Der jüdische Publizist Henryk M. Broder findet, die klassische deutsche Definition von Judenhass - Auschwitz - reicht längst nicht mehr. Und er fordert mehr Solidarität mit den lebenden Juden.
Immer streitbar: "Das tiefe Bad in der Geschichte reicht mir langsam", betont Broder. Er sorgt sich eher um den Fortbestand Israels.
Fühlen Sie sich noch sicher in Deutschland – als prominenter Jude, der gerne auch mal provoziert?
Henryk M. Broder: Ich habe keinen Anlass, mich unsicher zu fühlen. Ich werde nicht bedroht. Und wenn mich jemand auf der Straße anhält, dann höchstens, um mir die Hand zu drücken und „+Weiter so!“ zu rufen.
Wenn schon Renate Künast übelste Schmähungen über sich ergehen lassen muss, ist es bei Ihnen vermutlich ähnlich schlimm.
Nein, ich bekomme kaum Hassbriefe. Höchstens ein- bis zweimal im Monat kommt so eine Dreckspost bei mir an. Aber ich gehe damit nicht in die Öffentlichkeit, weil das ja andere Leute nur animiert.
Gehen die Sie nur wegen Ihrer politischen Positionen an? Oder hat das auch einen antisemitischen Tonfall?
Ja, durchaus, aber irgendwie auch auf eine lächerliche Weise. Der letzte hatte mir geschrieben: Gehen Sie doch zurück nach Israel! Und am Ende dann: Gehen Sie auch noch zurück nach Polen!
Da hatte er Sie wohl noch einmal gegoogelt.
Wahrscheinlich. Ich habe ihn dann schriftlich gebeten, sich doch bitte zu entscheiden.
Wie erklären Sie sich denn die relativ wenigen Hass-Mails an Sie?
Vielleicht damit, dass ich mit einer gewissen Aggressivität auftrete. Das hält wohl viele ab. Was Hater ermutigt, ist eine gewisse geduckte Haltung und die Opferbereitschaft ihres Hassobjekts. Wer sich als Opfer darstellt, wird auch als Opfer behandelt.
Alice Weidel, die Fraktionschefin der AfD im Bundestag, hat nach dem Anschlag von Halle sehr schnell ihre Betroffenheit per Twitter bekundet. Wie glaubwürdig finden Sie das?
Warum gehen Sie erst einmal davon aus, dass die Reaktion von Frau Weidel nicht glaubwürdig ist? Ich hätte eher mit der Frage gerechnet, ob es glaubwürdig ist, wenn sich die Kanzlerin am Abend des Anschlags in die Reihe der Trauernden vor der Alten Synagoge in Berlin einreiht. Sie hat immerhin ein Jahr gebraucht, bis sie die Angehörigen der Opfer vom Breitscheid-Platz traf. (Nach dem Abschlag des Islamisten Anis Amir auf den dortigen Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016, die Red.)
Das beantwortet aber meine Frage nach Frau Weidel nicht.
Ich weiß nicht, warum ich an deren Glaubwürdigkeit zweifeln sollte. Die einzige gute und vernünftige Rede zum 70. Jahrestag der Gründung Israels war – so leid es mir tut – jene von Alexander Gauland. Ich fand es sehr peinlich, dass sich anschließend zum Beifall keine Hand rührte, bloß weil er AfD-Fraktionschef ist. Das sind keine guten demokratischen Umgangsformen.
Andererseits hat er das NS-Regime schon als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet und Thüringens AfD-Chef Björn Höcke nennt das Holocaust-Mahnmal ein „Denkmal der Schande“. Ist das nun doof oder demagogisch?
Ich könnte Ihnen auch ähnliche Fälle aus dem Milieu der Grünen oder der Linken aufzählen, aber ich will die Debatte nicht auf die Linken lenken. Gaulands Vogelschiss-Äußerung ist unverzeihlich, auch wenn er sich dafür mehrfach entschuldigt hat. Das Dritte Reich war alles, nur kein Vogelschiss, selbst wenn man den Holocaust herausnimmt: Verfolgung anderer Minderheiten, der Opposition, 20.000 Todesurteile gegen Deserteure... Natürlich war der Holocaust der dramatische Höhepunkt dieses staatlichen Wahnsinns.
Und Höcke?
Diese Aufregung verstehe ich nicht, denn das Mahnmal ist ein Denkmal der Schande: Der Holocaust hat Schande über Deutschland gebracht, und dies dokumentiert das Denkmal.
Und genau das soll Höcke gemeint haben?
Es kann schon sein, dass er mit Bedeutungen und Interpretationen gespielt hat. Ist der Holocaust eine Schande oder das Denkmal, das an ihn gemahnt. Es changiert wohl dazwischen.
In einer rechten österreichischen Zeitschrift wurden Überlebende des KZ Mauthausen als „Landplage“ bezeichnet, und die heimische Justiz hatte kein Problem damit. Heute aber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dem greisen jüdischen Kläger Schadenersatz zugebilligt. Ist der Fall damit tröstlich oder alarmierend?
Alarmierend. So etwas sollte nicht passieren, doch es passiert ständig. Aber Sie fragen mich nach lauter retrospektiven Sachen. Viel schlimmer als diesen ganzen alten Nazi-Zirkus finde ich, dass die Bundesrepublik sehr produktive und freundschaftliche Beziehungen zum Iran unterhält, der mit aller Klarheit verspricht, den Job der Nazis zu Ende zu bringen. Die Entgleisungen alter Nazis sind widerlich, aber sie sind heute auch unmaßgeblich. Die heutige Gesellschaft hat große Sympathien für tote Juden, tut sich aber schwer damit, sich für die lebenden Juden einzusetzen.
