von Mirjam Lübke...
Um mich nicht wieder einmal in die Nesseln zu setzen, hatte ich mir gestern noch vorgenommen, nichts mehr Sarkastisches öffentlich zu schreiben, aber heute Nacht kann ich es nicht unterdrücken: "Vor dem nächsten ESC sollten wir Putin um eine kleine Invasion bitten - dann landen wir einmal nicht auf dem letzten Platz!", dachte der auf böse Bemerkungen gepolte Teil meines Gehirns, der sich immer dann zu Wort meldet, wenn er Widersprüche in der öffentlichen Berichterstattung wittert. In meiner Fantasie musste wieder einmal Oer-Erkenschwick als Ort des Geschehens herhalten, da ist es beschaulich, schon die Landung von fünf Russen am Fallschirm könnte für den nötigen Effekt sorgen. Niemand müsste zu Schaden kommen - ein bisschen Ballern in die Luft reicht. Deshalb können wir das Szenario auch nicht nach Neukölln verlegen, dort würde man die Schießerei als Begleitmusik einer Clanhochzeit fehlinterpretieren - unsere kleine Invasion fiele dort gar nicht weiter auf.
Aber in Oer-Erkenschwick könnte sie die nötige Wirkung haben. Schaue ich mir die Kostümierung einiger Teilnehmerinnen des ESC so an, bräuchten wir dann nur noch eine blondbezopfte Schönheit im Latex-Dirndl, die zu Technobeats ein altes deutsches Volkslied jodelt, während im Hintergrund eine Gruppe von Transfrauen im noch knapperen Latex-Dirndl erotisierend eine Raketen-Attrappe umtanzt. "Die Sängerin interpretiert in ihrer ergreifenden Performance unkonventionell das Thema 'toxische Männlichkeit'", würde der Moderator mit von Pathetik bebender Stimme verkünden, während das Publikum das Latex-Dirndl bestaunt. Mal keine langweilige Ballade aus Deutschland - das ist doch einen Applaus wert! Wenn das keine zwölf Punkte gibt, ist es der Beweis, dass uns noch immer alle hassen und Annalena Baerbock zur internationalen Werbetour für Deutschland aufbrechen muss.
Das klingt makaber und geschmacklos? "Sie sollten sich was schämen, Frau Lübke, ein so ernstes Thema in den Schmutz zu ziehen!". Allerdings kann man mit der galligsten Satire die makabre Realität nicht mehr einholen. Kein Krieg ohne Propaganda - die gab es schon bei den Römern - aber in diesem Krieg sagt mir meine Wahrnehmung jeden Tag, dass hier etwas nicht zusammen passen will. Dabei geht es mir nicht um das Ableugnen tatsächlicher Gewalttaten durch die Russen, ich zweifele nicht daran, dass es hart umkämpfte Regionen gibt, in denen die Bürger leiden und in Trümmern leben. Deshalb sollten wir ukrainischen Kriegsflüchtlingen auch einen sicheren Platz bei uns anbieten. Propaganda wird natürlich auch nicht allein von der Ukraine betrieben - auch die Russen und die USA mischen kräftig mit.
Als die Angegriffenen haben die Ukrainer auch alles Recht der Welt, um Unterstützung zu bitten. Wie dick dabei aufgetragen wird, stößt allerdings bitter auf. Auch wenn dieses entschiedene Auftreten mit Verzweiflung erklärt wird, so fallen gerade deshalb einige Ungereimtheiten und Inszenierungen ins Auge. Beim gestrigen ESC stand im Vorhinein fest, dass die Ukraine gewinnen würde, aus "Solidarität" (ist das für die ukrainischen Musiker wirklich ein befriedigendes Gefühl?) - und aus Kiew meldete sich eine gutgelaunte Moderatorin zu Wort. Wie so oft in den letzten Wochen rief der besorgte Teil meines Gehirns "Verdunklung!" und hielt Pappe und Klebeband bereit: Die Stadt wirkte sehr "normal", hell erleuchtet, der Verkehr lief. Internet und alle Sendeeinrichtungen funktionieren offenbar auch. Ohne bösartig werden zu wollen: Das adrette Armee-Shirt, mit dem sich Selenskij seit Wochen sehen lässt, ist in dieser Umgebung mehr als überflüssig. Vielleicht sollte er sich, um authentischer zu wirken, wenigstens ein wenig Dreck ins Gesicht schmieren.
Die russische Seite stellt sich propagandistisch dagegen eher wie ein tapsiger Bär an. Das beginnt schon bei der Auswahl der Hilfstruppen - wenn man für sich in Anspruch nimmt, Verteidiger des christlichen Abendlandes zu sein, ist es nicht klug, sich Verbündete aus Tschetschenien zu suchen, die wie "Taliban light" aussehen (und sich wohl auch so verhalten). Worüber ich gar nicht hinwegkomme, ist diese merkwürdige Biowaffen-Geschichte, die auch in den sozialen Medien immer wieder aufgenommen wird, obwohl sie nur wenig plausibel ist. Das heißt nicht, dass es in der Ukraine keine entsprechenden Labore gäbe, aber was heißt das schon? Selbst die Bundeswehr unterhält etwa dreißig Projekte, die sich mit defensiver Forschung beschäftigen. Gegen die biologischen Sauereien, die Russland aus dem kalten Krieg noch vorrätig hat, sind das kleine Fische. Und Putins Spekulationen über ethnische Biowaffen waren gleich ganz großer Käse.
Es verwunderte mich zunächst, dass auch die USA darauf einstiegen und sogar bestätigten, an der Forschung beteiligt zu sein - wahrscheinlich spart das Geld, weil im eigenen Land Gehälter und Sicherheitsmaßnahmen teurer sind. Aber auch die Amerikaner wissen, wie gefährlich ein großflächiger Angriff mit biologischen Waffen für die eigenen Leute ist - gerade das häufig genannte Anthrax verbleibt über Jahrzehnte im Boden und macht ein Gebiet für Mensch und Tier unbrauchbar. Allerdings ist "Anthrax" für die amerikanische Bevölkerung seit dem 11. September 2001 ein sogenanntes "Buzzword": Nach dem Terrorangriff in New York wurden an einige Prominente Briefe mit Anthrax-Sporen verschickt - dieser Schrecken sitzt vielen noch in den Gliedern. Und welcher Normalbürger mag sich schon mit den grausigen Details der Anthrax-Forschung auseinandersetzen? Der psychologische Effekt reicht vollkommen aus, um die kriegsmüde amerikanische Bevölkerung ein wenig aufzurütteln - das Eingeständnis scheint mir also eher auf die eigenen Leute abgezielt zu haben, die weiteren außenpolitischen Abenteuern ihrer Regierung skeptisch gegenüberstehen.
Die Propagandaschlacht tobt - moralischer Druck in Deutschland, Panikmache mit Biowaffen und der Einsatz von Künstlern für die eigene Sache - das ist alles nichts Neues. Bevor Selenskij allerdings beginnt, für den bevorstehenden NATO-Beitritt seines Landes sein Waffenarsenal aufzustocken, sollte er auch einmal um humanitäre Hilfe für die Betroffenen seines Volkes bitten. Das könnten sie dringend brauchen und dazu wären viele Staaten bereit, weil solche Lieferungen keine Provokation darstellen. Aber stattdessen läuft der Krieg der Bilder weiter - und man selbst steht dazwischen und weiß nicht mehr, was man glauben soll.
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