Dienstag, 4. Oktober 2016

Wenn der Historiker Politik betreibt

von Dr. Eran Yardeni...

Nahostkonflikt In seinem Buch "Gesiegt und doch verloren" bietet Ahron Bregman seinen Lesern ein monoperspektivisches Bild des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern.


„Kein Autor und und kein Historiker“, schreibt Ahron Bregman in seinem Buch „Gesiegt und doch verloren – Israel und die besetzten Gebiete“ (1), „kann sein Werk von seinen eigenen Erfahrungen, Interessen und Vorlieben ablösen“. Und die Interessen und Vorlieben des Autors sind schon auf dem inneren Teil des Buchdeckels erkennbar, wenn dort zu lesen ist, dass er am ersten Libanonkrieg (1982) als israelischer Offizier teilnahm und sich sechs Jahre später (1988) weigerte, in den besetzten Gebieten zu dienen. Kurz darauf verließ er Israel. Ob es zwischen diesen beiden Entscheidungen eine Kausalbeziehung gab, wird zwar nicht verraten, jedoch durchaus darauf hingedeutet. In seiner „persönlichen Anmerkung“ zu dem Buch sieht Bregman voraus, dass „die Leser [...] feststellen [werden], dass meine Einstellung zur Besatzung offensichtlich und meine Kritik entschieden ist, und einige meiner israelischen Landsleute werden dies vermutlich als unpatriotisch empfinden“.
Dass ein Historiker ganz bewusst und offen mit den inhärenten Einschränkungen der Geschichtsschreibung umgeht, ist eine Sache und zwar eine gute. Eine ganz andere Sache ist es aber, wenn ein Historiker anstatt gegen den unvermeidbaren Perspektivismus der Geschichtsschreibung zu steuern, sich ganz bewusst seinen Erfahrungen und den damit verbundenen emotionalen Dispositionen und ideologischen Überzeugungen unterwirft. Und das ist genau was Bregman passiert. 
Den Konstruktionsfehler des Buches findet man schon in der Einleitung: „Ich beschäftige mich zwar mit beiden Gruppen, Besetzten und Besatzern“, schreibt Bregman, „aber mein Schwerpunkt liegt zwangsläufig auf Letzteren, denn es liegt in der Natur ihrer Rolle, dass die Besatzungsmacht häufiger die treibende Kraft hinter den Ereignissen ist“. In den nächsten Zeilen erklärt er, was er mit dem Buch eigentlich beabsichtigt, denn „die Geschichte wird hier, wie auch anderswo, vom Sieger diktiert. Ich lasse die Leser dennoch die Stimmen – und auch den Schmerz – derjenigen vernehmen, die unter der Besatzung leben, helfe ihnen, deren Erfahrungen zu verstehen, und gebe der Erzählung so ein menschliches Gesicht“. 
Diese Zielsetzung ist ziemlich erstaunlich, zuerst weil sie ganz bewusst auf jeden Versuch verzichtet – wie ich später noch zeigen werde – , den Konflikt um die besetzten Gebiete als dialektisch zu betrachten. Aber wer die dialektische Bewegung des Konflikts nicht wahrnimmt , der kann auch die Kausalzusammenhänge nicht verstehen. Genauso problematisch ist der Versuch, „der Erzählung ein menschliches Gesicht“ zu geben, solange nur die Schmerzen, Ängste und das Leid der Palästinenser die Umrisse dieses Gesichts ausmachen. Dazu komme ich aber später. 
Ein gutes Beispiel – ein Beispiel neben vielen anderen – für das höchstwahrscheinlich bewusste Übersehen verschiedener Kausalbeziehungen ist immer da zu finden, wenn der Autor diedialektische Beziehung zwischen der Politik der Palästinenser auf der einen Seite und der Akzeptanz des sogenannten „Friedenslagers“ in der israelischen Bevölkerung auf der anderen Seite, völlig ignoriert. In seinem Buch verschwiegt Bregman voll und ganz die verheerenden Auswirkungen der gigantischen Welle palästinensischer Selbstmordattentate (1994-1996) auf die Akzeptanz und Popularität der Linksparteien (MERETZ und HAAVODA) und des Konzepts „Land für Frieden“, das die Basis des Oslo-Abkommens bildet. Hinter den Terrorattacken stand damals zwar die Hamas, die jeden