Bei einem Vortrag in Berlin dekonstruierte der Nahost-Korrespondent von Mena-Watch, Ben Segenreich, Zerrbilder über Israel in internationalen Medien. Damit leistet er einen Beitrag zur Entdämonisierung des Landes.
Geneviève Hesse
Mit Israel sei es »wie verhext«, steht in der Einladung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) und des Mideast Freedom Forum. Über kaum ein anderes Land werde so viel berichtet, analysiert, kommentiert – und doch bleibe das Bild stark verzerrt. Je mehr über Israel geredet und geschrieben werde, desto mehr häuften sich Missverständnisse an, die sich in den Köpfen festsetzen. »Rache, Völkermord, Apartheid, Aushungern« seien die »Horrorbilder«, die der österreichisch-israelische Journalist Ben Segenreich im Zuge seines Vortrags hinterfragt.
Als langjähriger, ständiger Korrespondent in Israel für den ORF und die Zeitungen Der Standard und Die Welt kennt Segenreich den Alltag von Journalisten ganz genau: Es habe nicht nur mit gezielter Desinformation von Gegnern Israels zu tun, wenn obsessiv und verzerrt über das Land berichtet wird, es liegt auch an Zeitmangel und Zeitdruck, die zu Oberflächlichkeit und Schlampigkeit führen. Aus Gewohnheit würden Redaktionen nach wie vor ohne viel nachzudenken berichten, und zwar auch deswegen, weil es so erwartet wird.
Der Glaube, etwas verstanden zu haben, schaffe außerdem ein Glücksgefühl, das man gerne wiederhole, auch wenn es nicht wahr ist. Hinzu käme, dass Israel eine sehr komplizierte Materie ist, die an sich allein Anlass zu Missverständnissen gebe.
Das Missverständnis der »Rache«
Seine Anstöße zum Nachdenken eröffnet Segenreich mit dem Begriff »Rache«. Auch nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 wurde der Krieg in den Medien oft als »Vergeltungsangriff« oder »willkürliche Rache gegen die Zivilbevölkerung« dargestellt. Dabei, so Segenreich, seien die Ziele der israelischen Offensive strategisch klar gewesen: Einerseits zu verhindern, dass ein solcher Angriff je wieder möglich wird, andererseits, die Geiseln zu befreien.
Besonders irritierend sei der häufige Rückgriff auf die Bibel und das Talionsprinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Ein Zitat, das als Beleg für jüdische Rachsucht herhalten müsse, obwohl es im Ursprung das Gegenteil meint, nämlich Gerechtigkeit. »Diese Bibelstelle aus dem, was den Christen Altes Testament heißt, ist die Mutter aller Missverständnisse«, so Segenreich. Selbst Jesus habe sie in seiner Bergpredigt falsch interpretiert, als er sie erwähnte und durch das christliche Bild ersetzte, die andere Wange hinzuhalten, anstatt zurückzuschlagen. So sei die Vorstellung entstanden, Juden seien rachsüchtig – ein Gedanke, der bis in die heutigen Schlagzeilen hineinwirke.
Nicht »Netanjahus Krieg«
Ein weiteres Beispiel von Zerrbildern über Israel sei die Formel vom »Krieg Netanjahus«. Sie suggeriere, es handele sich um ein persönliches Projekt des israelischen Premierministers. In Wahrheit sei der Krieg, so Segenreich, von der gesamten israelischen Gesellschaft getragen worden. Auch oppositionelle Politiker und Friedensaktivisten hätten sich zunächst hinter die Regierung gestellt. Junge Israelis, die verreist waren, seien nach dem 7. Oktober 2023 sofort nach Israel zurückgeflogen – nicht, weil sie besonders martialisch und patriotisch gewesen seien, sondern weil sie die eigene Familie, das eigene Haus und die eigene Großmutter verteidigen wollten.
Erst im zweiten Kriegsjahr habe sich die Stimmung geändert. Laut Umfragen befürworteten 55 bis 70 Prozent der Israelis, den Krieg zu beenden. Mit den medial verbreiteten Straßenbildern dieser Proteste gegen Netanjahu sei aber auch das nächste Missverständnis entstanden. Denn es ging bei den Demonstrationen nicht um die Kritik des israelischen Kriegs im Gazastreifen, sondern um die Notwendigkeit, auf die Forderungen der Hamas einzugehen, damit noch lebende Geiseln aus dem Gazastreifen entlassen werden.
Ein Zerrbild in den internationalen Medien sei auch die Wiederholung, Benjamin Netanjahu setze den Krieg nur aus parteipolitischem Kalkül fort und nehme deswegen den Tod von israelischen Soldaten und große Gefahren für die Geiseln in Kauf. So ein gravierender Vorwurf sei in keiner Weise zu belegen, meint Segenreich, weswegen Journalisten sich mit dieser Aussage besser zurückhalten sollten.
