von Thomas Heck...
Erstaunlich, wie in unserer ach so aufgeklärten Zeit sich die moralischen Positionen verwischen, wie der vermeintliche Antirassist selber zum Rassisten wird, der ach so kirchenkritische Bürger angesichts des Islams feuchte Träume hat oder ach so emanzipierte Frauen sich in #MeToo-Debatten über vermeintliche Sexismus echauffieren und Gleichberechtigung einfordern, den sie den verschleierten Frauen im Iran nicht zugestehen wollen. Ein Phänomen, welches schwer zu fassen ist. Eine Diskussion, die in Deutschland nahezu nicht geführt wird.
Da muss man mal wieder in Richtung Alpen schauen, um dazu lesenswertes zu finden. So schreibt z.B. René Scheu in der NZZ in einem Essay:
Progressiv nennen sich jene, die den menschlichen Fortschritt als moralische Aufgabe betrachten. Sie greifen ein, um die Gesellschaft in die Richtung zu zwingen, die aus ihrer Sicht die einzig richtige sein kann. Ihre Zauberworte lauten Emanzipation, Integration und Inklusion, sie sehen sich als die Avantgarde von Weltoffenheit und Toleranz. Ebendiese progressiven Zeitgenossen verstricken sich in jüngster Zeit in Widersprüche, die selbst unter linken Freunden bisweilen Zweifel an der Fortschrittlichkeit ihrer Positionen nähren.
Ist es nicht erstaunlich, wenn konsequente Säkulare wie sie Toleranz gegenüber einem Islam fordern, der nicht zwischen Staat und Religion unterscheidet?
Wie kann, wer die Haltung der katholischen Kirche zu Verhütung und Priesteramt anprangert, zugleich eine Weltanschauung verteidigen, in der Frauen weniger gelten als Männer?
Wie kommt es, dass eloquente progressive Feministinnen sich für ein Recht der Frauen auf Vollverschleierung starkmachen?
Und wie lässt sich erklären, dass dieselben sich progressiv nennenden Leute, die überall rassistische Diskriminierung wittern, ihre Kritiker selbst gerne mit Verweis auf Hautfarbe und Geschlecht diskreditieren, mit Vorliebe als wütende weisse Männer?
Um dies sogleich klarzustellen: Ja, ich bin ein weisser Mann, allerdings nicht wütend, dafür überzeugt: Wenn Progressive den Reaktionären das Wort reden und erklärte Antirassisten zu Stichwortgebern der Rassisten avancieren, dann ist etwas faul im Staate. Die Paradoxien und Widersprüche, in die sich die Sachwalter des Progressismus verheddern, haben sich im Zeichen der Zuwanderung von ausserhalb Europas zweifellos akzentuiert. Sie lassen sich nurmehr unter Aufbietung beträchtlicher psychischer Ressourcen und gedanklicher Pirouetten ignorieren. Dabei stellen die Verrenkungen bloss das Ergebnis eines Denkens dar, das viel älteren Datums ist.
Niederlage des Denkens
Wache Beobachter wie Alain Finkielkraut haben dessen Konturen schon vor geraumer Zeit beschrieben. Im Jahre 1987 hat der französische Intellektuelle ein Buch veröffentlicht, an das sich heute, dreissig Jahre danach, zu erinnern lohnt: «Die Niederlage des Denkens».
Seine These: Ausgerechnet nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Linke aufgrund ihres Widerstands gegen die Nationalsozialisten die moralische Autorität auf ihrer Seite wusste, verabschiedete sie sich von der Aufklärung und dem Postulat einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft. Aus einer legitimen Kritik am Abendland wurde eine Art intellektueller Autoexorzismus, zu dessen neuem Zauberwort der Ethno- bzw. Eurozentrismus aufstieg. Was die Europäer menschliche Vernunft nennen, ist demnach auch nicht mehr als die Herrschaftsform eines Menschenschlags, der mit Kapitalismus, Imperialismus und Totalitarismus die grössten Übel der Moderne hervorgebracht hat.
Damit schütteten die Kulturkritiker jedoch das Kind mit dem Bade aus. Der neue Kulturrelativismus, der sich im neulinken Milieu in den sechziger Jahren durchzusetzen begann, unterminierte die Gleichheit der Menschen und spielte den Vertretern der neuen Rechten in die Hände; nur bedurfte es einiger Jahrzehnte, bis die Wirkungen spürbar wurden. Und genau an diesem Punkt stehen wir heute.
