von Henryk M. Broder
Eine der tragenden Säulen der antisemitischen Propaganda ist der Vorwurf, dass Juden nicht-jüdische Kinder entführen, um aus ihrem Blut Matzen zu backen. Der deutsche Botschafter in Israel verbreitet aktuell Gerüchte über drei erfrorene Babys in Gaza, unter Berufung auf palästinensische Ärzte, die nicht lügen.
Steffen Seibert war elf Jahre, von 2010 bis 2021, Sprecher der Bundesregierung und zugleich Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Als beamteter Staatssekretär unterstand er direkt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Vor seiner Berufung in das Staatsamt hatte er verschiedene Posten beim ZDF mit Inhalt gefüllt, als Volontär, Auslandskorrespondent, Moderator für das „Morgenmagazin“ und das „heute journal“.
Seine Ernennung zum Botschafter in Israel kam unerwartet, war aber keine große Überraschung. Es kommt vor, dass gestandene Journalisten für ihre treuen Dienste mit einem Staatsamt belohnt werden, wie brave Kinder mit einem Lego-Kasten. (Man schaue sich nur mal die Riege der jetzigen Regierungssprecher an.) Es gibt kaum etwas Schöneres als einen Botschafterposten am Ende einer dem Staatswohl gewidmeten Karriere. Und Tel Aviv ist ein Hot Spot, eine der meistbegehrten Destinationen im AA, allen politischen Widrigkeiten zum Trotz.
Seibert, das sagen alle, die ihn kennen, nimmt seinen Job ernst. Manchmal freilich meint er es zu gut und will mehr sein als nur der Repräsentant der Bundesrepublik mit Blick übers Mittelmeer. Dann berichtet er nicht nach Berlin, sondern richtet sich direkt an die Israelis und zeigt ihnen die Gelbe beziehungsweise Rote Karte.
Eine Blase aus dem Phrasen-Speicher des AA
Zwei Tage nach Heiligabend, am 26. Dezember, war es wieder einmal so weit. Seibert twitterte auf X einen Post über drei Babys, die in Gaza erfroren waren, ohne zu sagen, wann und wo es passiert war und woher er diese Information hatte. Bei dieser Gelegenheit forderte er auch ein „Ende des Krieges und des Hamas-Terrors, Wintervorräte für die Gazaner und die Freilassung aller Geiseln“. Das klang fair und ausgewogen, richtete sich doch sein Appell scheinbar an beide Seiten, war aber nur eine Blase aus dem Phrasen-Speicher des AA.
Zu dem Krieg wäre es nicht gekommen, wenn die Hamas am 7. Oktober 2023 nicht ein Blutbad angerichtet hätte, und der Krieg wäre innerhalb von Stunden vorbei, wenn die Hamas respektive das, was von ihr übrig geblieben ist, kapitulieren und die Geiseln freilassen würde. Auch Seibert weiß das, aber er will sich nicht dem Vorwurf der Einseitigkeit aussetzen. Deswegen bucht er die drei erfrorenen Babys auf das Konto der Israelis, egal ob die Geschichte wahr ist oder nicht.
Allerdings: Nur wenige Stunden später ruderte der Botschafter zurück, nachdem sich ein Shitstorm vor seiner Haustür entladen hatte. Er sei sich nicht sicher, was passiert ist, könne sich aber vorstellen, dass ein Neugeborenes an Unterkühlung sterben könnte, das hätten Ärzte in Gaza erklärt, und er denke nicht, dass sie, die Ärzte, alle lügen würden.
Was mich angeht, bin ich ebenfalls kein Experte für Unterkühlung, kenne aber das Gefühl, wenn einem das Blut in den Adern gefriert. Bei mir tritt es immer dann ein, wenn ich Außenministerin Annalena Baerbock über die Zwei-Staaten-Lösung reden höre. Oder wenn der deutsche Botschafter in Israel Gerüchte verbreitet, unter Berufung auf palästinensische Ärzte, die nicht lügen.
Das Gruselige an dieser Erzählung ist nicht die porentiefe Naivität ihres Hauptdarstellers, es ist die Quelle, aus der sie fließt.
Die Legende lebt!
Eine der tragenden Säulen der antisemitischen Propaganda ist der Vorwurf, dass Juden gerne nicht-jüdische Kinder entführen, um aus ihrem Blut Matzen zu backen, eine Art ungesäuertes und unverderbliches Knäckebrot, das während der Pessach-Woche zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gegessen wird. Die Ritualmordlegende ist so wahr, wie es wahr ist, dass die Weisen von Zion im Weißen Haus das Sagen haben. Sie ist ein „Gerücht über die Juden“, das sich als extrem langlebig und variabel erwiesen hat. Es taucht immer wieder in neuen Versionen auf, ein fester Bestandteil der grenz- und kulturübergreifenden DNA des antisemitischen Charakters. Standfest wie eine Krupp-Kanone, unüberwindbar wie der Westwall und easy to go wie eine Handgranate.
Wie gesagt, Steffen Seibert meint es gut mit den Juden. Wie ein Sozialarbeiter, der sich um schwer erziehbare Jugendliche kümmert. Oder um Vorbestrafte, die er daran hindern möchte, rückfällig zu werden. Und er hat auch Freunde, die zu ihm halten. Zum Beispiel Volker Beck, ein grüner Ex-MdB, Multi-Tasker und seit 2022 Präsident der deutsch-israelischen Gesellschaft. Der Shitstorm gegen Seibert, postete Beck am 27. Dezember auf X, sei „völlig unangemessen“, der beanstandete Tweet entsprang „schließlich echter menschlicher Sorge“. Und: „Seibert ist ein echter Freund Israels und des jüdischen Volkes.“
Wenn das stimmt, dann drohen Israel und dem jüdischen Volk schwere Zeiten. Echt jetzt.
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