von Mirjam Lübke...
Ein Foto von Luisa Neubauer wird derzeit in den sozialen Medien herumgereicht - es zeigt sie, wie sie gelangweilt an der Wand eines Aufzugs lehnt, betont schlicht (aber teuer) gekleidet, darunter ist ein Solidaritätssticker mit der Ukraine angebracht. Das gehört sich jetzt so, das ist woke. Vielleicht gibt es bald auch welche mit Glitzersternchen. "Ey, Mandy-Chantal, ich weiß zwar nicht, wo diese Ukraine ist, von der jetzt alle labern, aber der Sticker ist schon geil!" - "Ja, morgen kleben wir uns alle vor der russischen Botschaft auf den Boden, um ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen." - "Da kann ich nicht, Moms SUV ist beim TÜV und ich versau' mir doch nicht die Klamotten in der U-Bahn!"
Während meine Generation dunkle Wolken am Horizont aufziehen sieht - oder wahlweise auch schon Atompilze über deutschen Städten - ist "Generation woke" jetzt erst einmal mit dem Setzen von Zeichen beschäftigt. Im Falle von Friedensdemos ist das sogar eine gute Sache, denn plötzlich könnten sich Lauterbach-Fans und "Querdenker" an einem Strang ziehend Seite an Seite wiederfinden. Wenn die Erkenntnis reift, dass in der Welt Gefahren existieren, gegen die Corona tatsächlich ein Schnüpfchen ist. Hat Karl Lauterbach Putin eigentlich schon darauf aufmerksam gemacht, dass radioaktiver Fallout ganz üble Mutationen des Corona-Virus auslösen könnte? Wahrscheinlich ist das seine ärgste Sorge derzeit. Natürlich hören unsere Alltagssorgen mit der Ukraine-Krise nicht auf, aber ich frage mich, ob allen Haltungszeigern klar ist, was noch auf uns zukommen könnte, nachdem Deutschland sich den Sanktionen gegen Russland in vollem Umfang angeschlossen hat. Es geht mir dabei nicht um eine moralische Bewertung, sondern einzig allein um das Nachdenken über Konsequenzen. Eine Luisa Neubauer wird in ihrem wohlhabenden Elternhaus nicht viel davon spüren, ihre Anhänger allerdings schon. Und wenn die Konsequenz daraus besteht, demnächst wieder zur Schule laufen zu müssen.
"In 15 Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm,
sie lassen ihre Panzer im Parkhaus steh'n
und woll'n im Café Kranzler Sahnetörtchen sehen."
Das sang Udo Lindenberg in den Achtzigern, das Lied geht mir seit ein paar Tagen im Kopf herum. Die deutsche Wokeness zeigt derzeit nämlich auch wieder ihr hässliches Gesicht. Auch ohne Panzer werden Russen bereits jetzt in manchen Gastronomiebetrieben nicht mehr bewirtet - "um ein Zeichen zu setzen". Man könnte sein Lokal auch zur neutralen Zone erklären, als Mini-Schweiz, in der hier lebende Russen und Ukrainer ein Friedensbier miteinander trinken könnten, da es nun wirklich nicht nötig ist, dass sich auch die hier Lebenden in die Wolle bekommen. Aber nein, wenn deutsche Gutmenschen ein Zeichen setzen wollen, läuft das meist auf einen Tritt nach unten hinaus. AfD-Wähler, Ungeimpfte und nun auch noch Russen - man macht sehr deutlich, wie wenig man am Dialog interessiert ist, den sollen bitte nur Putin und Selensky führen - vielleicht mit weiser Mediation durch Annalena Baerbock. Ein Edeka-Markt in Kiel hat sogar Putin höchstpersönlich Hausverbot erteilt - es ist so herrlich, wenn man Haltung zeigen kann, ohne dass es etwas kostet.
Das Zeigen von Haltung hat derzeit auch in den sozialen Medien wieder Konjunktur, wir kennen das Phänomen bereits von Corona: Wahlweise wurden Impfskeptiker oder Impffreunde entfreundet, jetzt wird die Haltung zu Putin abgefragt. Grautöne gibt es dabei nicht, so als wäre es unmöglich, gegen den Einmarsch in die Ukraine zu sein, mit den Ukrainern zu fühlen aber trotzdem über mögliche Fehler der westlichen Politik nachzudenken. Hinter Haltung kann man sich nämlich auch großartig verstecken (und sich dann ein paar Jahre später wundern, warum wieder niemand etwas gelernt hat). Haltung als Diskussionsbremse nutzt niemandem etwas.
"Generation woke" will um jeden Preis alles richtig machen und sich jedem Trend anpassen. Aber den wenigsten ist dabei klar, dass Haltung ohne die Bereitschaft, auch einen eigenen Preis zu bezahlen, nichts wert ist und einen auch nicht vertrauenswürdig macht. Welches Thema wird morgen welches Signal in der Öffentlichkeit erfordern? Da müssen wir schon aufpassen, nicht eines Tages das falsche Fähnchen in den Wind hängen.
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