Finkielkraut führt als wichtigsten Zeugen dieser Entwicklung den grossen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss an. Dieser hält 1951 vor der Unesco eine Grundsatzrede, in der er der «rassischen Doktrin» zur biologischen Erklärung der Unterschiede in der Lebens- und Denkweise von Menschen eine radikale Absage erteilt. Was zählt, sind nach Lévi-Strauss vielmehr die «geographischen, historischen und soziologischen Verhältnisse», die er im Begriff der Kultur zusammenfasst.
Dabei ist klar: Es gibt keine einheitliche Entwicklung der Kultur, also gibt es keinen allgemeinen Massstab, um sie zu vergleichen. Darum gibt es auch keine Hierarchie, sondern bloss eine gleichwertige Andersheit der Kulturen. Lévi-Strauss geisselt die Arroganz des Westens, zwischen Zivilisation und Barbarei zu unterscheiden. Wer für sich in Anspruch nimmt, die Spitze der Menschheit zu repräsentieren, schliesst andere von ihr aus. Woraus folgt: «ein Barbar ist vor allem derjenige, der an die Barbarei glaubt».
1971 wird Lévi-Strauss von der Unesco wiederum zu einem Vortrag eingeladen, und diesmal sorgt er für einen Skandal, weil er etwas sagt, was die Anwesenden nicht hören wollen. Dabei zieht er bloss die Konsequenzen aus seiner früheren Intervention, ohne Rücksicht auf falsche Harmonie. Wenn es die Kulturen sind, die die Menschen in ihrer Lebensweise prägen, und wenn diese Kulturen untereinander inkommensurabel sind, dann kommt es unter verschiedenen Kulturangehörigen auch zu Abgrenzungsgesten, die bis zur Feindseligkeit reichen.
Die Verschiedenheit der Kulturen wird gleichsam verabsolutiert: Sie bedeutet zwar nicht mehr Minderwertigkeit, dafür aber absolute Distanz.
Lévi-Strauss erkennt darin ein natürliches menschliches Verhalten, das allerdings grosses Spannungspotenzial birgt. Die anderen sind keine Barbaren, aber aufgrund ihrer kulturellen Prägung eben doch Fremde, deren Andersheit für die eigene kulturelle Identität immer auch bedrohlich wirkt. Während die Kritiker dem Ethnologen vorhalten, damit die Fremdenfeindlichkeit wissenschaftlich zu legitimieren, wirft Lévi-Strauss ihnen seinerseits eine Trivialisierung des Rassismusbegriffs vor.
Rassismus ohne Rasse
Nach Finkielkraut leistet nun Lévi-Strauss trotz diesen Distanzierungen einem neuen Rassismus Vorschub, nur anders als beabsichtigt. Bei Lévi-Strauss geraten die Menschen nämlich nurmehr als Angehörige von Kulturen in den Blick, nicht aber als Individuen, die sich für oder gegen die eigenen Sitten und Werte aussprechen können.
Der Mensch ist in dieser Logik kein Entscheidungswesen mehr, er kommt vielmehr erst als Kulturwesen zu sich. Die kulturelle Verwurzelung ist für ihn absolut handlungsbestimmend. Damit befreit Lévi-Strauss den Menschen einerseits von den Fesseln der Natur, macht ihn aber anderseits zum Gefangenen seiner Kultur, ohne es zu merken.
Die Verschiedenheit der Kulturen wird nun gleichsam verabsolutiert: Sie bedeutet zwar nicht mehr Minderwertigkeit, dafür aber absolute Distanz. Die von Lévi-Strauss postulierte Gleichwertigkeit der Kulturen gerät dabei notwendigerweise in Konflikt mit der Gleichheit aller Menschen. Zugespitzt: Auch die Menschenrechte sind in dieser Optik bloss eine Erfindung des Westens und haben Gültigkeit nur für gewisse Gesellschaften (oder umgekehrt: Auch Praktiken wie Patriarchat oder Polygamie haben je nach kulturellem Kontext ihre Berechtigung).
Finkielkraut nennt diese Art der Überhöhung der Kultur einen «Rassismus ohne Rasse» und resümiert: «Ein auf die Andersartigkeit gegründeter Rassismus vertreibt den auf Ungleichwertigkeit basierenden Rassismus der ehemaligen Kolonialherren.» Was sich in beiden Fällen gleich bleibt, ist der Primat des Kollektivs über das Individuum, der Homogenität der Gemeinschaft über die Eigenständigkeit der Person, der Zugehörigkeit über die Freiheit.
