Dienstag, 8. April 2025

Das Sanitäter-Massengrab-Massaker …und was wirklich passiert ist

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Seit dem vergangenen Samstag habe ich überraschend viele Anfragen zu dem „gefundenen Massengrab“ bei Rafah bekommen, per Mail, in Kommentaren und sogar von zwei anderen Content Creators. Noch in der Nacht habe ich angefangen mich im Hotel sitzend einzuarbeiten.

Die Story geht so:
Israel hat willkürlich 15 unschuldige palästinensische Sanitäter erschossen. Und das danach verschleiert, indem die Leichen und sogar Fahrzeuge in einem Massengrab versteckt wurden. Dieses Massengrab wurde jetzt gefunden.

Das ist zumindest die Punch Line. Nur wer hinsieht, wird merken, dass an der Geschichte einiges nicht stimmen kann.
Um das vorweg zu nehmen: Ja, die israelischen Soldaten haben Palästinenser erschossen. Das hat Israel aber auch nie bestritten.

Und um auch das vorweg zu nehmen: Die IDF (Israel Defence Forces) haben nicht willkürlich auf Krankenwagen geschossen oder palästinensische Sanitäter „exekutiert“. Und auch nichts versteckt. Was die palästinensische Propaganda inzwischen daraus gemacht hat. Und was die Medien zumindest so ähnlich erzählen.

Die Geschichte um das, was vor drei Wochen in Tel Sultan bei Rafah an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten passiert ist, wird von jedem anders erzählt. Im eigenen Sinne.
Also versuchen wir, wie Theseus aus dem Labyrinth zu finden. Folgen wir dem Ariadnefaden. Seien wir Hercules Poirot.

Zunächst werde ich die Meldungen chronologisch aufarbeiten.
Dann werde ich erklären, was ich schnell glaubte (und bis jetzt glaube), was tatsächlich passiert ist.
Dann werde ich die aktuellste Stellungnahme der israelischen Streitkräfte darlegen. Über die zwar in den Medien berichtet wurde, die aber merkwürdigerweise nicht inhaltlich wiedergegeben wurde.
Und zum Schluss werde ich einige Fragen aufwerfen, deren Beantwortung eigentlich zwingend notwendig ist, um den Vorfall beurteilen zu können.

Es wird also lang.

Drei Anmerkungen vorab.

Zunächst bin ich neutral, soweit man das überhaupt sein kann.
Als Auswerter bin ich bin empirisch-wissenschaftlich unterwegs. Ob mir das Ergebnis gefällt, oder nicht.

Zum zweiten berichten die Medien und die NGO üblicherweise aus der Perspektive der Zivilisten. Ich vertrete die Perspektive der Soldaten.

Zum dritten wollte ich das Thema im nächsten Newsletter für Mitglieder besprechen. Nachdem immer mehr Anfragen kamen und das Interesse auf Social Media zunahm, habe ich mich entschlossen, es als Werbegeschenk ohne Bezahlschranke zu veröffentlichen.

Timeline vor dem Video

Uhrzeiten jeweils mitteleuropäische Zeit.

Am Sonntag, dem 23.03.25, wurden im Morgengrauen mehrere Palästinenser in Tel Sultan bei Rafah von Soldaten der IDF erschossen.

23.03.25, 06:37h

Das Palestine Red Crescent meldet auf X, dass mehrere Mitarbeiter von der IDF „belagert“ werden.
Wir werden später sehen, dass sich der Vorfall gegen sechs Uhr ereignet hat. Die Organisation war also sehr zeitnah informiert.
Bei dem Roten Halbmond Palästina (PRCS) handelt es sich um einen Teil des Roten Kreuzes. Die Mitarbeiter sind Palästinenser.

Die Resonanz war vergleichsweise gering.

Screenshot des Postings

In den kommenden Tagen wird der Rote Halbmond täglich Postings dazu veröffentlichen. Es spricht mal von acht Vermissten, mal von neun, mal von zehn. Später wieder von acht.
Die IDF werden grundsätzlich als „Besatzer“ bezeichnet, die Getöteten als „Märtyrer“.

30.03.25, 23:15h

Jonathan Whittall, der Chef des Büros des OCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) veröffentlicht ein Thread auf X. Mit Fotos und Video, welche die Bergung der Getöteten zeigen.

Screenshot des Postings

Er spricht von fünf Ambulanzen, einem Feuerwehrfahrzeug, 10 Mitgliedern des Roten Halbmondes und sechs Mitarbeitern des Zivilschutzes. Letzterer gehört zur Hamas.
Ebenso spricht er von einem später hinzugekommenen Fahrzeug der UN.

Whittall spricht hier bereits von einem Überlebenden. Er ist auch der erste, der von einem „Massengrab“ spricht.
Darüber hinaus beschreibt er, dass die Fahrzeuge völlig zerstört und teilweise begraben sind.

Foto der Trümmer

Hinweis: Whittall schreibt, Ersthelfer sollten niemals ein Ziel sein. Das ist völlig richtig.
Es ist in seiner Absolutheit, die häufig vertreten wird, aber irreführend.
Alle Nicht-Kombattanten unterliegen einem völkerrechtlichen Schutz. Handeln sie als Kombattanten, verlieren sie diesen Schutz. Ebenso können sie zu Kollateralschäden werden.
Eine Sanitäter-Weste ist ebenso wenig ein Freibrief, wie eine Weste mit dem Aufdruck „PRESS“. Es ist nur ein geringer Schutz.

31.03.2025, 15:25h

Philippe Lazzarini, Kommissar des Palästinenserhilfswerkes, veröffentlicht ein Posting auf X.
Er erklärt, die Leichen von „zwei weiteren“ Mitarbeitern des UNRWA seien „gestern“ geborgen worden. Zusammen mit acht Mitgliedern des Roten Halbmondes.

„Ob an der Front oder in ihrem zu Hause mit ihren Familien, Zivilisten müssen jederzeit geschützt werden.“
Wie oben erklärt ist diese Aussage so falsch.

31.03.2025, 18:08h

Der Account des UNRWA teilt das Posting des Chefs und verfasst nochmal ein eigenes Posting mit dem identischen Text.

Alle Ersthelfer seien in flachen Gräbern „achtlos entsorgt“ („dicarded“) worden.
Ersthelfer, Journalisten oder humanitäre Helfer zu bekämpfen sei eine abscheuliche und ernste Missachtung des internationalen Rechts. (Siehe Anmerkung oben.)

Hinweis: Das UNRWA wird als internationale Organisation wahrgenommen. Tatsächlich sind höchstens drei Prozent der Mitarbeiter international. Eher weniger. Wie der Leiter Lazzarini, der in Brüssel sitzt und inzwischen Einreiseverbot in den Gazastreifen über Israel hat.
Das bedeutet, das palästinensische Hilfswerk der UN ist eine palästinensische Organisation. Über die enge Bindung zur Hamas und den vielen UNRWA-Mitglieder, die auch Mitglieder der Hamas oder des Islamischen Dschihad in Palästina waren, habe ich ebenso häufig berichtet, wie über Kommandozentralen und sogar Waffenfunde in Schulen des UNRWA. Letztere sind der UN seit spätestens 2014 bekannt. Ohne Konsequenzen. Die UN weiß seit zwanzig Jahren, dass Mitarbeiter des UNRWA Mitglieder der Hamas sind und hat nichts dagegen.

31.03.2025, 19:32h

Oberstleutnant Nadav Shoshani, Sprecher der IDF, antwortet auf das Posting des UNRWA auf X.
Aufgrund der Tragweite gebe ich diese Antwort wörtlich wieder:

„Die IDF hat am 23. März keinen willkürlichen Angriff auf einen Krankenwagen durchgeführt. Ich schildere die Geschehnisse Schritt für Schritt:

1. ⁠Am vergangenen Sonntag wurden mehrere unkoordinierte Fahrzeuge gesichtet, die sich ohne Scheinwerfer und Warnblinkanlage verdächtig auf IDF-Truppen zubewegten. IDF-Truppen eröffneten daraufhin das Feuer auf die verdächtigen Fahrzeuge. Zuvor waren bereits Fahrzeuge, die nicht Terroristen gehörten, koordiniert auf derselben Route vorbeigefahren.

2. ⁠Nach einer ersten Einschätzung wurde festgestellt, dass die Streitkräfte einen Hamas-Militäraktivisten, Mohammad Amin Ibrahim Shubaki, der am Massaker vom 7. Oktober beteiligt war, sowie acht weitere Terroristen der Hamas und des Islamischen Dschihad eliminiert hatten.

3. ⁠Nach Abstimmung zwischen der IDF und internationalen Organisationen wurde die Evakuierung der Leichen durchgeführt. Es ist wahrlich keine Überraschung, dass Terroristen erneut medizinische Einrichtungen und Ausrüstung für ihre Aktivitäten missbrauchen. Wenn Terroristen in einem aktiven Kampfgebiet agieren, werden wir alles tun, was nötig ist, um unsere Zivilisten und Truppen zu schützen.“

Screenshot des Postings

Hier wird bereits erwähnt, dass die IDF die UN über den Verbleib ihrer Leute informiert hatten. Dies wird später mehrfach wiederholt. Und ist indirekt auch durch Jonathan Whittall bestätigt. Zudem veröffentlichte der Rote Halbmond bereits am 28.03.25, dass man versucht hätte, mit der UN den Bereich zu betreten und von den IDF abgehalten worden wäre. Man wusste also, wo die Getöteten sind.

