Samstag, 5. März 2022

Deutschland zeigt Haltung! (Mal wieder...)

von Mirjam Lübke...

"Also, wir kaufen ja jetzt keine Brezeln mehr, diesem Hitler muss man es mal richtig zeigen!" - "Wir essen keinen Reis, dann werden die Chinesen Tibet sofort räumen!" - "Käse aus Frankreich, mon dieu! Bist du etwa für Chiracs Atombomben-Tests?" 


Zugegeben, nur das letzte Beispiel habe ich mit eigenen Ohren gehört, irgendwann in den Neunzigern, als Mitstudenten tatsächlich glaubten, so den französischen Präsidenten von seinen Nuklearversuchen abzubringen. Es hat auch etwas Rührendes, wenn Menschen in ihrer Machtlosigkeit voller Ernst solche Maßnahmen ergreifen, um "wenigstens etwas für den Frieden zu tun" - derzeit gibt es den Trend, aus Protest gegen Putin die Heizung abzudrehen, Stefanie macht es vor. Wenn die Dame unbedingt frieren möchte, wäre es aber wohl sinnvoller, eine Demo zu organisieren, dann kann man wenigstens einträchtig bibbern. Und mit anderen Menschen über seine Kriegsängste sprechen. Gemeinsam trägt man leichter daran - oder macht sich erst Recht gegenseitig kirre. Meine Mutter und ich trugen am Sonntag Putin noch nach, dass er uns 2014 die lange Donaufahrt versaut hat. Immerhin bis Ungarn sind wir gekommen. 

Da Deutschland nur etwa die Hälfte seines Gases aus Russland bezieht, muss sich die Dame zudem entscheiden, in welchem Schichtsystem sie frieren möchte. Vielleicht nicht gerade beim ARD-Brennpunkt zur Krise, sondern lieber nachts um drei, wenn man sich in seine dicke Daunendecke wickeln kann - der gute Wille zählt allemal. 

Diese Formen des "Haltungzeigens" schaden wenigstens niemandem. Vielleicht denkt Stefanie dann auch einmal darüber nach, dass es in Deutschland Menschen gibt, welche sich eine gut geheizte Wohnung schon seit Jahren wegen gestiegener Energiepreise nicht mehr leisten können oder als Luxus betrachten, den man sich nur gönnt, wenn Besuch kommt. Ganz ohne Putin und seine Ambitionen. 
Beschämend wird es allerdings, wenn die stramme Haltung an Menschen russischer Herkunft ausgetobt wird, die unter uns in Deutschland leben. Zum Glück haben sich die Franzosen nicht an Putins Seite gestellt, dann hieße es jetzt wieder "Jeder Schuss ein Russ', jeder Stoß ein Franzos'". Den Zupfkuchen hat es auch erwischt, er wird nun seines Russischseins beraubt. Eine Bäckereikette forderte ihre Filialen auf, neue Schilder in die Theken zu stellen. Wann wird aus "Russisch Ei" das "Oeuf Zelensky"? Oder ein Freiheitsei in Aspik? Russische Künstler sind plötzlich auch verdächtig - schließlich wissen unsere Kulturschaffenden nur zu gut, wie sie sich selbst in der Corona-Krise an unsere Regierung angebiedert haben, dann wird das bei Anna Netrebko wohl auch der Fall sein. Einem russischem Dirigenten wurde in München gekündigt, weil er sich nicht zur Ukraine-Krise geäußert hatte. Neutralität zählt als Zustimmung zum Bösen. 

Die Aufmerksamkeit dieser deutschen Bessermenschen folgt stets der gesellschaftlichen Mode und den Fernsehkameras. "Man darf nicht pauschalisieren", heißt es, wenn wieder einmal ein Attentat durch einen Angehörigen der Religion des Friedens stattfindet. "Das hat alles nichts mit seiner Religion zu tun!" Stimmt - nicht jeder Glaubensgenosse von Anis Amri ist ein potentieller Killer - aber warum soll dann plötzlich alles Russische Putin repräsentieren? Der Haltungsmensch sorgt sich grundsätzlich nur um Gerechtigkeit, wenn seine Leithammel es ihm vorkauen. Im Moment zeigt sich das besonders drastisch, weil die Gesellschaft durch die Corona-Krise generell auf ein Lagerdenken ausgerichtet ist: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!"

Wird hier den Russen unter uns das zum Verhängnis, was in Deutschland unter der Agenda der "Vergangenheitsbewältigung" läuft? Schließlich sind viele Haltungsmenschen mächtig stolz darauf, wie viel sie aus dem Nationalsozialismus gelernt haben, das sollen andere ihnen erst einmal nachmachen! Nur wen sie ins Herz geschlossen haben, der darf sich allerlei erlauben, da ist selbst die absurdeste Entschuldigung nur recht und billig. Schon deshalb allein ist die Befürchtung, sie würden "es auch wieder mit Juden machen" längst von der Realität eingeholt: Aus "Solidarität mit den Palästinensern" wird seit Jahren, auch mit Unterstützung der etablierten Parteien, zum Boykott israelischer Waren aufgerufen. Sogar die immer um Haltung bemühte evangelische Kirche unterstützt die BDS-Bewegung mehr oder minder offen. 

Nun ist Israel nicht Putins Russland, es ist selbst in der Situation, seine Existenz gegen eine feindlich gesinnte Umgebung behaupten zu müssen. Aber ist es nicht interessant, wie der Gerechtigkeitssinn der Haltungsmenschen stets alten Animositäten folgt? Man kann es heute nur besser vermarkten.



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