von Dr. Eran Yardeni
Als Jude fühle ich mich meiner historischen Rolle als der ewige Sündenbock der Geschichte der Menschheit beraubt. Völlig unberechtigt finde ich, vor allem weil wir immer da waren, wo man uns nur brauchte – gar kein Ort war für uns zu weit, gar keine Arbeit zu schwer und keine Aufgabe zu gefährlich: Ob Erdbeben, Epidemien, Kriege, Bürgerkriege, Finanzkrisen, innenpolitische Katastrophen und Vulkanausbrüche – wir standen immer zur Verfügung. Einmal bereit, immer bereit!
Wir, die notwendige Begleiterscheinung eines jeden Übels, waren da, als Jesus gekreuzt wurde, als der schwarze Tod Europa überrollte, als das globale Finanzsystem kollabierte und als im Namen Allahs das World Trade Center dem Erdboden gleich gemacht wurde.
Schlachteten die Araber sich gegenseitig ab? Stand eine Ölkrise bevor? Unterdrückten die Diktatoren im Nahen Osten ihre Völker? Haben die Palästinenser der Hamas die Macht in die Hand gedrückt? Man musste uns nicht mal anrufen, wir waren schon vor Ort, um die Schuld auf uns zu nehmen.
Nach so vielen Jahren haben wir viele Erfahrungen gesammelt. Wie sind in diesem Bereich Experten geworden, was uns wiederum ein bisschen übermütig gemacht hat. Wir fühlten uns zwar ständig bedroht, dafür aber total überlegen.
Man konnte uns foltern und töten, uns enteignen, unsere Städte niederbrennen und zerstören, die Schuld aber, so haben wir gedacht, bleibt uns auf ewig erhalten. Ironischerweise haben wir angefangen, die Schuld als eine Art von Lebensversicherung zu betrachten.
Auch wenn man uns als Einzelne loswerden wollte, brauchte man uns unbedingt als gesellschaftliches Phänomen.
Jetzt aber scheint es, dass wir durch einen neuen Konkurrenten herausgefordert werden. Dieser Konkurrent – so ironisch kann nur das Schicksal sein - war vorher unser Peiniger und Henker. Die Narben, die unseren Rücken dekorieren, stammen vor allem von seiner Hand, besser gesagt – von seiner Peitsche. Aber so passiert es manchmal, dass der Protagonist und der Antagonist ihre Rolle wechseln wollen, dass der Sadist sich in die Rolle des Masochist hineinversetzt. Und jetzt ist Europa dran.
Bleibt Europa gelassen und zurückhaltend, während in Kairo und Damaskus Menschen wie Fliegen getötet und vergewaltigt werden – wird ihm vorgeworfen, an dem Tot der Unschuldigen mitschuldig zu sein. Mischte es sich aber ein, würde man sofort über einen brutalen kulturellen Imperialismus des Westens sprechen.
Wer die Zurückhaltung Europas angesichts der Nebenwirkungen des arabischen Frühlings als „zynisch“ bezeichnet, der würde auch jede Intervention in die Angelegenheiten arabischen Völker als zynisch bezeichnen, denn schließlich ginge es dem Westen angeblich nur um Macht, Öl und andere Interessen, die mit Humanismus und Menschenrechten gar nichts zu tun haben.
Im dieser No-win-Situation macht Europa das einzig Richtige, und zwar gar nichts.