Screenshot des Postings des Roten Halbmondes

Dennoch findet das in der Berichterstattung der Medien und Stellungnahmen der Palästinenser keine Erwähnung. Obwohl auch Jonathan Whittall von der UN am Tag zuvor erwähnt, dass der Bereich weiterhin unter Kontrolle der IDF ist, mit der man sich über die Bergung austauscht.
Stattdessen wird von den nun einsetzenden Propagandisten das Narrativ verbreitet, die IDF hätten die Leichen und die Fahrzeuge verstecken wollen. Trotz eines Überlebenden.

Zu Missverständnissen hat die Formulierung „unkoordiniert“ geführt.
Damit ist keineswegs der Fahrstil der Fahrzeuge gemeint. Sondern dass der Konvoi vorher nicht bei den IDF angemeldet, also mit diesen „koordiniert“ war. Das ist gängige Praxis seit dem Beginn der Bodenoffensive.

01.04.2025, 04:59h

Die Times of Israel berichtet. Die Story gewinnt Reichweite.
Zitiert wird Tom Fletcher, der Chef der UN-Hilfe.
Bemerkenswert: Fletcher zitiert und repostet lediglich den Beitrag von Jonathan Whittall. Dieser wird aber nicht als Quelle Fletchers angegeben, wie es korrekt wäre. Er wird einfach später nochmal zitiert. Ebenso wie alle anderen bereits angesprochenen Postings.

Darüber hinaus wird Jagan Chapagain, der Chef des Roten Kreuzes zitiert. Die Sanitätsfahrzeuge seien deutlich markiert gewesen.
Alle diese Personen waren nie selber vor Ort. Es sind Sprecher oder politische Akteure, die irgendwo auf der Welt sitzen. Das bedeutet, sie haben lediglich die Informationen, die ihnen von den Palästinensern vor Ort gegeben werden.

Der Guardian greift die Geschichte auf. In der Schlagzeile: die Getöteten hätten die Hände gefesselt gehabt. Mehrzahl.

Screenshot des Beitrags des Guardian

Zitiert wird u.a. ein Dr. Ahmed al-Farra, ein führender Arzt beim Nasser Krankenhaus in Chan Junis, der die Leichen hat ankommen sehen.
„Sie hatten Kugeln in der Brust und im Kopf. Sie wurden exekutiert. Sie hatten ihre Hände gefesselt.“

Er beweist dies laut Guardian mit Fotos, auf denen eine Hand (!) zu sehen ist, an der eine schwarze Kordel ist. Wem gegenüber er diese Fotos gezeigt hat, wird nicht erklärt. Mitarbeiter des britischen Guardian waren sicher nicht im Gazastreifen.

Das ist die einzige Quelle, die ich ausmachen konnte, die die Behauptung vertritt, die Sanitäter – oder einer von ihnen – sei gefesselt gewesen. Viele werden diese Aussage wiederholen.
Nicht erklärt wird, dass Dr. Ahmed al-Farra als „senior doctor“ mindestens gute Kontakte zur Hamas haben muss. Denn sie bezahlt sein Gehalt und ohne ihr Wohlwollen wird man im Gazastreifen kein „senior doctor“.

Ein anonymer Zeuge sagte ebenfalls, die Leichen hätten mehrere Kugeln in der Brust und teilweise im Kopf gehabt. Sie seien exekutiert worden.
Die Frage, wie sich Leichen aus einem Gefecht von Exekutierten unterscheiden, hinterfragt der Guardian nicht.

Ab diesem Zeitpunkt werden alle Berichte mit den Fotos der Beerdigung der geborgenen Sanitäter versehen. Diese wurde in Chan Yunis durchgeführt, eine große Menschenmenge hatte sich versammelt und es waren ausreichend Kameras zugegen. Auch das Titelbild dieses Beitrags stammt daher.

03.04.2025 10:39h

Oberstleutnant Nadav Shoshani ergänzt die oben genannte Veröffentlichung mit dem Hinweis, dass die Untersuchung des Vorfalls für weitere Ermittlungen an den Stab der IDF übergeben wurde.

„Die israelischen Streitkräfte legen größten Wert auf die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den im Gazastreifen tätigen internationalen Organisationen und stehen in regelmäßigem Kontakt mit ihnen.“

03.04.2025 12:39h

Die Times of Israel veröffentlicht dazu einen kurzen Hinweis.

Es wird deutlich, dass die Times of Israel lediglich die Postings auf X abarbeitet und zitiert. Etwas, was jeder Laie selber tun könnte.
Eine eigene Rechercheleistung ist zu diesem Zeitpunkt (und weitestgehend danach) bei keinem einzigen Medium zu erkennen. So funktionieren Nachrichtenmedien heute, ich würde behaupten zu über 90%.

04.04.25 (Update 05.04.2025 08:56h)

Die New York Times veröffentlicht einen Beitrag und ein Video, dass den Vorfall zumindest in Teilen zeigt. Da der Beitrag selber hinter Bezahlschranke ist, kann ich ihn nur in Teilen rezitieren.

Screenshot des Beitrags

Das Video stammt von einem der getöteten Sanitäter, Refaat Radwan. Sein Handy wurde gefunden und das Video an den Sicherheitsrat der UN übergeben.
Es drängt sich die Frage auf, warum dem Sicherheitsrat?
Der Sicherheitsrat ist das einzige Gremium, das völkerrechtlich bindende Beschlüsse fassen kann. Es ist also die höchste Adresse, wenn es darum geht, irgendeine Resolution oder ähnliches erreichen zu wollen. Nur über den Sicherheitsrat kann man entsprechenden Druck aufbauen.

Grafik des roten Halbmondes der Getöteten acht Sanitäter.

Das Video wurde dann von einem anonymen UN-Diplomaten exklusiv an die New York Times gegeben.

Der Bericht beschreibt bereits Bekanntes.
Die New York Times hat nach eigenen Angaben darüber hinaus Satellitenbilder ausgewertet, die zeigen, dass am Ort des Vorfalls Tage später Bulldozer waren und auf der Straße eine Sperre eingerichtet wurde.

Dieser Bericht stellt bis zu diesem Zeitpunkt, zehn Tage nach dem eigentlichen Vorfall, die einzige Rechercheleistung eines Mediums dar.

05.04.25 02:34h

Farnaz Fassihi, eine der Redakteurinnen des Beitrags der New York Times, veröffentlicht das Video in einem eigenen Thread auf X.
Das Video ist 06:43 min lang.

Sie warnt davor, es sei „verstörend und entsetzlich“. Dabei ist darauf gar nichts zu sehen.

Der Urheber des Videos, Refaat Radwan, sei laut Rotem Halbmond in dem Massengrab gefunden worden. Mit Kugeln (Mehrzahl) im Kopf.
In dem Posting erklärt sie im Grunde nur kurz, was man in dem Video sieht.

Das Video

Zunächst: Ich halte das Video für authentisch.

Screenshot des Videos

Das Video setzt im Fahrerhaus bei der Anfahrt zum Einsatzort ein.
Es ist noch sehr dunkel, kurz vor Morgengrauen. Ein Feuerwehrfahrzeug (Zivilschutz der Hamas) setzt sich an die Spitze des Konvois.
Der Konvoi hat sowohl die Lichter als auch das Blaulicht eingeschaltet. Alle zu sehenden Fahrzeuge des Konvois sind eindeutig markiert.
Das widerspricht also scheinbar der Aussage von Oberstleutnant Nadav Shoshani sechs Tage zuvor.

Der Konvoi steuert einen ungekennzeichneten und unbeleuchteten Van auf der linken Seite der Straße an. Mehrere Personen springen aus den Fahrzeugen und eilen zu dem dort stehenden Transporter.

An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass es mehrere Postings auf Social Media gibt, die an einem der Männer ein Gewehr ausgemacht haben wollen. Dabei handelt es sich um einen Mann, der eindeutig nicht gekennzeichnet ist. Er kam aus dem Feuerwehr-Fahrzeug an der Spitze des Konvois, gehört also vermutlich zum Zivilschutz.
Ich kann diese Waffe nicht erkennen.
Die Debatte darüber halte ich aber eh für Zeitverschwendung.

Screenshotd es Mannes, der zum Fahrzeug eilt.

Als das Fahrzeug, aus dem gefilmt wird, zum Stehen kommt (ca. 01:17min), setzt Gewehrfeuer ein. Refaat Radwan scheint aus der Beifahrertür in Deckung zu gehen. Das Bild wird schwarz, die Tonaufnahme läuft weiter.

Das unerwähnte Feuergefecht

Ich bin kein Fachmann für Handfeuerwaffen. Ich kann das also nicht zuverlässig forensisch beurteilen. Aber ich hatte eine sehr umfangreiche Ausbildung an vielen Waffen und internationale Erfahrungen.

