkt. Das Auto steht dort deutlich sichtbar. Vielleicht hat mein Nachbar dem Falschparker die Information gegeben, er dürfe sich ruhig dort hinstellen - oder aber derjenige ist selbst darauf gekommen. Der Unterschied ändert etwas daran, auf wen ich sauer sein werde, aber meine Einfahrt bleibt zu. Dieses Faktum existiert, die Frage, wie ich damit umgehen darf, ist erst der nächste Schritt. Genauso verhält es sich mit der NATO-Osterweiterung.
 


Am Sachverhalt an sich ändert es nichts, ob die beteiligten Staaten sich dem Bündnis auf eigenen Wunsch angeschlossen haben oder aktiv dazu aufgefordert wurden. Die Erweiterung ist da. Man kann darüber diskutieren, ob das legitim ist, dazu muss man sich allerdings erst einmal tiefer in die Materie einarbeiten, zum Beispiel in das Thema, was im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung zwischen den beteiligten Großmächten besprochen wurde. Auch die Frage, welche Reaktion Russlands darauf angemessen ist, stellt erst den nächsten Schritt dar. Um noch einmal auf den sicherlich hinkenden Vergleich mit der zugeparkten Einfahrt zurückzukommen: Zwar mag es mich gelüsten, das Auto des Übeltäters mit einem Bulldozer aus dem Weg zu räumen - Freunde mache ich mir damit nicht und handele illegal. Andererseits muss ich es aber auch nicht klaglos hinnehmen.

Der Verfassungsschutz warnt nun davor, dass auf regierungskritischen Demonstrationen die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges zum Thema gemacht wird, so etwa die Rolle der NATO darin. Natürlich kann man bestreiten, dass es eine gezielte Osterweiterung gegeben hat, wenn man der Meinung ist, Putin sei der Alleinverantwortliche für den Konflikt. Dann sollte man seine Argumente in den Ring werfen und die Diskussion eröffnen. Aber allein das Anzweifeln der offiziellen Version als verfassungsrechtlich bedenklich zu erklären ist unlauter. Man verschanzt sich hinter dem Grundgesetz, um die Meinungsfreiheit einzuschränken, eine Taktik, die wir schon bei den Corona-Protesten gesehen haben. Nur erklärte man die Demonstranten damals als Gesundheitsgefahr für die Gesellschaft - womit eine ähnliche Wirkung erzielt werden sollte: Das sind Leute, von denen man besser fernhält, wenn man nicht selbst als infektiös gelten will.
 
Schon der Einsatz des Moralholzhammers macht misstrauisch. In den letzten Jahren habe ich oft den Eindruck gehabt, dass generell gewisse historische Diskussionen heute nicht mehr so offen geführt werden können wie noch zur Zeit meines Studiums. Die Ergebnisse einer Forschung scheinen heute bereits vorab festgelegt zu sein. Und die vorgegebene Moral behindert die Formulierung provokanter Thesen. Über manche davon haben wir uns auch damals schon empört, aber das regte den Disput eher an, als ihn lahmzulegen. Nimmt man die Behauptung des Verfassungsschutzes ernst, dann wäre jeder Historiker mit abweichender Meinung ein Staatsfeind. Dabei denke ich immer auch an den Satz "Um zu begreifen, warum das dritte Reich funktioniert hat, muss man auch sehen, was Hitler richtig gemacht hat". Ich zitiere hierbei Sebastian Haffner aus dem Gedächtnis, der 1938 aus Deutschland emigrierte und gewiss ein Gegner des Nationalsozialismus war. Allerdings wusste er, dass man sich für eine sachliche Analyse nicht nur auf moralische Belange verlassen kann. In diesem Fall ging es darum, wie es Hitler gelungen war, die Illusion einer florierenden Wirtschaft zu schaffen, was ihm half, die Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Eine wichtige Analyse, wenn man bedenkt, wie schnell Menschen auch heute bereit sind, ihre Freiheit für eine vermeintlich lohnende Gegenleistung aufzugeben. Zwar kann man etwa den Lockdown nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichen - aber heißt es nicht "Wehret den Anfängen"? Dazu muss man die Anfänge auch erkennen können - und zwar selbständig, sonst kann es schon zu spät sein.
 
Heute würde man aus Haffners Satz nur herauslesen "Hitler hat etwas richtig gemacht" - und vor lauter Empörung gar nicht mehr zuhören, warum er der Frage nachging, nämlich zur Entlarvung des Systems aus Zuckerbrot und Peitsche, wobei es für die einen beides gab, für die Gegner aber nur letzteres. Wenn ich nur in reinen schwarz-weiß-Schemata denken kann, entgeht mir viel Strukturelles, was hilft, historische Abläufe zu verstehen. Es steht mir frei, alles auch moralisch zu werten - manchmal fällt die Bewertung dann sogar härter aus, wenn einem auffällt, wie ausgeklügelt derlei Unrechtsregime aufgebaut sind.

Auf die jetzige Situation bezogen ist es sicherlich legitim, Putins Verhalten zu verabscheuen. Man kann auch Selenskijs Verhalten kritisieren, ohne zum "Russenfreund" zu werden, mich persönlich stört das penetrant fordernde Verhalten ukrainischer Offizieller, geradezu, als wären wir dort einmarschiert. Die an uns gerichtete Propaganda wirkt wie maßgeschneidert für das deutsche Gemüt - und funktioniert! So gut, dass unsere Außenministerin vergisst, welches Land ihr Arbeitgeber ist.
 
Über all das muss man öffentlich sprechen können, wenn es denn tatsächlich beim Sprechen bleibt. Niemand darf dafür kriminalisiert werden, über etwas nachzudenken. So egal scheint die Meinung des Volkes wohl doch nicht zu sein - allerdings führt das bei der Bundesregierung nicht zum Nachdenken zu führen, sondern lediglich zu Verbotsreflexen. Eine merkwürdige Reaktion, wenn man doch angeblich die Demokratie bewahren will.




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