Der mutmaßliche Täter von Halle wird sich als Rechtsextremist doch eher an den alten Nazis orientieren als an den heutigen Fanatikern im Iran.
Das weiß ich nicht, das muss man ihn jetzt erst einmal fragen. Doch das tiefe Bad in der Geschichte, das wir alle noch jeden Tag nehmen, reicht mir langsam. Ich mache mir Sorgen um den Fortbestand von Israel, und der Kampf gegen den Antisemitismus sollte mit der deutschen Iran-Politik anfangen.
Wie sollte die aussehen? Totale Isolation?
Nein, ich bin gegen Isolation und Boykotte. Ich bin sehr dafür, mit Gegnern und auch mit Feinden zu sprechen. Man muss ihnen nur klar machen, dass sie mit der Politik, die sie betreiben, nicht weit kommen werden und auf unsere Unterstützung verzichten müssen, wirtschaftlich wie politisch.
Antisemitismus kommt ja nicht nur aus der rechten Ecke. Sind die Engagierten „gegen rechts“ zu nachsichtig mit islamistischen Judenfeinden?
Vielleicht haben sie einfach zu wenig Ahnung davon. Die klassische deutsche Definition des Antisemitismus lautet „Auschwitz“. Vor 30 Jahren habe ich geschrieben, es gebe auch linken Antisemitismus – darüber regte sich dann die ganze Kulturszene auf. Dabei hatten auch schon kluge Leute wie Jean-Paul Sartre und Jean Améry darüber geschrieben. Und nun dauert es eine Weile, bis sich die intellektuelle Öffentlichkeit damit abgefunden hat, dass es auch einen islamischen Antisemitismus gibt. Nicht die Moslems sind Antisemiten, aber es gibt im Islam ein antisemitisches Potenzial.
Die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft betont nach dem Hallenser Anschlag, sie sei „ausdrücklich gegen jeglichen Antisemitismus und Fremdenhass“. Das ist doch gut, oder?
Das ist etwa so wie ein Bekenntnis gegen die Prügelstrafe – aber wenn sich das Kind schlecht benimmt, kann einem schon einmal die Hand ausrutschen. Das Programm der DPG ist Hetze pur – nur eben keine Hetze gegen Juden, sondern gegen Israel. Das ist keine berechtigte Kritik an seiner Politik, sondern das ist schlicht die Delegitimierung Israels als jüdischer Staat.
Die BDS-Aktivisten (Boykott, Desinvestition, Sanktionen) kommen eher aus der linken Ecke als von rechtsaußen.
Richtig, aus der anti-imperialistischen Ecke. Und ich unterstütze die, wo ich kann.
Wie bitte?
Bei einem umfassenden Boykott israelischer Produkte käme in Europa vieles zum Stillstand. Es gibt kaum ein Handy und kaum einen Computer, in den nicht israelische Teile verbaut sind. Der USB-Stick ist ebenso eine israelische Erfindung wie die Cherrytomate. In jedem Krankenhaus stehen israelische Apparate, Ratiopharm gehört ebenso Israelis wie Märklin. Kurz: BDS könnte seine Boykottforderungen wohl nur noch trommelnd verbreiten.
Wo fängt Antisemitismus eigentlich an? Schon mit einer Karikatur, die Israels Premier Netanjahu als Blindenhund von US-Präsident Trump zeigt?
Ich glaube nicht. Man kann nicht wegen einer missliebigen, vielleicht auch bösartigen Meinung die Meinungsfreiheit abschaffen. Ich fand die Karikatur in der „New York Times“ eher harmlos. Und wirklich antisemitische Karikaturen gab es schon lange vor den Nazis, etwa während der Dreyfus-Affäre 1894 in Frankreich. Antisemitismus fängt dort an, wo man Juden etwas übel nimmt, was man anderen nicht übelnehmen würde.
Zum Beispiel?
Es kann schon sein, dass Israel gegenüber den Palästinensern manchmal unverhältnismäßig handelt. Dagegen gibt es dann Proteste, aber man hört von diesen Leuten nichts zur Unterdrückung der muslimischen Uiguren in China. Ein amerikanischer Witz sagt: Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es an sich natürlich ist.
Aber wo liegen die Ursachen dafür?
Das Phänomen ist wie eine Krankheit, es ist nicht rational zu erklären.
Und gibt es eine Vorbeugung, etwa durch politische Bildung?
Nein, es ist nicht therapierbar. Es ist ja auch kein Phänomen, das nur bei dummen oder ungebildeten Leuten vorkommt. Und dumme Juden provozieren Antisemitismus genauso wie gebildete, arme ebenso wie reiche, linke wie rechte. Spiegelbildlich haben Sie genau das gleiche auf der Seite der Judenhasser. Deshalb hilft Aufklärung leider nicht oder nur bedingt.
Gerade erst haben Sie sich über die Regierungskampagne „Wir sind Rechtsstaat“ mokiert. Wie es aussieht, kann man dessen Prinzipien doch gar nicht oft genug betonen.
Er ist das Beste, was wir haben. Aber ich werde skeptisch, wenn man das Selbstverständliche betonen muss. Man muss es praktizieren: Wenn die Justiz Verfahren nicht erledigen kann, weil sie völlig überlastet ist, dann muss man dagegen etwas unternehmen. Eine intakte Justiz ist eine tragende Säule des Rechtsstaates, eine wohlfeile Kampagne ist es nicht.
Zum Abschluss vervollständigen Sie bitte diesen Satz: Als Jude ist man auch heute…
…ein Exot, aber das macht nichts.
Henryk M. Broder (73) ist Buchautor, Publizist und Mitgründer der Website „Achse des Guten“. Nach Bremen hatte ihn die Gesellschaft für Deutsche Sprache eingeladen, mit dem
WESER-KURIER sprach er zuvor über alte und neue Judenfeindlichkeit.