von Mirjam Lübke...
Vielleicht hatte derjenige, der den Shitstorm gegen den Ravensburger-Verlag initiiert hat, eine ebenso Karl-May-vernarrte Schulfreundin wie ich: Ihre Videokassette von "Winnetou 3" wies schon deutliche Gebrauchsspuren auf, da sich der Häuptling der Apachen mit der Rückspultaste zuverlässig wieder zum Leben erwecken ließ. Damals war es durchaus noch nicht selbstverständlich, ein VHS-Gerät zu besitzen und es wurde eifersüchtig gehütet. Wenn durch die Eltern eine Winnetou-Pause angeordnet wurde, gab es auch noch die Schallplatte mit der Filmmusik. Derselbe Komponist schuf übrigens auch die Melodie des »Traumschiffs«.
Der Ritter der Gerechtigkeit, welcher den Verlag nötigte, den "jungen Häuptling Winnetou" aus dem Sortiment zu nehmen, handelte also eventuell nicht ganz uneigennützig. Das ist natürlich wieder reine Spekulation von mir, aber ich stellte mir vor, wie der Zensor seine gesamte Internetblase zum Schreiben von Protestmails motivierte, um eine breite Welle der Empörung zu simulieren. Die Normalbevölkerung findet es nämlich einigermaßen albern, ein harmloses Jugendbuch aus dem Verkehr zu ziehen – da ist mit derlei Boykottaufrufen kein Blumentopf zu gewinnen. Darüber hinaus kann ich mir auch nicht vorstellen, dass in den USA die Straßen von weinenden Ureinwohnern gesäumt werden, welche den Gedanken an einen in Deutschland ersonnenen Apachen-Häuptling nicht ertragen können. Im Gegensatz zu den Angehörigen der Religion des Friedens versammeln sich Indianer gewöhnlich nicht zur Bücherverbrennung. "Grabt das Kriegsbeil aus - die Europäer haben Manitu lächerlich gemacht!" – das wird man von ihnen nicht hören. Da käme eher John Wayne an den Marterpfahl, wenn er noch unter den Lebenden weilte.
Winnetou kann sich aus Sicht des guten Deutschen allerdings nur noch der Verdammnis entziehen, indem er sich zur Squaw erklärt oder endlich Old Shatterhand heiratet. Oder besser beides auf einmal. Dann handelt Winnetou 4 vom gemeinsamen Aufbau ihrer Bio-Bison-Ranch, bei dem sie sich beide unglücklich in die Transtierärztin "Flauschige Feder" verlieben. Oder sie verkaufen nachhaltig hergestellte indigene Kleidung aus Öko-Hanf.
Wenn das so weitergeht, werden wir uns bald wirklich nur noch Dokumentationen über die Herstellung von Käse anschauen und Bücher über die besten veganen Rezepte lesen dürfen. Für etwas Abwechslung kann man sich unter einem Vorwand die Schulbücher der Nachbarskinder ausleihen. Mit spannenden Geschichten über Kolonialismus und einer Menge Schaubildern zu allen Spielarten der Sexualität. Wo sonst kann man sich noch guten Gewissens Lederkleidung anschauen? Schon die Jüngsten bekommen stärkeren Tobak vorgesetzt als wir Erwachsenen uns anschauen dürfen, damit sie zu woken Gutmenschen heranwachsen, deren provokantestes Buch im Regal die Biographie von Annalena Baerbock ist.
Damals wurde ich oft schräg angeschaut, weil ich „Jungsbücher“ las anstatt Internats- und Ponyhofgeschichten. Aber wenn ich bedenke, dass man heute deshalb gleich an meiner Geschlechtsidentität zweifeln würde, erscheint mir das im Nachhinein als eher harmloses Hindernis. Meine liebste Jugendbuchserie verstand sich damals als antirassistisch, heute würden Tugendwächter die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Selbst mir fiel auf, dass sich hier oft Klischees aneinanderreihten: Der Oberschurke war ein amerikanischer General, sein chinesischer Gegenspieler ein weiser, dichtender Philosoph - und das, obwohl die ersten Bücher noch zu Maos Lebzeiten erschienen. Afrikaner und Zigeuner hatten stets Rhythmus im Blut, erledigten aber ihre Jobs als Piloten mit Bravour. Später gab es auch noch eine fesche polnische Astrophysikerin und einen italienischen Koch, der jedes Gericht nach einem Komponisten benannte. Hat mich das davon abgehalten, die Bücher zu lesen? Natürlich nicht, ich wollte schließlich wissen, in welche Schwierigkeiten „meine Crew“ nun wieder gerät und ob sie die Welt rettet. Manchmal gelang das nur teilweise, denn auch diese Buchreihe ging mit der Zeit: Irgendwer hatte die wenig intelligente Idee gehabt, Atommüll im Kilimandscharo einzulagern und der Abtransport zur Sonne ging schief. In den Achtzigern fanden wir es sehr aufgeklärt, über so etwas zu schreiben.
Allerdings frage ich mich oft, warum es in Deutschland so leicht ist, mit Zensurfantasien durchzukommen. Es ist das eine, ein bestimmtes Werk furchtbar zu finden und seine Meinung dazu kundzutun. Das ist vollkommen in Ordnung, man muss etwas auch schrecklich finden und mehr oder minder berechtigte Kritik äußern dürfen. Etwas anderes ist es, ein Werk deshalb unzugänglich machen zu wollen. Die Frage aller Fragen jedoch dreht sich darum, warum Veranstalter und Verlage im Nu vor organisierter Empörung einknicken. Und warum wirkte der Protest bei der diesjährigen "documenta" erst so spät, während der arme Winnetou der politischen Korrektheit geradezu begeistert geopfert wird? Der Verlag hätte einfach nur darauf verweisen müssen, dass es sich beim jungen Häuptling nicht um ein ethnologisches Fachbuch handelt, sondern um eine Abenteuergeschichte.
Seit langem schon bin ich der Auffassung, dass der Grad von Empörung sich in Deutschland daran orientiert, welches Ziel der Empörte wirklich verfolgt. Die Vermeidung allgemeiner Diskriminierung kann es nicht sein, dazu ist das Engagement zu ungleich verteilt. Derzeit ist es sehr angesagt, sich mit den Spätschäden des Kolonialismus zu beschäftigen, aber da die indigenen Ureinwohner Amerikas eher von Konservativen geliebt werden – übrigens auch nicht immer ganz uneigennützig – spielen sie dabei nur eine untergeordnete Rolle. Sonst müsste es im Zuge der derzeitigen „woken“ Filmkultur gerade sehr beliebt sein, Indianer auf der Szene erscheinen zu lassen. Die Drehbücher für Filme, in die Schwarze „eingebaut“ werden, stammen schließlich häufig ebenfalls aus der Feder von weißen Schreibern. Das stellt seltsamerweise kein Problem dar. Wenn Winnetou wenigstens von Old Shatterhand erschossen worden wäre – daraus hätte man etwas machen können! So ein weißer Schurke geht immer. Aber echte Freundschaft zwischen einem Europäer und einem Indianer, das ist den Gutmenschen dann wohl doch suspekt!
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