Dialog mit Israel kategorisch ablehnte, Arafat aber hatte mit seiner sogenannten „Drehtür-Politik“ auch seine Hand im Spiel. Die Terroristen der Hamas hat er zwar festgenommen, um Israel und die internationale Gemeinschaft kurzfristig zu beschwichtigen, aber nur um sie ein paar Stunden später freizulassen. Die palästinensische Gewalt bzw. die Unfähigkeit der Fatah dagegen zu steuern, brachten die israelischen Linksparteien in Erklärungsnot. Denn schließlich sollte das Oslo-Abkommen (1993) und das Oslo-Abkommen-II (1995) den beiden Seiten eine Chance geben, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Die Terrorwelle spielte allerdings wiederumin die Hände der Rechtsparteien, die sich in ihrer These, nach der die Palästinenser jeder Art von Selbstverwaltung unfähig seien, bestätigt fühlten.
Wer diese Dialektik nicht versteht und bewusst oder unbewusst ignoriert, wer seinen Lesern keinen Blick in der Kausalbeziehung zwischen der damaligen Politik Arafats und der Akzeptanz des Oslo-Konzepts in der israelischen Bevölkerung verschafft, der schafft ein ziemlich verzerrtes und eindimensionales Bild der politischen Entwicklung in den 90ger Jahren. 
Solche konzeptuellen Fehler sind ziemlich erstaunlich, vor allem weil Bregman eine solche Kausalbeziehung in der palästinensischen Politik erkennt. Das ist auch das Leitmotiv des Buchs: Die Palästinenser reagieren während die Israelis agieren und zwar (fast) immer falsch. 
Genau in diesem Sinne – um noch ein Beispiel zu nennen – wird der erste Libanonkrieg (1982) geschildert. Das israelische Motiv fasst der Autor so zusammen: „Sharon glaubte, dass Israel die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen dazu zwingen konnte, eine dauerhafte Unterwerfung zu akzeptieren und den Kampf um die Unabhängigkeit aufzugeben, wenn es ihm gelang, Arafats Guerilla-Armee im Libanon zu besiegen und die PLO-Infrastruktur dort zu zerstören“. Was Bregman erstaunlicherweise vergisst, ist, dass die PLO von Südlibanon Nord-Israel ständig angegriffen hat. Vor allem die Städte Kriat Shmona und Nahariya wurden mehrmals mit Katyusha-Raketen angegriffen. So sind am 15.07.1981 bei einem solchen Raketen-Angriff auf Nahariya drei Israelis ums Leben gekommen und noch Dutzende wurden verletzt. Die Geschichte zeigt, dass dies nicht das erste und nicht das letzte Mal war. Wer das nicht erwähnt, führt seine Leser schlechthin in die Irre. (Bregmans unkritische Einstellung UNRWA gegenüber und das Verschweigen oder Übersehen der Korruption der Fatah als eine Ursache (neben anderen) für das politische Versagen der Palästinenser – sind nur noch zwei weitere Beispiele für seine einseitige Schilderung der Geschehnisse). 
Aber nicht nur auf der politisch-analytischen Ebene sind die Leiden und Schmerzen der Israelis völlig abwesend und werden systematisch ignoriert. Um das Leid der Palästinenser und die Ungerechtigkeit ihnen gegenüber zu zeigen, lässt Bregman Zeitzeugen reden. Aber nur palästinensische Zeitzeugen. Eine solche eindimensionale Ästhetisierung des Leids, blockiert bei den Lesern jede Möglichkeit die Situation durch die Augen und Herzen der israelischen Bevölkerung zu sehen und zu spüren. Eine multiperspektivische Erzählung wird nicht angebahnt. So bekommen die Leser ein entstelltes einseitiges Bild, als ginge es hier um einen Cartoon, in dem die (absolut) Guten gegen die (absolut) Bösen kämpfen würden. 
Sowohl das Leid der Palästinenser als auch die Schmerzen der Israelis haben eine bessere und vor allem eine anständige, denn tiefer gehende Schilderung des Konflikts verdient.
(1) Bregman, Ahron (2015) Gesiegt und doch verloren; Orell-füssli Verlag; Zürich (ISBN 9783-280-05573-1)

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