Hätte man mir diese etwa fünf Minuten Tonspur ohne Kontext vorgespielt, hätte ich sofort gesagt, dass das ein Feuergefecht zwischen zwei Gruppen ist.
Genauer zwischen einer Gruppe mit Waffen mit einem größeren Kaliber und einer Gruppe mit einem kleineren Kaliber.
Ich glaube auch eine dritte Waffenart zu hören, da bin ich aber nicht sicher.

Einen weiteren Hinweis gibt nicht nur das Geräusch an sich, sondern auch die Art des Feuers.
Es werden sowohl Einzelfeuer als auch Feuerstöße abgegeben. Unregelmäßig, häufig aus den verschiedenen Waffentypen gleichzeitig. Zwischendurch ist Sekunden Ruhe.
Alleine aus dieser Abfolge lässt sich auf einen Schusswechsel zweier Gruppen schließen. Dieser „Sound“ ist unverkennbar. So hört sich Infanterie an.

Das war sicher keine „Exekution“, dafür sind keine Feuerstöße nötig. Soldaten im Einsatz sparen Munition, weil sie sie hinter der nächsten Ecke gebrauchen könnten.
Selbst wenn die Palästinenser unbewaffnet waren – was ich nicht glaube – haben die Soldaten so gefeuert, wie bei einem Angriff.

In einem solchen „Blindtest“ hätte ich mich sicher nicht weiter festgelegt.
An dieser Stelle möchte ich es aber mit Hintergrund versehen:

Die Hauptwaffe der IDF ist das Tavor TAR-21. Es verfeuert das NATO-Kaliber 5,56, welches auch die Bundeswehr und viele andere nutzen Diese Waffen geben einen sehr hellen, klaren Mündungsknall.

Die Hauptwaffe der Hamas, der Palästinenser und aller Terroristen weltweit ist die Automat Kalaschnikow (автомат Калашникова), zumeist in der Version AK-47. Diese feuert mit dem „alten“ NATO-Kaliber 7,62. Das auch das G3 genutzt hat.
Die AK-47 ist für einen sehr speziellen Ton bekannt. Im Einzelfeuer, noch deutlicher im Feuerstoß. Diesen glaube ich in dem Video mehrfach zu hören.

Das Video ist in der ganzen Länge offen einsehbar, es kann sich jeder einen eigenen Eindruck machen.

Am 7.04.25 haben mich mehrere Kommentatoren auf ein Posting des Accounts @CherylWroteIt (166.500 Follower) aufmerksam gemacht. (Danke dafür.)
„Cheryl E“ ist nach Eigenauskunft israelische Soldatin. Der Account geht in einem Thread auf die einzelnen Waffen ein, zeigt Beispielvideos und erklärt die von den IDF häufig verwendeten Schalldämpfer. Die ich erahnt, aber als solche nicht zuverlässig erkannt hätte. Man hört kein Mündungsfeuer, sondern nur das Klicken des Verschlusses. Für mich ist das sehr nachvollziehbar.

Der Taschenspielertrick

Ab diesem Zeitpunkt passiert etwas Interessantes.
Viele Medien springen auf das Video an. Der Schwerpunkt liegt dabei fast ausschließlich auf der Frage, ob die IDF Sanitäter beschossen haben. Und, nach der Aussage von Oberstleutnant Nadav Shoshani, ob die Einsatzfahrzeuge gekennzeichnet waren und die Lichter anhatten. Denn das Video zeigt sehr deutlich, dass sie das hatten.

Mir ist kein Medium bekannt, dass bis einschließlich Sonntag, 06.04.25, auf das für halbwegs erfahrene Soldaten deutlich zu erkennende, wechselseitigen Feuergefecht eingeht. Kein einziges.

Ebenso unerwähnt bleibt ein weiterer, ganz entscheidender Aspekt. Den ich bereits erwähnt habe, den Sie aber sicher auch überlesen haben:
Das Fahrzeug, zu dem die Einsatzkräfte geeilt sind. Und das man in dem Video sehr deutlich sieht.

Alle sind so darauf fixiert, dass die IDF Sanitäter exekutiert haben sollen, dass niemand mehr danach fragt, wohin die Sanitäter, UNRWA und Zivilschutz der Hamas (der übrigens durchaus auch bewaffnet auftritt) überhaupt in den frühen Morgenstunden unterwegs waren.

Was ist mit dem geheimnisvollen „Wagen 1“, nach dem niemand fragt, den aber jeder in dem Video gesehen haben muss?

Screenshot des Videos, das stehende Fahrzeug deutlich erkennbar.

Timeline nach dem Video

05.04.25, 10:38h

Kurz nach der New York Times und nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung von Fassihi greift die Times of Israel die Geschichte um das Video und die Lichter auf.

Screenshot des Beitrags des Spiegels

Der Spiegel schreibt in seiner Unterüberschrift, das Video würde den Verdacht einer regelrechten Exekution erhärten. Was nur mit viel Phantasie der Fall ist. Mit “regelrecht” ziehtd er Autor sich juristisch aus der Verantwortung. Damit ist es keine Tatsachenbehauptung mehr. Der Rest ist hinter Bezahlschranke.
Aufwendig werden Satellitenbilder präsentiert, die dort Erdbewegungen zeigen. Völlig überflüssig, da die IDF den Vorfall ja nach wie vor gar nicht bestreiten.
Der Luftbildauswerter erkennt dort sofort typische Stellungen.

Screenshot der Satellitenbilder
„Sicher ist, dass die Erschießung der 15 humanitären Helfer einen neuen Tiefpunkt im Gazakrieg markiert. Und dass das Massaker in ein Muster früherer israelischer Angriffe auf Mitarbeiter des Gesundheitssystems und Angestellte von Hilfsorganisationen passt.“
Wieso hat Israels Armee 15 humanitäre Helfer erschossen?, Der Spiegel, 05.04.2025, 15.18h

„Der Konvoi stoppt bei einem Fahrzeug, das am Straßenrand steht, offenbar dem zuvor beschossenen PRCS-Notarztwagen.“ Das ist definitiv falsch, wie wir sehen werden.
Auf die Schüsse geht auch der Spiegel nicht weiter ein.

06.04.25 10:38h

Screenshot des Beitrags

Die Tagesschau berichtet in Schrift und Video.
Hier wird auch ein Video des Überlebenden Munther Abed gezeigt, der beim Spiegel noch Munzer hieß. Und das die Tagesschau sehr sicher von einem palästinensischen Journalisten gekauft hat.

Screenshot des Interviews

Makaber: Im Videobeitrag werden Auszüge aus dem Video von Refaat Radwan eingespielt. Dabei wurde die Tonspur verändert. Es sind Schüsse zu hören, die im Original an der Stelle nicht zu hören sind. Vermutlich wollte man mehr Dramatik in der Sache haben.

Des Weiteren wird das Wall Street Journal zitiert, bei den getöteten handele es sich um „acht Sanitäter des Roten Halbmonds und sechs des palästinensischen Zivilschutzes“. Vom UNRWA plötzlich keine Rede mehr.

„Das Video bricht nach weniger als einer Minute ab, als der Konvoi unter israelischen Beschuss gerät.“
Diese Aussage ist definitiv falsch. So falsch, dass man sich fragt, ob der Verfasser das Video überhaupt gesehen hat. Nach etwa 01:17 min kommt der Konvoi unter Beschuss. Das Video läuft noch über fünf Minuten weiter.

Mein Eindruck

In der Nacht von Samstag (05.04.25) auf Sonntag habe ich angefangen, mir die Geschichte anzuschauen.
Ich erkläre, welchen Eindruck ich zu dem Zeitpunkt hatte. Ausgehend von den zu dem Zeitpunkt verfügbaren Informationen. Das mag man mir glauben, oder nicht. Denn die nachfolgenden Informationen der IDF werden zeigen, dass ich nah dran war.

Rafah ist eine aktive Kampfzone. Also „die Front“. Nichts anderes, als beispielsweise die Front in der Ukraine.
Dort hat eine Einheit der IDF Stellung bezogen.

Dieser Stellung näherte sich am frühen Morgen des 23.04.25 ein Fahrzeug. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Beleuchtung. Die Soldaten haben dieses Fahrzeug bekämpft und mehrere Palästinenser getötet.
Schon über eine Woche vorher hat Oberstleutnant Shoshani im Namen der IDF veröffentlicht, dass der Terrorist Mohammad Shubaki und mehrere Mitglieder der Hamas getötet wurden.

Die Soldaten werden aber nicht sofort zu dem Fahrzeug gehen, sondern das Gelände großräumig sichern. Da sie immer mit Autobomben und Sprengfallen rechnen müssen.

Kurze Zeit später kommt ein Konvoi von Rettungsfahrzeugen an die Stelle. Woher auch immer, gerufen von wem auch immer.
Da es dunkel ist, werden die Soldaten mit Nachtsichtgeräten operiert haben. Durch die einsetzende Dämmerung und die Einsatzlichter der Fahrzeuge dürften diese aber eher störend denn hilfreich geworden sein.

