Susanne N. (24)* und ihre Freundin Iris B. (29)* fahren nicht mehr mit der U-Bahn, wie sie es sonst oft und gerne getan haben. Beide wurden in den vergangenen Wochen mehrfach heftig in U-Bahnen rund um das Kottbusser Tor belästigt und haben sich an B.Z. gewendet, in der Hoffnung, dass die Öffentlichkeit aufmerksam wird und etwas getan wird.
Von Til Biermann und Hannes Ravic
Um zu ihrer Arbeit zu gelangen, nehmen sie jetzt ein Rad oder ein teures Taxi. Denn alles andere ist für sie zur Zeit ein gefährlicher und angsteinflößender Spießrutenlauf. Sie wollen anonym bleiben, da sie die Bahnen in Zukunft wieder nehmen müssen – wenn Corona hoffentlich bald unter Kontrolle ist und wieder mehr Fahrgäste unterwegs sind.
Ein Besuch am Kottbusser Tor
Wir, die B.Z.-Reporter Hannes Ravic und Til Biermann, haben Susanne N. und Iris B. an einem Donnerstagabend begleitet, um aufzunehmen, was am Kottbusser Tor passieren kann. Kurz bevor wir die beiden treffen, wird auf dem Platz ein Mann, offenbar aus der Junkie-Szene, von einem anderen mit einem Fahrradschloss verprügelt. Das Opfer ruft „Polizei! Polizei!“ Aber da ist niemand, der ihm zur Hilfe kommt, er rennt weg.
N. und B. wollen die U8 zum Hermannplatz nehmen und wir halten Abstand, beobachten, während sie die Treppen in die Katakomben nehmen. Sobald die beiden den Bahnhof betreten haben, nehmen mehrere junge Männer direkt Kurs auf die Frauen, kommen von allen Seiten. Schnell fallen Sprüche. „Geiler Arsch“, „Nur mal anfassen“, „Hey, Schöne“, „Sie riecht gut“. Die Männer kommen immer näher. Nach einer Minute muss das Experiment abgebrochen werden, Susanne und Iris flüchten.
Die Männer lungern auch danach noch länger im Bahnhof rum. Offenbar gehören sie zur dortigen Junkie- und Dealer-Szene. Iris B.: „Diese Leute sind sonst auch da, aber ich habe mich deswegen noch nie unsicher gefühlt, bin immer mit U-Bahnen gefahren. Denn normalerweise sind halt auch viele andere Menschen da und Geschäfte geöffnet. Zur Zeit eskaliert die Situation am Kotti.“
Susanne N. sagt danach, wie sie sich gefühlt hat. Ihr Atem und der ihrer Freundin geht schnell. Beide haben große Angst. N. sagt: „Seit Corona fahren fast keine normalen Leute mehr mit der U-Bahn. Es sind fast nur noch Männer, die wahrscheinlich Langeweile haben, vielleicht auch keine Wohnung. Ich kann zur Zeit jeder Frau nur stark abraten, die U-Bahn zu nehmen und über Kottbusser Tor zu fahren. Ich will nicht wissen, was passiert wäre, wenn wir da unten geblieben wären, wenn man mit denen alleine in einem Waggon ist oder die einen in eine Ecke ziehen.“
Für die Frauen nicht der erste Fall
Susanne N. erzählt, was ihr in den Wochen zuvor passiert sei. Sie sei vom Hermannplatz zum Kottbusser Tor gefahren. Eine ganze Traube von jungen Männern habe sich um sie gebildet, sie verfolgt. Sie sagt: „Unten im Bahnhof ist man hilflos, weil alles so verschachtelt ist. Am nächsten Tag bin ich zu Polizisten gegangen, die mit 20 Männern und Frauen am Heinrichplatz standen. Ich fragte, warum sie am Kotti nichts machen würden. Die sagten dann, sie hätten dazu jetzt wegen Corona keine Zeit, das 24 Stunden am Tag zu bewachen.“
N. glaubt, dass es, wenn es so weiter geht, im schlimmsten Fall zu einer Vergewaltigung kommen könnte. Was passiert, wenn jemand versucht, so etwas zu unterbinden, zeigt ein B.Z.-Bericht vom 23. März: Ein Mann wollte seine Freundin am Kottbusser Tor vor den Grapschern schützen und wurde dafür im U-Bahnwaggon mit Nasenbruch ins Krankenhaus geprügelt.
Iris B. wurde begrapscht
Susannes Freundin Iris B. (29)* hatte ganz Ähnliches erlebt. Sie erzählt, sie habe am Kotti in die U3 umsteigen wollen und sei an der Rolltreppe auf der Zwischenplattform von vier Männern bedrängt worden. Die hätten sich dann auf der Rolltreppe um sie formiert, ihr an den Hintern gefasst.
Am Gleis wären die dann nacheinander auf sie zugekommen und hätten ihre Telefonnummer gefordert. „Es hörte gar nicht mehr auf. Ich sagte, sie sollten wenigstens eineinhalb Meter Abstand halten wegen Corona. Die Bahn kommt nur noch alle zehn Minuten, das machte das Ganze noch unangenehmer.“
B. weiter: „Als mir das am nächsten Tag wieder passiert ist, habe ich eine Frau gebeten, ob ich neben ihr her laufen kann, weil einer mich noch vom Bahnhof Görlitzer Park aus verfolgt hat.“ Auch sie habe am Görlitzer Park stationierte Polizisten um Hilfe gebeten, auch sie sei abgewimmelt worden.
Das sagen Polizei und BVG
Die Polizei Berlin hat noch keine Auffälligkeiten in ihren Statistiken feststellen können. Aber rät zu Anzeigen, damit Erfahrungen wie die von Iris B. und Susanne N. in die Statistiken eingehen und so womöglich Maßnahmen getroffen werden können.
Ein Sprecher zu B.Z.: „Wer Opfer einer Straftat wird, sollte das bitte möglichst zeitnah anzeigen. Auch solche Sprüche sind kein Spaß, sondern bitterer Ernst im Bereich Sexualdelikte. In der Bahn hat man die Chance, über Videoaufnahmen noch jemanden zu ermitteln.“ Einen Anstieg in den Statistiken habe es noch nicht gegeben.
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Ein BVG-Sprecher sagt, alle U-Bahnhöfe seien mit Kameras ausgestattet, aber das Material würde nach 48 Stunden gelöscht werden. „Deshalb bitte möglichst bald anzeigen. Wir haben auch Leute in der Leitstelle, die machen Videobeobachtungen. Sobald man einen Notrufknopf drückt, sieht derjenige in der Leitstelle, was passiert.“ BVG-Sicherheitsleute seien am Kottbusser Tor unterwegs. Aber die könnten auch nicht an allen Bahnsteigen gleichzeitig sein.
Susanne N. sagt abschließend: „Ich hatte überlegt, Anzeige zu machen, aber nachdem ich die Polizei gefragt habe, hat sich das ziemlich sinnlos angehört. Und bislang gibt es keinen richtigen Tatbestand. Ich könnte niemanden beschreiben und ,Männer haben mir schmierige Dinge zugerufen und ich habe mit belästigt gefühlt’, bringt, glaube ich, kaum was. Ich hätte Anzeige erstattet, wenn dadurch die Chance besteht, dass der Kotti besser bewacht wird – und das wird wohl nicht der Fall sein.“
*Namen geändert