Donnerstag, 15. Dezember 2016

Frontex mehr Schlepper denn Retter

von Thomas Heck...


Das Frontex Menschen rettet, ist ein Gebot der Menschlichkeit. Niemand will Flüchtlinge ertrinken lassen, auch wenn es den Flüchtlingsgegner gerne unterstellt wird. Dabei wird zu gerne übersehen, dass es zwischen "ertrinken lassen" und "retten und nach Italien fahren" Abstufungen und andere Alternativen gibt. Frontex agiert heute jedoch mehr als Schlepper denn als Retter und transportiert Geflüchtete nicht an die nahen Küsten in Nordafrika, sondern bringt sie ins gelobte Land.


Der Spätherbst in diesem Jahr ist typisch für Sizilien. Unwetterartige Güsse, Nieselregen, stürmische Böen und windstille sonnige Tage wechseln einander ab. „Früher waren die stürmischen Tage die ruhigsten“, sagt Paul Erik Teigen. Der stämmige Mann ist Norweger, hat als Polizist in einem Städtchen nördlich der Hauptstadt Oslo gearbeitet. Bis er seinen Job eintauschte, zur europäischen Grenzschutzagentur Frontex wechselte und Kommandeur der „Siem Pilot“ wurde, eines von Norwegen gecharterten Versorgungsschiffes.

Der 50-Jährige meint nicht das Wetter. Er kennt die Stürme auf dem Mittelmeer, die mitunter zehn Meter hohen Wellen und die Gischt, die in wuchtigen Schlägen über Brücke und Deck des 88 Meter langen Schiffes fegt. „Vor einem Jahr waren diese Tage ruhig, weil keine Flüchtlingsboote von Nordafrika aus in Richtung Europa aufbrachen“, erzählt er. Doch seit einigen Monaten schreckt das Wetter weder die Flüchtlinge noch die Schlepper ab.

Für etwa 3.000 Euro wird die Überfahrt verhökert, auf Booten, die diese Bezeichnung nicht verdienen. „Noch vor zwei Jahren waren es ausgediente Fischerboote“, erzählt Teigen. „Einigermaßen stabil und seetauglich.“ Heute stechen billige, aus minderwertigem Material zusammengeklebte Schlauchboote in See, die meist schon wenige Seemeilen abseits der Küste den Wellen nicht mehr Stand hielten, berichtet er. In diesen Momenten sind die Männer und Frauen der Frontex-Einheiten oft die einzige und letzte Rettung. Was früher Ausnahmezustand war, ist heute Normalfall. Fast 170.000 Menschen sind in diesem Jahr schon aus Afrika in Italien angekommen.

Und der Andrang der Menschen, die ihr Heil in Europa suchen wollen, nimmt nicht ab. UN und nichtregierungsnahe Flüchtlingsorganisationen schätzen, dass etwa 300.000 Menschen noch auf eine Überfahrt warten. Sie campen an der libyschen Küste in Gebieten, die von Milizen kontrolliert werden und nicht unter staatlichem Einfluss stehen.


An manchen Tagen sind es 1.000 Menschen


„Dort macht jeder sein Geschäft mit den Flüchtlingen“, weiß Rune Frekhaug. Er ist norwegischer Marineoffizier und Teigens Kollege. „Wer vor Islamisten wie Boko Haram aus Westafrika flieht, ist bereit, alles zu geben, bis auf sein Leben.“ Die Menschen – meist Nigerianer, Sudanesen, aber auch Eritreer und Liberianer – kratzen das letzte bisschen Geld zusammen oder verschulden sich für die Überfahrt. Und werden nicht selten bei schlechtem Wetter in die Boote geprügelt, damit die Schlepper ihre Pläne einhalten.

Vor Libyen, eine halbe Tagesreise vom Stationierungshafen Catania entfernt, ist auch das Einsatzgebiet der „Siem Pilot“, die im Rahmen der Frontex-Mission „Triton“ unterwegs ist. Oft ist sie dann das erste Stückchen Europa, das die Flüchtlinge betreten. Wenn es die ausgezehrten Menschen bis dahin schaffen. Bis Mitte November 2016 starben laut UN-Angaben schon 4.655 Menschen. „Wir bergen aus jedem aufgebrachten Boot Leichen“, berichtet der Norweger, oft seien es Frauen und Kinder.

Die, die überleben, seien dehydriert und ausgehungert. Oft zeichnen großflächige Wunden, die massiven Verbrennungen ähneln, die Körper. „Die Mischung aus Treibstoff, Salzwasser und Sonne verätzt die Haut. Es sieht entsetzlich aus.“ 

An Bord werden sofort Männer von Frauen und Kindern getrennt. Wasserflaschen und Dauerkekse werden verteilt, die Kranken oder Verletzten erstversorgt. Vier Mediziner an Bord kümmern sich. DNA-Proben und Fingerabdrücke werden genommen. „Natürlich werden auch alle zuvor nach Waffen durchsucht“, erklärt Teigen das Prozedere. „Oft haben aber nur die Frauen ein Messer oder Ähnliches dabei, um sich auf dem Boot gegen Übergriffe wehren zu können. Das geben sie immer gleich freiwillig ab.“

Es gibt Einsätze, da drängen sich am Ende des Tages fast 1000 Menschen auf dem Achterdeck des riesigen Versorgungsschiffes. Die Anspannung fällt ab von den Menschen. Viele realisieren erst langsam, was gerade mit ihnen geschieht. Doch der Euphorie der Rettung folgen oft Depressionen oder gar Aggressionen. Die „Siem Pilot“ ist auf größere Revolten an Bord nicht vorbereitet. Zwar werden die Flüchtlinge ständig beobachtet. Doch bis auf wenige automatische Gewehre, einige Schutzschilde und Gummiknüppel sind keine Waffen an Bord. Aber die Norweger an Bord sind trickreich. Als sich einmal Unruhe auf Deck breit machte, weil sich Menschen begannen zu streiten, spielte die Fitnesstrainerin der „Siem Pilot“ Musik über Lautsprecheranlage ein und brachte die Menschen dazu, mitzusingen und zu tanzen.

Den Vorwurf, den Schleppern mit ihren Rettungsaktionen in die Hände zu arbeiten, lässt Teigen nicht gelten. „Wenn wir informiert werden, dass da ein überladenes Flüchtlingsboot auf See unterwegs ist, fahren wir los. Sollen wir sie denn ertrinken lassen?“, sagt er knapp. Außerdem leiste seine Besatzung auch echte Polizeiarbeit: Während jeder Bergungsaktion werden akribisch Film- und Fotoaufnahmen gemacht. 

Meist findet sich beim Sichten des Materials ein Hinweis darauf, dass der Schlepper selbst mit an Bord war. Teigen holt ein Foto hervor und deutet auf eine Person. „Schauen Sie diesen Mann hier an, er versucht gerade, ein Satellitentelefon zu verstecken.“ Nach Befragungen unter den Asylsuchenden bestätigte sich der Verdacht, einen Schlepper im Netz zu haben. Es war einer von den etwa 60, die in diesem Jahr schon in Italien verurteilt wurden. Aber eben nur einer, während Hunderte ungeschoren davonkommen.


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