Aus irgendeinem Grund begannen die Soldaten dann auf die nun Eintreffenden zu schießen. Ob zu Recht oder Unrecht, konnte ich nicht beurteilen und kann es mit letzter Sicherheit auch jetzt nicht.

Sie haben die Eintreffenden als Bedrohung beurteilt. Alleine schon, dass die Einsatzfahrzeuge (die nicht angekündigt waren, wie Shoshani mit „unkoordiniert“ meinte), auf mindestens 50 Meter an ihre Stellungen herankamen. Eher näher, denn man kann sie im Video hören.
Man darf nicht vergessen, auch die Soldaten befinden sich in einem psychischen Zustand der Lebensbedrohung. Erst schießen, dann fragen. Und wenn einer schießt, schießen alle. Sonst kann es zu spät sein. Das ist einfach die Realität, kein Soldat würde anders handeln.

Aus Sicht der Soldaten war das jedoch nur ein weiteres Gefecht während des gleichen Einsatzes. Das, was sie tatsächlich interessierte und was sie auch sicher als Meldung abgesetzt hatten, war das erste oder die ersten Fahrzeuge. Der eigentliche Auslöser. Das, in dem sich wohl der Terrorist Mohammad Shubaki befunden hatte.
Der geheimnisvolle „Wagen 1“, der von allen Medien ignoriert wurde.

Die weiteren Details der IDF

Bereits am Samstag, dem 05.04.25, haben die IDF weitere Details veröffentlicht.
Diese wurden von den Medien aber höchstens in Auszügen zitiert. Lediglich die Times of Israel gab sie in einem Beitrag unfassend wieder. Sodass auch ich sie erst am Montagmorgen fand. Das ist die Einseitigkeit, über die zu sprechen sein wird.
Aus Sicht der IDF hat sich nach einer ersten Untersuchung folgendes zugetragen:

Soldaten der 14th Armored Brigade („Golani-Brigade“, keine eigentliche Spezialeinheit, sie genießt aber einen gewissen Ruf) haben gegen 04:00h einen Hinterhalt an einer Straße in Tel Sultan eingerichtet.
Ich mutmaße, dass sie gezielte Informationen durch den Nachrichtendienst Shin Bet hatten. Denn sie haben mehrere Fahrzeuge, darunter auch Krankenwagen, passieren lassen.

Um 04:30h fuhr ein Polizeifahrzeug der Hamas in den Hinterhalt. Es kam zu einem Feuergefecht. Einer der Insassen wurde getötet, zwei weitere festgenommen. Das Fahrzeug verblieb am Straßenrand. (Wagen 1)
Ich gehe davon aus, das war der von den Einsatztruppen gemeldete Vorgang. Das, worum es eigentlich ging. Und das war das unbeleuchtete Fahrzeug, das später fälschlich in die Meldung des Sprechers Oberstleutnant Shoshani gelangte.

Gegen 06:00h näherte sich der angesprochene Konvoi. Dieser war nicht angemeldet. Die Einsatzkräfte wurden durch eine Drohneneinheit vorgewarnt, die den Konvoi beobachtete.
Die Soldaten waren überrascht, dass der Konvoi tatsächlich an dem Wagen hielt. Für sie war das Fahrzeug ja nach wie vor ein Einsatzbereich, ein „Tatort“.
Als mehrere Personen aus den Einsatzfahrzeugen sprangen und auf das Fahrzeug zuliefen, fühlten sie sich bedroht und eröffneten das Feuer.

Die IDF hat anerkannt, dass die Aussage von Oberstleutnant Shoshani falsch war. Warum es zu dieser Aussage kam und warum das Feuer eröffnet wurde, wird weiter untersucht. Das Posting ist nach wie vor online.

Darüber hinaus gaben die IDF bekannt, dass mindestens sechs der Getöteten als Mitglieder der Hamas identifiziert wurden.
Das sind mehr, als beim „Wagen 1“ getötet oder festgenommen wurden. Es muss sich also auch um Personen handeln, die mit diesem Konvoi kamen.

Es sei daran erinnert, dass der Zivilschutz, der in der medialen Berichterstattung keine weitere Erwähnung fand, Teil der Hamas ist.
Ich interpretiere das zum jetzigen Zeitpunkt so, dass sich bei den Sanitätern auch Bewaffnete befanden. Was meine Wahrnehmung eines Feuergefechtes ebenfalls nahelegt.
Das bedeutet aber nicht, dass sich unter den Getöteten nicht auch Sanitäter befanden. Die IDF haben das auch zu keinem Zeitpunkt geleugnet.

Darüber hinaus gaben die IDF an, der stellvertretende Bataillonskommandeur habe die Toten sammeln und dann im Sand vergraben lassen. Das sei gängige Praxis.
Das ist tatsächlich überall so. Es dient dem Schutz vor Seuchen und Tierfrass.
Das Grab wurde dann entsprechend markiert. Was selbst frühe Berichte der „palästinensischen Seite“ bestätigt haben: Ein „Blaulicht“ eines Wagens war platziert worden.

Anschließend seien die Fahrzeuge von der Straße geschoben worden. Wobei sie zerstört wurden. Was wiederum die von der New York Times auf Satellitenbildern ausgemachten Bulldozer erklärt. Auch das ist völlig normal, denn die Straße muss als Einsatzbereich ja weiter frei sein.
Damit erklärt sich also auch das unterstellte „Verstecken“ der Leichen und Fahrzeuge sehr unspektakulär.

Gestern hat der Kommandeur des südlichen Distrikts, der quasi der Befehlshaber für die Operation in Gaza ist, General Yaniv Asor den Chef des Stabes General Eyal Zamir gebrieft.

Der Chef des Palästinensischen Roten Halbmondes Dr. Younis Al-Khatib wird zitiert, die Getöteten seien aus „sehr naher Distanz“ erschossen worden. Was offensichtlich ist, da diese ja de facto in den Einsatz gefahren sind.
Und die IDF hätten den Roten Halbmond acht Tage im Unklaren gelassen. Diese Aussage muss falsch sein, da der Rote Halbmond selber ja bereits nach fünf Tagen schrieb, dass die IDF den Zugang verweigert habe.

Fragen über Fragen

Die größte Frage ist also, warum die Soldaten das Feuer auf die Männer des Konvois eröffnet haben.

Ohne das bewerten zu wollen ist es naheliegend, dass die Soldaten in dieser Situation, die sich erst nach intensiver Recherche abzeichnet, das Feuer eröffnen. Und dass dabei dann auch auf Männer mit Sanitäter-Westen geschossen wird.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass diesen Männer nicht bewusst war, wo sie da rein fuhren.

Egal, wie man das bewertet und egal, wem man mehr glauben mag, ist das in der Öffentlichkeit angekommene Bild unzutreffend.
Und die Informationslage war zu jedem Zeitpunkt nachweislich so, dass die Medien das auch entsprechend hätten erfahren und erklären können. Wenn sie gewollt hätten.

Darüber hinaus drängen sich nun weitere Fragen auf. Die aber vermutlich nicht mehr öffentlich beantwortet werden, da es dafür keinen medialen Markt gibt.

  • Warum fahren palästinensische Mitarbeiter des UNRWA und Männer des zur Hamas gehörenden Zivilschutzes zusammen mit Sanitätern in einen Einsatz?

  • Warum fährt ein nicht angemeldeter Konvoi von zivilen Einsatzfahrzeugen dorthin, wo gerade noch ein Feuergefecht stattgefunden hat?

  • Warum fahren zivile Einsatzfahrzeuge bis auf wenige Meter an Stellungen des Feindes heran?
    Was wäre zu erwarten, wenn ukrainische Ambulanzen sich auf weniger als 50 Meter an russische Stellungen annähern würden?

  • Warum ist das UNRWA mindestens eine Woche lang nicht an die Öffentlichkeit gegangen?

  • Warum hat ein Diplomat der UN das Video exklusiv an die New York Times durchgestochen?

  • Warum bricht das Video nach 6:43 Minuten ab? Hat Refaat Radwan ausgerechnet da die Aufnahme aus irgendeinem Grund gestoppt, oder wurde es geschnitten? Und wenn es geschnitten wurde, von wem? Vom Roten Halbmond, dem UNRWA, der UN oder der New York Times?
    Fassihi schreibt zwar, das sei „der erste Teil“, erklärt das aber nicht näher.

  • Warum hat die New York Times zwar Luftbilder ausgewertet, hat aber das von ihnen veröffentlichet Video nicht von einem forensischen Akustiker oder wenigstens von einem ehemaligen Soldaten mit Einsatzerfahrung auf das hörbar stattfindenden Gefechts prüfen lassen?
    Warum geht kein einziges Medium darauf ein?

  • Wenn die Sanitäter bewusst und absichtlich durch die IDF „exekutiert“ wurden, und die Toten zur Vertuschung verscharrt wurden, warum wurde Munther Abed dann nach kurzer Befragung gehen gelassen?

  • Warum gaben Medien unkritisch die Behauptung wieder, dass die IDF versucht hätten, die Toten zu verstecken? Obwohl es bestätigt war, dass die IDF die UN informiert haben?

Unterm Strich

Im für die IDF ungünstigsten Fall haben die Soldaten im Einsatzstress Hilfskräfte für den Feind gehalten und aus der üblichen Kampfentfernung wie bei einem Gefecht auf sie geschossen.
Im für die IDF günstigsten Fall waren einige dieser Hilfskräfte bewaffnet.

So oder so macht das für einen Soldaten aber nur einen geringen Unterschied. Auch wenn es für Zivilisten unvorstellbar erscheinen mag. Diese Hilfskräfte sind in eine Kampfzone gefahren. Sie sind quasi in ein Gefecht gefahren.
Und wer nun glaubt, das sei unentschuldbar: So leid es mir tut, das ist die Realität des Krieges. Die Toten wird es nicht mehr interessieren, ob entschuldbar oder nicht.

Die IDF haben erneut ihre Unfähigkeit bewiesen, für Laien verständlich zu erklären. Was für mich, angesichts der sonstigen Professionalität der IDF, inzwischen völlig unverständlich ist. Sie geben der Propaganda Raum, der nicht sein müsste.

Die Behauptungen der Palästinenser sind aber ebenso unterirdisch, wie die Kommunikation der IDF. Es ist geradezu lächerlich, dass keine der Seiten oder der Medien in der Lage ist, die Anzahl der Getöteten eindeutig zu benennen oder zu welcher Organisation sie gehörten.

Es wurden definitiv nicht willkürlich Krankenwagen beschossen. Es gab keine Exekutionen, selbst wenn man das als solche empfinden mag. Und es wurde nicht versucht, die Leichen zu verstecken und irgendetwas zu kaschieren.

So oder so wird in der Sache lediglich eine Verkettung unglücklicher Umstände bleiben. Die Bugwelle der negativen Folgen beginnt aber gerade erst sich aufzubäumen.

Die Mechanismen der Kommunikation habe ich bewusst so ausführlich dargelegt. Um zu zeigen, dass das Narrativ der Medien immer einseitig ist. Es entspricht immer der Perspektive der Zivilisten. Es entspricht immer dem Ansatz, das Leben der Zivilisten zu schützen, nicht das der Soldaten. Es schildert nie die sicht der Soldaten.
Und damit ist es in diesem Konflikt automatisch fast immer Israel-feindlich. Dass die Palästinenser sich in absolut nichts ans Kriegsvölkerrecht halten, wird von dieser Rollenverteilung überschattet. Die Medien Interessieren sich eher für Blaulichter, als ginge es um einen Unfall auf der Autobahn.

Und da die Hamas, der Dschihad und andere sich auch weiterhin hinter Zivilisten verstecken werden, wird es vermutlich auch weiterhin solche Vorfälle geben.
Denn wäre ich dort im Einsatz und müsste abwägen zwischen dem Risiko auf einen echten Sanitäter, der in meinem Weltbild gar nicht dort sein dürfte, und dem Risiko für mein eigenes Leben… ich würde keine Sekunde zögern. Und dass die Medien dies ignorieren, ist der eigentliche Skandal.


Erschienen auf steadyhq



Sonntag, 6. April 2025

Wie Friedrich Merz die CDU zerstört


Massiver Vertrauensverlust - CDU-Parteichef Friedrich Merz 2024 im Münchner Presseclub



Viele Christdemokraten sind enttäuscht von ihrem Parteivorsitzenden. Statt eines Richtungswechsels gibt es nur ein Weiter so. Im Koalitionsvertrag erwartet sie jetzt eine weitere Zumutung.

von Hubertus Knabe

Friedrich Merz, so scheint es, ist drauf und dran, der letzten Volkspartei den Garaus zu machen. Seit seinem Kurswechsel in der Schuldenfrage und dem 100-Milliarden-Geschenk an die abgewählten Grünen fühlen sich viele CDU-Wähler regelrecht betrogen. In einer aktuellen Umfrage kommt die Union nur noch auf 24 Prozent. Auch immer mehr CDU-Mitglieder erklären ihren Austritt. Und auf die Verbliebenen wartet im neuen Koalitionsvertrag die nächste Zumutung: Laut Entwurf wollen Union und SPD das umstrittene Subventionsprogramm „Demokratie leben!“ weiterführen und sogar ausweiten.

Das Programm, aus dem vornehmliche linke Initiativen „gegen rechts“ unterstützt werden, war von Merz und seiner Fraktion noch vor wenigen Wochen massiv in Frage gestellt worden. Anlass waren deutschlandweite Proteste gegen ihn und seine Partei kurz vor den Bundestagswahlen gewesen. Dabei waren nicht nur zahllose Wahlplakate beschädigt, sondern auch CDU-Geschäftsstellen attackiert worden.

In einer Kleinen Anfrage betonten Merz und seine Fraktion daraufhin, dass sich gemeinnützige Vereine und staatlich finanzierte Organisationen parteipolitisch neutral verhalten müssten. Mit Blick auf die Anti-CDU-Proteste bezweifelten sie, dass diese Vorschrift überall eingehalten würde. „Ein Beispiel ist das Bundesprogramm ‚Demokratie leben!‘, das einige Organisationen finanziell fördert, die an den Demonstrationen beteiligt waren.“

5000 Euro aus dem Kanzleramt – Demonstration der „Omas gegen Rechts“ im Juli 2023 in Magdeburg



Unterstützung wird fortgesetzt

Inzwischen ist von dieser Kritik keine Rede mehr. Statt dessen heißt es im Entwurf des Koalitionsvertrages: „Die Unterstützung von Projekten zur demokratischen Teilhabe durch das Bundesprogramm ‚Demokratie leben!‘ setzen wir fort.“ Und mehr noch: Nach einer unabhängigen Überprüfung des Programms werde man „weitere Maßnahmen für rechtssichere, altersunabhängige Arbeit gegen Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ prüfen.

Das unscheinbare Wort „altersunabhängig“ ist dabei von besonderer Bedeutung. Laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages widerspricht das Förderprogramm nämlich der Verfassung. Der Bund sei nur für Fragen zuständig, die nicht durch die Länder geregelt werden könnten. Eine Ausnahme gelte lediglich für die politische Bildung Jugendlicher – doch genau diese Beschränkung wollen Union und SPD nun aufheben.

CDU/CSU kommen damit einem langgehegten Wunsch der SPD nach, auch Erwachsene aus dem Programm zu subventionieren. Um dies zu ermöglichen, hatten SPD und Grüne im März 2023 sogar ein „Demokratieförderungsgesetz“ eingebracht. Die Union stellte sich gegen das Vorhaben, weil, wie es der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries in der Debatte formulierte, das Wohl und Wehe der Demokratie nicht davon abhänge, „politisch erwünschte Weltanschauungen staatlich zu prämieren oder dauerhaft zu finanzieren.“ Jetzt sollen die Pläne Eingang in den Koalitionsvertrag finden.

„Politisch erwünschte Weltanschauungen nicht staatlich prämieren“ – CDU-Politiker Christoph de Vries



Die künftigen Koalitionäre setzen sich damit auch über Einwände des Bundesrechnungshofes hinweg. Mehrfach wies dieser auf die „fehlende Förderkompetenz des Bundes“ bei den Zahlungen hin. Denn die meisten Projekte sind weder von überregionaler Bedeutung noch besteht ein erhebliches Bundesinteresse an ihnen – Kriterien, die eigentlich Voraussetzung für eine Bundesförderung sind. Auch die Vorschrift, nur Projekte für Jugendliche zu fördern, wird regelmäßig missachtet.

Die Union störte sich auch an der politischen Einäugigkeit des Programms. Als Beispiel nannte de Vries die sogenannte Meldestelle für Antifeminismus, die die linkslastige Amadeu Antonio Stiftung betreibt. Aus dem Programm erhielt diese 2,7 Millionen Euro. Mit solchen Maßnahmen werde statt Demokratie politisches Denunziantentum gefördert.

Mittel mehr als vervierfacht

Offenbar planen Union und SPD sogar eine Erhöhung der Ausgaben. Laut Entwurf sind sie „überzeugt, dass wir verstärkt in die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie investieren müssen.“ Dabei wurden die Mittel für das Programm in den letzten Jahren bereits mehr als vervierfacht. So stiegen die Ausgaben seit 2015 von 40,5 auf 182 Millionen Euro pro Jahr. Insgesamt hat der Bund schon mehr als 1,2 Milliarden Euro investiert.

„Förderung politisches Denunziantentums“ – Website der Amadeu Antonio Stiftung



Tatsächlich fließen die meisten Subventionen in Aktivitäten „gegen rechts“ – obwohl die Zahl linker und rechter Extremisten in Deutschland nahezu gleich groß ist. So förderte die Bundesregierung nach eigenen Angaben die Bekämpfung des Linksextremismus 2023 mit 2,3 Millionen Euro. Fast das Zehnfache, nämlich 22,5 Millionen Euro, wandte sie für die Zurückdrängung des Rechtsextremismus auf.