Damit leistet Lévi-Strauss einem neuen Fetischismus der kulturellen Identität Vorschub, der im Individuum letztlich nichts anderes als das Glied seiner Kultur erblickt. So erstaunt es nicht, dass der Gründervater der neuen Rechten, Alain de Benoist, sich schon früh auf Lévi-Strauss beruft. Seine Feindbilder heissen Individualismus und Globalismus. Und ist es nicht genau diese Art des Denkens, die tatsächlich linke Multikulturalisten (die eine friedliche Koexistenz von Angehörigen verschiedener Kulturen fordern) und neurechte Ethnopluralisten (die von einem indifferenten Nebeneinander verschiedener, ethnisch reiner Völker träumen) in ihrem Innersten miteinander verbindet?
Falsche Dialektik
Neben dieser Art des antirassistischen Rassismus gibt es auch einen offen rassistischen Antirassismus. Finkielkraut bezieht sich auf die Vordenker des Antikolonialismus, auf Aimé Césaire und Frantz Fanon. Als exemplarischer etablierter Vertreter dieser Richtung im Nachkriegsfrankreich darf Jean-Paul Sartre gelten. Er mausert sich nach dem Krieg von einem Antifaschisten zu einem glühenden Antikolonialisten, der sich für die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt engagiert. In der Dritten Welt erkennt er den neuen dritten Stand.
Die Gewaltanwendung des neuen Proletariats gegen die Kolonialherren ist nach ihm nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Sartre schreibt ohne jeden Anflug von Ironie: «Einen Europäer erschlagen heisst zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen.»
Sartre argumentiert vor dem Hintergrund seines marxistischen dialektischen Progressismus offen rassistisch. Der Plot ist schnell erklärt: Die weissen Männer haben die halbe Welt unterdrückt, im Namen eines heuchlerischen Humanismus. Darum ist der Gegenrassismus der Unterdrückten legitim und das einzige Mittel auf dem Weg zur Befreiung der gesamten Menschheit. In Sartres Worten, niedergeschrieben im Jahre 1948: «Der Neger schafft sich einen antirassistischen Rassismus.»
Die Berufung auf die Négritude soll die neuen Proletarier vereinen, die erst nach der Machtübernahme das Menschliche in einer rassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen vermögen. Sartres Denkfehler liegt auf der Hand: Der menschliche Fortschritt hält sich nicht an die marxistische Dialektik, am Ende schafft jede Einteilung der Menschen nach Hautfarbe, Ethnie und Geschlecht bloss neue Konflikte, indem sie die Gleichheit aller Bürger unterminiert.
Und ist es nicht das, was wir heute erleben, wenn gesellschaftliche Gruppen sich über die sichtbaren Merkmale ihrer Besonderheit definieren? Ist diese Art des aggressiven Rassismus nicht das, was Anhänger der linken Identitätspolitik mit völkisch argumentierenden Identitären wider Willen verbindet?
Verrat an der einen Vernunft
Der progressive Diskurs steckt in einer Sackgasse. Die Vernunft ist nicht mehr eine, sondern viele: Es gibt eine schwarze Vernunft und eine weisse, eine männliche und eine weibliche, eine heterosexuelle und eine homosexuelle, eine säkulare und eine islamische. Was jemand sagt, ist irrelevant; was gilt, ist einzig, wer es sagt.
Die Progressiven, selbsternannte Träger von Toleranz und Offenheit, erweisen sich als Verdunkler und Wegbereiter einer neuen Ungleichheit.
Nicht mehr das Argument zählt, sondern der Absender. Wohin dies führt, zeichnet sich längst ab: in eine neue Art der fragmentierten Stammes- und Ständegesellschaft, die sich durch die Filterblasen der sozialen Netzwerke bloss noch verstärkt. Wer weiss, vielleicht wird ein Historiker die heutigen wohlhabenden Nationen dereinst als bunte Körperschaften beschreiben, die sich mit den besten Absichten freiwillig selbst ghettoisiert haben.
Die Progressiven, selbsternannte Träger von Toleranz und Offenheit, erweisen sich als Verdunkler und Wegbereiter einer neuen Ungleichheit. Die Fragmentierung der Vernunft ist auch ihr Erbe.
Immanuel Kant, der grosse Aufklärer, nennt die Vernunft einmal «den letzten Probierstein der Wahrheit». Das klingt für heutige Ohren pathetisch, aber dieses Pathos entfaltet zugleich die nötige Kraft. Vernunft meint auch und gerade das Vermögen, von sich zu abstrahieren, seine eigene Identität zu transzendieren. Widersprüche leugnet sie nicht, sondern fasst sie präzise.
Die menschliche Vernunft erlaubt einen nüchternen Blick auf die Welt, den andere teilen können. Das sollte selbst den Progressiven einleuchten, auch wenn sie sich von ihrem Überlegenheitsgefühl verabschieden müssen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen