von Mirjam Lübke...
Kann sich noch jemand an die Causa Gil Ofarim erinnern? Deren Klärung dann irgendwie im Sand verlaufen ist? Wenn er sich nicht so in Widersprüche verwickelt hätte, wäre ich geneigt gewesen, ihm zu glauben - auch wenn ich wegen eines Davidsterns noch nie Probleme hatte, in ein Hotel hineinzukommen. Allerdings löst dieses Schmuckstück bei besonders "politisch Aufgeklärten" den unwiderstehlichen Drang aus, dem Träger ein Bekenntnis abzunötigen - der Tonfall dabei ähnelt dem Verlauf einer Achterbahn. Man nimmt Anlauf, schraubt sich in schwindelerregende Höhen und saust anschließend mit Schwung in den Abgrund: "Finden Sie das etwa guuuut, was die mit den Palästinensern machen?"
Am liebsten würde man lapidar antworten "Klar, immer feste druff!", aber unterlässt es aus zwischenmenschlichem Anstand. Zu Wort käme man ohnehin nicht, denn der Bekenntnisjäger hat längst zu einer Tirade über das in seinen Augen Verwerfliche angehoben, die man kaum noch unterbrechen kann. Seine Meinung ist gestählt durch Tagesschau, Süddeutsche Zeitung und den Spiegel, dagegen kann man als normaler Mensch nicht anstinken, egal, ob es nun um den Gaza-Streifen, Corona-Maßnahmen oder aktuell um die Ukraine-Krise. Es könnte auch jedes andere beliebige Thema sein, denn im Grunde ist man nur eine Deponie für jene Aggressionen, die der Haltungscholeriker nicht am Objekt seines Zorns selbst auslassen kann.
Schon eine Begegnung pro Woche mit einem Bekenntnisjäger reicht aus, um sich wie durch den Wolf gedreht zu fühlen. Und wenn es nur deshalb so ist, weil man in seiner Überrumpelung einfach nicht die richtigen Worte gefunden hat und nun vor Wut in die Tischkante beißen möchte. In Deutschland haben wir es jedoch mit einem Massenphänomen zu tun - man stürzt sich von einer Empörung in die nächste, weil man ohne eine gewisse Grundspannung nicht auskommen kann. Triebfeder dabei ist aber nicht die Liebe zu einem Thema, sondern die Angst, selbst aus der Herde der Empörten ausgestoßen zu werden. Ein steinzeitlicher Reflex mischt sich mit linker Konditionierung - wenn es mir möglich wäre, würde ich eine bundesweite Schokoladeneis-Party starten, um die allgemeine Stimmung wenigstens ein bisschen zu heben. Aber ich habe Angst, dass dann die Veganer über mich herfallen.
Zugegeben, in anderen Ländern ist man teilweise nicht weniger hysterisch. Wer schon die Lektüre von "Stolz und Vorurteil" nicht ertragen kann, weil Jane Austens Verwandter zwölften Grades eventuell jemanden kannte, der jemanden kannte, dessen Großonkel in kolonialistische Umtriebe verwickelt war, leidet derzeit natürlich unter Reizüberflutung. Auch in den USA und Kanada braucht es nur einen Empörten, der in einem Klassiker einen Stein des Anstoßes findet oder dem das Curry in der Mensa nicht so schmeckt wie das bei seinem Rucksacktrip durch Indien - schon sammelt sich ein Trupp hinter ihm, der nur auf die nächste Gelegenheit gewartet hat, einen Vernichtungsfeldzug gegen die schurkische Welt zu führen. Wenn diese Menschen doch einmal ihre überschüssige Energie nutzen würden, um etwas Sinnvolles zu tun, so etwa Deckchen zu häkeln oder Marmelade zu kochen!
Deutschland trabt derzeit diesem Trend mit besonderer Hingabe hinterher. Mittlerweile haben sich hierzulande alle einschlägigen Themen zu einem Gesinnungsklumpen verschmolzen, wie einem riesigen, blubbernden Käsefondue. Einmal nicht aufgepasst, und das Brotstück oder aber der Unvorsichtige verschwindet darin auf Nimmerwiedersehen. Bis in höchste politische Kreise steht unverrückbar fest, dass derjenige, der auch nur vom Käse nascht, auch den Rest des Topfinhalts verschlingen wird. Wer gegen die Corona-Maßnahmen spazieren geht, hat aus ihrer Sicht das Diffamierungs-Komplettpaket gekauft: Er muss Nazi, Antisemit, Rassist und neuerdings auch Putin-Versteher sein. Alles auf einmal, da kommt der ärgste Bond-Schurke nicht mit. Und die Tonangeber merken noch nicht einmal, in welche Widersprüche sie sich verwickeln, wenn sie einerseits ableugnen, es gäbe so etwas wie eine Kennzeichnung der Andersdenkenden, aber gleichzeitig am liebsten ein Etikett an jeden "Querdenker" anheften würden. Damit auch niemand übersehen wird. Hoffentlich teilen sie uns wenigstens weiße Perserkatzen zu.
Dabei ist es schlichtweg die Übertragung eigener Verhaltensweisen auf die andere Seite, weil man individuelles Denken längst verlernt hat. Wenn die Verantwortlichen in Medien und Politik nicht so darauf aus wären, Existenzen zu vernichten, könnten sie einem fast leid tun. Aber wenn man sich vor Augen führt, wem sie selbst huldigen, wird einem Angst und Bange, sollte sich eine größere Menge dahinter versammeln.
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