In Wirklichkeit ist das Ungleichgewicht noch deutlich größer. Wie die Bundesregierung erklärte, seien nämlich viele Projekte „phänomenübergreifend“ angelegt, so dass eine thematische Zuordnung der Fördermittel nicht möglich sei. Als Beispiel nannte sie die Partnerschaften für Demokratie und sogenannte Landes-Demokratiezentren, von denen allein Letztere 2023 fast 30 Millionen Euro erhielten. Ein Blick auf deren Internetseiten zeigt jedoch, dass es diesen ebenfalls in erster Linie um Rechtsextremismus geht und nie um Extremismus von links.

Im Ergebnis erhalten Tausende linke Aktivisten Geld aus dem Programm. Dass diese tatsächlich für die Demokratie eintreten, ist dabei keineswegs sicher. Schon 2014 strich die SPD die Vorschrift, dass sich die Zuwendungsempfänger schriftlich zum Grundgesetz bekennen müssen. In der Praxis wird lediglich geprüft, ob ein Antragsteller im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Mehr als 1,5 Millionen Euro bekam zum Beispiel die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), in deren Vorstand damals die Hardcore-Marxistin Bafta Sarbo saß. Wenn es im Entwurf des Koalitionsvertrages heißt, dass die Verfassungstreue der geförderten Projekte „weiterhin“ sichergestellt werde, sanktioniert die CDU das fragwürdige Verfahren noch nachträglich.


Bekenntnis zum Grundgesetz gestrichen – Website der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland



Zahl der Rechtsextremisten fast verdoppelt

Ob dieser Geldsegen den Extremismus zurückdrängt, muss bezweifelt werden. Die Zahl der Rechtsextremisten hat sich seit dem Programmstart nämlich fast verdoppelt. Die AfD kommt sogar auf viermal so hohe Zustimmungswerte. Bei der anvisierten Zielgruppe dürfte das linksalternative Vokabular der geförderten Vereine die Radikalisierung eher noch verstärken.

Bislang hat jedenfalls niemand ernsthaft versucht, die Wirkung des Programms zu überprüfen. Schon 2019 monierte der Bundesrechnungshof, dass „die Förderziele nur sehr allgemein und vage beschrieben werden und so in einer Erfolgskontrolle nicht messbar sind.“ 2022 kritisierte er erneut, dass auf dieser Basis die vorgeschriebene „sachgerechte Zielerreichungskontrolle nicht möglich“ sei. Auch in der neuen Förderrichtlinie vom November 2024 finden sich nur Allgemeinplätze. Die im Entwurf versprochene „unabhängige Überprüfung“ ist eine Illusion, da die in Frage kommenden Institute fast alle am Tropf des Ministeriums hängen.

Sollte die Unionsfraktion nicht noch rebellieren, dürfte also auch Merz‘ Regierung künftig linke Aktivisten mit Millionenbeträgen subventionieren. Die CDU züchtet sich damit den Protest gegen ihre Politik selbst heran. Statt des angekündigten Politikwechsels deutet alles auf ein Weiter so, was die Unzufriedenheit der Mitglieder und der Wähler weiter verstärken dürfte. Merz gefährdet damit nicht nur die Zukunft der CDU, sondern zerstört auch das Vertrauen in die etablierten Parteien, was die Extreme weiter stärken dürfte. Angesichts der Bedrohung durch Russland sind dies keine guten Aussichten für Deutschland.



Mittwoch, 2. April 2025

Herrschaft der Großväter - Die Unmenschlichkeit des Russischen

Russische Soldaten über einem erschossenen Ukrainer.

Als Andrei Sytschow nach seiner Ausbildung zum Autoschlosser 2005 mit 18 eingezogen wurde, war er ein gesunder, junger Mann. Als er ein Jahr später in den Gerichtssaal kam, fehlten ihm beide Beine, die Genitalien und der rechte Ringfinger.
Er war nicht in einem Krieg verwundet worden. Sondern gefoltert. Durch seine Vorgesetzten.

Ständigt werden auf Social Media Videos veröffentlicht, in denen nicht nur ukrainische Gefangene vor laufenden Kameras getötet werden. Sondern in denen auch russische Soldaten gequält werden. Sie werden an Bäume gefesselt, wo sie Tage ausharren müssen. Sie werden geprügelt, wenn sie nach einem Angriff lebend zurückkehren. Sie werden zur Bestrafung in Gruppen in Löcher gepfercht, wo sie mit Essensresten überleben müssen, in ihrem eigenen Kot stehend.
Veröffentlicht von anderen russischen Soldaten.

Mehrere russische Soldaten werden von Russen an Bäume gebunden.

Screenshot: Mehrere russische Rekruten werden an Bäume gebunden.

Häufig werden solche Berichte und Videos als Russland-feindliche Propaganda abgetan. Doch das System ist weit älter als das Russland Putins, sogar älter als die Sowjetunion.
Es sind zu viele Videos. Doch nur wenn man wagt bewusst hinzusehen, erkennt man, dass es keine Einzelfälle sind.

Nach den Veröffentlichungen der Rückeroberung von Butscha Anfang April 2022, während der zivile Tote und gefesselte Erschossene offen auf der Straße gefunden wurden, seit Wochen dort liegend, schrieb ich, dass das kein Massaker war. Ich wurde dafür kritisiert. Weil gar nicht verstanden wurde, dass ich damit lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass das die russische Normalität ist.

Eine in Decken gehüllte, verletzte Schwangere in den Trümmern. Im Hintergrund würd über einem offenen Feuer Wasser erhitzt.

Foto: Anhand einer Auswertung konnte ich zeigen, dass der Angriff auf die Geburtsklinik in Mariupol im März 2022 kein Unfall gewesen sein konnte.

Um das aus europäischer Sicht überhaupt begreifen zu können, muss man die Struktur des russischen Militärs betrachten. Und dann wird man auch viel besser verstehen, was in der Ukraine vor sich geht.

Der Unteroffizier

Es gab immer spezialisierte Soldaten, seit der Antike. Und es gab immer Vorgesetzte, welche die Soldaten unmittelbar führten.
In den römischen Legionen gab es beispielsweise den Decurio und den Centurio, die später aber zu den Offizieren gezählt wurden. Offiziere waren eher Adelige und Reiter, aus ihnen entwickelten sich später die Ritter. Fußtruppen waren die Mannschafter, die normalen Soldaten. Unteroffiziere, das Bindeglied, gab es eher wenige.

Der Krieg wurde immer technischer, die Waffen immer spezieller. Und dafür benötigte man Soldaten, die länger dabei waren und die man entsprechend ausbildete. Diente ein römischer Legionär noch 20 Jahre, gab es in Angelsachsen später die Fyrd, die freien Bauern, die im Krieg eingezogen wurden. Auch im Japan vor der bei Europäern eher bekannten Edo-Zeit war es üblich, Bauern zu rekrutieren. Das kehrte sich mit dem Dreißigjährigen Krieg wieder um.

Aus dieser Entwicklung heraus trennte sich der Weg zwischen dem Zarenreich und der späteren Sowjetunion und dem Westen. Eigentlich bereits im 19. Jahrhundert.
Der Westen setzte immer mehr auf kompliziertere, technisch versiertere Waffen und gut ausgebildete Soldaten. Während Russland dabei bliebt, Waffen zu verwenden und zu produzieren, die jeder nach einer kurzen Einweisung bedienen kann. Das Modell „Kanonenfutter“.

Beispiel Kampfpanzer

Ein Beispiel ist der Leopard II, der in der Version, die in die Ukraine geliefert wurde, etwa 35 Jahre alt ist. Aus unserer Sicht alt, aber für die ukrainischen Soldaten, die über Wochen darauf ausgebildet werden mussten, ein Zeitsprung. Viele berichten freudestrahlend davon, dass sie einen Beschuss überlebt hatten. Im T-72, der zumeist von Russland eingesetzt wird und den auch die Ukraine hat, ist das nicht so.
Das Überleben der Besatzung hat einen niedrigeren Wert. Kampfpanzer sind in Russland eher so etwas wie fahrende Kanonen, die kaum aus der Fahrt schießen können und höchstens vor leichten Beschuss schützen. Die meisten können nicht einmal rückwärtsfahren.

Was man auch daran sehen konnte, dass viele Besatzungen einfach die Luken wegen der fehlenden Belüftung offenließen. Und die Ukraine es perfektionierte, mit Drohnen Granaten hineinfallen zu lassen.
Es gäbe viele solcher Beispiele.

Ein zerstörter russischer Panzer. Das Munitionskarusell unterm Turm ist detoniert, der Turm scheint ausgebrannt aber wenig beschädigt.

Foto: Ein zerstörter russischer Panzer. Das Munitionskarusell unterm Turm ist detoniert, der Turm scheint ausgebrannt aber wenig beschädigt.

Daran wird deutlich, dass Russland auch heute noch auf Masse statt Klasse setzt. Die angekündigten Superwaffen haben sich alle als Rohrkrepierer erwiesen. Geblieben ist eine russische Kriegsführung wie in den 1960ern. Eigentlich eher wie im Ersten Weltkrieg.

Die strukturellen Unterschiede

Das bedeutet also zwangsläufig, dass „der Westen“ gut ausgebildete Soldaten braucht. Davon aber weniger. Die Soldaten sind dem Westen etwas wert. Denn man hat in sie investiert. Weshalb die simple Aufrechnung von Rüstungskosten durch selbstbeschriebene Experten völlig absurd ist.
Spätestens seit Vietnam weiß man, dass es in der Bevölkerung nicht gut ankommt, wenn Soldaten an der Front zu Tieren werden oder in Säcken nach Hause kommen. Wir haben eine Erwartungshaltung.

Daraus ergibt sich eine völlig andere Struktur des Militärs. Um das zu verdeutlichen, vergleiche ich das russische Militär mit der Struktur der Bundeswehr zu Zeiten der Wehrpflicht: Die Struktur, die Hierarchie, ist sehr mit der der zivilen Arbeitswelt zu vergleichen.

Es gibt die „einfachen“ Soldaten, die den Lehrlingen entsprechen. (Ohne Wehrpflicht, also nur mit Profis, verschiebt sich das natürlich etwas.)
Dann gibt es die Unteroffiziere. Und das wären zivil eher so etwas wie die Altgesellen und Meister, bis hin zum Altmeister.
Und dann gibt es die Offiziere. Die unter sich wiederum abgestuft sind, wir vernachlässigen das hier aus Gründen. Das sind die Akademiker. Viele von ihnen haben ein Studium oder studieren bei der Bundeswehr.

Schematischer Vergleich der Dienstgradgruppen „West“ und „Ost“

Foto: Schematischer Vergleich der Dienstgradgruppen „West“ und „Ost“

Russische Offiziere

Wichtig ist, dass in dieser „westlichen“ Struktur nicht jeder mit einem höheren Dienstgrad irgendwem etwas befehlen darf. Ok, versuchen kann er es. Aber ob derjenige das dann macht, ist etwas anderes. Es ist sehr genau geregelt, wer wem wann was befehlen darf.
In Russland darf jeder jemandem mit einem niedrigeren Dienstgrad etwas befehlen.

Parade in Moskau, die Dienstgrade sind auf den Schulterklappen erkennbar.

Foto: Viele „normale“ Soldaten, wenige Unteroffiziere. Die Unterscheidung ist kaum sichtbar, Unteroffiziere marschieren mit den Mannschaften.

Und die russischen Offiziere haben auch kaum studiert. Russland hat im Verhältnis viele Offiziere, die in der Regel auf eine Schule gehen, wo sie einen Abschluss machen. Häufig im elektrotechnischen Bereich. Sie werden dann meist „Ingenieur“ genannt, doch diese Abschlüsse sind im Westen nicht anerkannt. Sie sind eher zu vergleichen mit einer theoretischen Berufsausbildung.

Diese Struktur, diese Verteilung, zusammen mit der Wehrpflicht (zweimal im Jahr Kontingent) führt also dazu, dass Russland sehr wenige Unteroffiziere braucht. Im Grunde nur für die Ausbildung. Und dort regieren sie dann.

Die Stube nicht aufgeräumt

Der Wehrpflichtige Andrei Sytschow hatte den Silvesterabend zum Jahr 2006 mit acht anderen Kameraden auf der Stube gefeiert. Sie alle waren keine Rekruten mehr, sie waren nicht neu.
Nach Mitternacht betraten mehrere betrunkene Unteroffiziere den Raum. Sie sagten, die Stube sei nach dem Umtrunk nicht ordentlich aufgeräumt worden. Sie begannen Sytschow zu schlagen und zu Foltern. Die Tortur dauerte mindestens dreieinhalb Stunden. Unter anderem wurde er auf einem Stuhl hockend in eine so genannte Schmerzhaltung gebracht. Er musste Kniebeugen machen, die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Da die medizinische Versorgung der Kaserne zum Jahreswechsel geschlossen war, bekam Sytschow erst am 4. Januar eine ärztliche Versorgung. Zu dem Zeitpunkt waren eines seiner Beine und seine Genitalien bereits nekrotisch, also abgestorben. Es ist der Phantasie überlassen, was mit seinen Genitalien passiert ist. Es wurden mehrere gebrochene Knochen festgestellt.

Ein unbekannter Offizier hatte Sytschows Mutter später „viel“ Geld angeboten, würde er nicht vor Gericht gehen. Er ging vor Gericht. Zu dem Zeitpunkt waren ihm beide Beine, die Genitalien und ein Ringfinger amputiert worden. Ein vor Gericht befragte Militärarzt sagte aus, er könne sich auch eine Blutvergiftung zugezogen haben.

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Foto: Eines der wenigen Fotos von Andrei Sytschow. Mit seiner Mutter, 2007.

Der hauptverantwortliche Alexander Sivyakov, zu dem Zeitpunkt ein 19-jähriger Unteroffizier, wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, wobei ihm drei Jahre der Dienstgrad als Unteroffizier aberkannt wurden. Was bedeutet, er blieb weiter Soldat und konnte mit 24 als Unteroffizier weiter dienen.

Dedowschtschina

Das ist bei Weitem kein Einzelfall. Schläge und Folter werden als legitime erzieherische Maßnahme betrachtet. Offiziell ist das zwar verboten. Aber in der Realität ist es tägliche Praxis.
So, wie sich Realität und Anschein sehr häufig in Russland unterscheiden.

Es gibt sogar ein russisches Wort dafür. Dedowschtschina (дедовщина), das Prinzip der Herrschaft der Großväter. Dedushka ist der Großvater, kurz Ded oder Dedy ist der Opa (дед).
Damit gemeint sind diejenigen, die schon länger dabei sind. Was zu einer Systematisierung führt: Sie werden das an die Jüngeren weitergeben, was sie selber erlebt haben. Ältere Unteroffiziere gibt es sehr wenige. Die Offiziere sind weit weg. Sowohl in den Kasernen, als auch an der Front.

Es ist ein sich selbst erhaltendes System. Diejenigen, die heute gequält werden, sind morgen die Quälenden. Wenn sie so lange durchhalten.

Ein älterer Soldat posiert lächelnd Arm in Arm mit einem jüngeren mit zwei blauen Augen.

Foto: Ein älterer Soldat posiert lächelnd Arm in Arm mit einem jüngeren mit zwei blauen Augen.

Dienstgrad ist Gradmesser der Korruption

Roman Suslow fuhr 2010 in die Kaserne, in der er dienen sollte. Von Omsk aus Richtung chinesischer Grenze, weit weg. Blumen, ein letztes Mal seinen kleinen Sohn halten, Winken am Bahnhof.
Wenige Tage später kam sein Leichnam zurück. Nur grob zusammengenäht, vom Kehlkopf bis zum Penis. Durch eine Obduktion, angeblich. Angeblich hatte er sich erhängt. Die Blutergüsse auf seinem Körper erklärte das nicht.

Nicht nur die Eltern vermuten, dass die Offiziere die Organe verkauft haben. Es wurden auch schon Offiziere dafür verurteilt, Blut ihrer Soldaten verkauft zu haben. Leichname wurden nicht an die Familien übergeben. Und ähnliche organlose Befunde hat es auch in der Ukraine gegeben.

Weit korrupter als die Ukraine es bis zum Euromaidan war, war immer schon Russland. Das wird gerne vergessen oder durch die Propaganda ignoriert.
Eine der „Weltuntergansflugzeuge“ Russlands, eine Ilyushin Il-80, wurde bei Reparaturen 2020 derart geschröpft, dass sie verschrottet werden musste. Offiziere hatte alles verkauft, von Monitoren bis zu Kupferkabeln.
Kaum verwunderlich, wenn russische Soldaten in den ersten Tagen des Überfalls auf die Ukraine dabei gefilmt wurden, wie sie Kühlschränke und Waschmaschinen aus ukrainischen Häusern schleppten und sie auf gestohlene Autos luden.

Der Dienstgrad und die Macht sind ein Gradmesser dafür, was gesellschaftlich akzeptiert ist zu stehlen.
Das Schloss am Kap Idokopas wird üblicherweise als „Putin Datscha“ bezeichnet. Es handelt sich um einen Komplex im italienischen Stil, der von einem Militärbau-Unternehmen für umgerechnet über eine Milliarde Dollar errichtet wurde. Nach russischen Recherchen stammte das Geld aus dem Abzweigen von überteuertem medizinischem Gerät für Krankenhäuser.

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Foto: Putins „Datscha“ während des Baus 2011.

Es ist nicht nur Putin. Wie wir es uns gerne einreden. Es ist ein System, ein Verständnis von Gesellschaft, eine Diktatur.
Die Partei „Einiges Russland“ (Jedinaja Rossija, Единая Россия) regiert Russland seit nun 20 Jahren mit absoluter Mehrheit. Sie stellt sich als patriotische Mitte dar, tatsächlich ist sie mindestens so rechtsaußen wie die AfD. Mindestens.

Der Parteivorsitzende Dmitri Medwedew

Foto: Der Parteivorsitzende Dmitri Medwedew (Putin ist nicht Mitglied der Partei), ehemaliger Präsident, Ministerpräsident und nun Leiter des Sicherheitsrates.

Die Verschwundenen

Jedes Jahr fassen die russischen Streitkräfte etwa 1300 Soldaten zusammen, die „verschwunden“ sind.
Dazu werden Selbstmorde gezählt, aber auch „unerwartet Verstorbene“. Laut offiziellen Angaben begehen etwa 200 Selbstmord. Die USA kommen bei weit mehr aktiven Soldaten (1,4 Millionen) - allesamt Zeitsoldaten - auf höchstens halb so viele. Was sogar unter dem Bevölkerungsschnitt liegt.
Glaubwürdig sind die 200 dennoch nicht.

Screenshot: Russische Soldaten werden in einer Kaserne gezwungen, nackt mit den Händen das Gras zu schneiden.

Screenshot: Russische Soldaten werden in einer Kaserne gezwungen, nackt mit den Händen das Gras zu schneiden.

Nach einem „Streit“ im Februar 2003 erschießt ein Soldat vier andere und danach sich selber.
Im Oktober 2019 schießt ein Wehrdienstleistender auf seine Kameraden und tötet acht von ihnen.
Im November 2020 wurde ein junger Soldat um fünf Uhr morgens von einem Offizier „kontrolliert“. Er griff ein Beil aus einem Brandschutzkasten und schlug es dem Offizier in den Kopf. Anschließend nahm er dessen Pistole und tötete zwei weitere.
Nur wenige bekannt gewordene Fußnoten der Statistik.

Jeder vierte Soldat flüchtig

Derzeit geht man von etwa 40.000 Deserteuren aus. Diese Zahlen stammen von „westlichen“ Analysten. Das ist der Durchschnitt. Das bedeutet nicht, dass jetzt gerade 40.000 unerlaubt abwesend sind – so die deutsche Bezeichnung: UA. Sondern seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine dauerhaft. Egal wie viele gefasst oder andere neu eingezogen werden, 40.000 fehlen.

Gehen wir einmal von der Hochzeit der russischen Truppen kurz vor dem Überfall auf die Ukraine aus: Das waren geschätzt 175.000. Das bedeutet, dass fast jeder vierte Russe, der eigentlich dienen sollte, fahnenflüchtig war. Heute, drei Jahre später, werden es anteilig weit mehr sein. Russland muss inzwischen Söldner aus Nordkorea kaufen und Menschenhandel aus dem Jemen praktizieren, organisiert von den dortigen Huthi.

Ein abgemagerter russischer Soldat wird gezwungen Stromkabel zu halten. Lässt er sie beim Stromschlag vor Schmerz fallen, wird er geschlagen.

Screenshot: Ein abgemagerter russischer Soldat wird gezwungen Stromkabel zu halten. Lässt er sie beim Stromschlag vor Schmerz fallen, wird er geschlagen.

Der estländische Analyst Artur Rehi hat 2024 ausgerechnet, dass einem Russen, der sich zum Dienst in der Ukraine meldet, vom Zeitpunkt der Unterschrift durchschnittlich noch ein Monat zu leben bleibt. Durchschnittlich.
Die Ausbildung ukrainischer Soldaten im Westen auf unsere Panzer hat deutlich länger gedauert.

In Bachmut wurde es zum ersten Mal umfangreich beobachtet:
Russland schickt „Sturmtruppen“ nach vorne. Bestehend aus Wehrpflichtigen und ehemaligen Gefängnisinsassen. Deren Rekrutierung inzwischen offiziell verboten ist. Ziehen die dann das Feuer auf sich, wissen die Russen, wo die ukrainische Artillerie steht und können auf sie schießen.
Das ist natürlich nicht immer und überall so. Es zeigt aber die Logik, die Wertschätzung und die Mentalität.

Die vielen Videos zeigen immer wieder den Beschuss von russischen Fahrzeugen, die fluchtartig zurückgelassen werden. Und immer wieder sind Truppen zu sehen, die augenscheinlich ohne Ausbildung sich völlig falsch verhalten und dann tot auf den Äckern der Ukraine liegen bleiben.
Ein Video zeigte einen Soldaten, der mit dem Fuß an etwas tippt. Die meterhoch fliegenden Stücke seines Körpers zeigten, dass es eine Panzermine war.

Zwei Männer werden bei der Rekrutierung mit Schlagstöcken geprügelt und mit einem Elektroschocker malträtiert.

Screenshot: Zwei Männer werden bei der Rekrutierung mit Schlagstöcken geprügelt und mit einem Elektroschocker malträtiert.

Mehr noch: Russische Kriegsgefangene haben berichtet, dass sie bei der Rückkehr von Offizieren geschlagen und gefoltert wurden, wenn zu viele überlebt haben. Weil sie dann nicht „mutig“ genug gekämpft hätten.
Laut russischen Soldaten liegt diese Quote des Lebens für diese „Sturmeinheiten“ bei fünf Prozent.

Offiziere, die bei uns Kompanien und Bataillone führen („Führen von Vorne“), gibt es dort nicht. Diejenigen, die wir in Drohnenvideos weglaufen oder auf Minen treten sehen, sind Wehrpflichtige, Gezogene, einfache Soldaten.
Die Offiziere bleiben Kilometer weit dahinter.

Die Unerträglichkeit der Realität

Wenn schon dieser Realitätsabgleich an der psychischen Gesundheit zehrt, sollte man hinterfragen, was das wohl über das russische Selbstverständnis aussagt. Und darüber, was wir als „psychische Gesundheit“ definieren.

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Screenshot Drohnenvideo: Ein verletzter russischer Soldat versucht sich mit seiner Kalaschnikow zu erschießen. Als diese auch beim zweiten Versuch nicht funktioniert, bleibt er weinend liegen, das Video bricht ab. Es gibt auch mehrere Videos, in denen Verletzte von Kameraden erschossen wurden und weitere Selbsttötungen.

„Ich glaube, das wichtigste, das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden. Mit diesem Lechzen nach Leid scheint es von jeher infiziert zu sein. Der Strom der Leiden fließt durch seine ganze Geschichte; er kommt nicht nur von äußeren Schicksalsschlägen, sondern entspringt der Tiefe des Volksherzens. Das russische Volk findet in seinem Leiden gleichsam Genuss.“
Fjodor Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers, 1873

Die russische Seele scheint für Europäer unergründlich. Denn wie wollen wir, mit unserer als höchstem Ideal angebeteten Individualität, auch nur ansatzweise eine Möglichkeit haben zu verstehen, wie wenig Russen sich selber wertzuschätzen scheinen. Das Volk ist lediglich eine Verhandlungsmasse. Und es scheint sich selber so zu verstehen.

Putin ist nichts anderes als ein Zar, der unantastbare Pharao, der Caesar, der Halbgott in seinen Hallen aus Marmor. Geboren aus dem KGB und der St. Petersburger Mafia. Wie schon beim Zaren und den Parteivorsitzenden der Sowjetunion ist es kulturbedingt unmöglich, dass er Fehler machen kann. Und deshalb müssen alle Fehler und Erfolglosigkeiten, die unterlaufen, von anderen unter ihm verursacht worden sein. Deshalb fallen dann auch hochrangige Menschen in ihrem Flugzeug vom Himmel oder vom Balkon. Oder werden wenigstens vor laufenden Kameras zusammengeschissen und erniedrigt, ausgestrahlt zur besten Sendezeit. Und deshalb werden Bürgermeistern und Gouverneuren die Ausweise abgenommen, damit sie sich nicht absetzen können.

Wir Deutsche sagen uns gerne Obrigkeitshörigkeit nach. In der russischen Seele scheint sie implizit.
Aber nach zwei kurzen Zeitfenstern des Personenkultes im vergangenen Jahrhundert, die Millionen Leben gekostet haben, scheinen wir sie schnell wieder abgelegt zu haben. Mehr noch, wir reagieren allergisch auf den bloßen Verdacht.
Aus unseren friedensverwahrlosten Augen muss es so scheinen, als sei das ein normaler Krieg. Als hätten beide Seiten ein berechtigtes Interesse. Als gäbe es auf beiden Seiten Unmenschlichkeiten. Die es nun einmal in jedem Krieg gibt. Weil wir es so wollen. Weil alles andere unser Weltbild und unsere Selbstzufriedenheit in Frage stellen würde.

Das Problem daran ist, dass es auf russischer Seite über hundertjährige Tradition hat. Das wir uns nicht eingestehen, was doch so offensichtlich ist. Nicht einzelne Unmenschlichkeiten sind entscheidend, sondern wenn sie systemisch sind.
Nicht Europa ist der Maßstab der Realität, es ist die Ausnahme.

Die Frage ist nur, was wir uns erlauben zu sehen und zu verstehen. Wie weit wir uns trauen, die Realität unser europäisches, egozentrisches Weltbild hinterfragen zu lassen.
Und weil wir uns davor scheuen, können Politiker, Professoren, Sicherheitsexperten und andere uns im Fernsehen erzählen, käme es nur zu Verhandlungen, sei bald Friede und alles sei gut.
Wie dieser Frieden in Donezk und auf der Krim aussieht, werden erst Historiker in einigen Jahren ans Licht bringen. Doch dann wird keiner mehr zuhören.

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Foto: Ein weinender ukrainischer Soldat über hastig aufgeschütteten Gräbern seiner Kameraden.



Erschienen auf steadyhq