Angriffe gegen »Zivilisten«
Auch sei die Vorstellung, israelische Medien würden über das Elend im Gazastreifen nicht berichten, falsch. Gerade israelische Medien seien »unerhört lebendig, präsent, kritisch und aggressiv«, würden jede militärische und politische Entscheidung hinterfragen und die eigene Regierung in einem Stil angreifen, wie dies in Europa nicht üblich sei.
Die Bilder der furchtbaren Bedingungen im Gazastreifen seien in Israel also sehr wohl bekannt. Allerdings würde jedes Land im Krieg im ersten Teil der Nachrichten verständlicherweise über eigene Themen berichten: seine Toten und Verletzte, seine wirtschaftlichen Probleme, seine Traumata und Krisen. Abgesehen davon sind die Israelis für diese Situation nicht verantwortlich. Israel habe es sich nicht ausgesucht, in einem dicht besiedelten, urbanen Gebiet zu kämpfen, in dem die Hamas sich in Tunnels oder in Krankenhäusern und Schulen unter der eigenen Bevölkerung versteckt.
Die Hamas habe die zivile Infrastruktur benutzt, seien es Notstromaggregate oder Ambulanzfahrzeuge, um Terroristen zu transportieren, betont Segenreich. »Warum hätte Israel Schüler und Schülerinnen, Ärztinnen und Patienten angreifen wollen?«, fragt er. Nach dem Kriegsrecht dürften zivile Einrichtungen wie Schulen, Kirchen oder Wohnhäuser nur dann angegriffen werden, wenn sie vom Feind für militärische Zwecke genutzt werden – und genau das habe die Hamas systematisch getan.
Auch der Begriff »Vertreibung« sei irreführend. Diesen benutze man für Menschen, die man loswerden wolle. Israel habe Zivilisten im Gazastreifen zur Flucht aufgefordert, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen und nicht, um sie loszuwerden. Das Ziel sei gewesen, dass sie kein Schutzschild der Hamas mehr sind. Segenreich erinnert an frühere Kriege anderswo: Auch die irakischen Städte Falludscha und Mossul seien jeweils 2004 und 2016 evakuiert worden, um Kämpfe zu ermöglichen – und damals habe niemand von Vertreibung gesprochen.

Mythos vom »Aushungern«
Kaum ein Vorwurf sei so schwerwiegend wie der des »Aushungerns«. Doch auch hier widerspricht Segenreich entschieden. Eine vollständige Gaza-Blockade habe es nur von März bis Mai 2025 gegeben, als die Vorratslage als gesichert galt. Ansonsten seien täglich 100 bis 300 Lastwagen mit je zwanzig Tonnen Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangt. Das Völkerrecht, so Segenreich, verpflichte eine Kriegspartei nur dann Hilfsgüter durchzulassen, wenn der Gegner sie nicht militärisch missbrauche – was die Hamas nachweislich getan hat.
Die Terrororganisation hat Hilfsgüter abgefangen, verkauft und mit den Einnahmen ihre Kämpfer entlohnt. Gleichzeitig hätten internationale Medien über steigende Lebensmittelpreise auf Märkten berichtet, ohne zu erwähnen, dass die Waren als humanitäre Hilfe eigentlich kostenlos verteilt werden sollten. Israels Strategie sei gewesen, die Hamas zu umgehen, nicht die Bevölkerung auszuhungern.
Als Beispiel für Doppelstandards im Umgang mit Israel fragt Segenreich rhetorisch nach einem Krieg, bei dem die eine Partei der anderen Hilfe zukommen lässt: »Liefern die Russen etwas an die Ukraine – oder umgekehrt? Hat England Nazi-Deutschland geholfen?«
Immerhin sei es vier neuen Verteilungszentren im südlichen Gazastreifen zeitweise gelungen, bis zu eine Million Mahlzeiten am Tag zu verteilen, auch wenn Segenreich die damit verbundene Stiftung als »problematisch« bezeichnet. Ein Monopolstreit der UNWRA – »Schrägstrich Hamas«, fügt Segenreich hinzu –, habe zur absurden Situation geführt, dass das Hilfswerk der Vereinten Nationen vollbeladene Lastwagen auf der Gaza-Seite der Grenze nicht abholen ließ, weil sie die Hilfsgüter nicht verteilen wollte, wenn neben ihr auch eine der UNO nicht angegliederte Institution im Gazastreifen tätig ist.
Unüberprüfbare Zahlen
Besonders kritisch sieht Ben Segenreich den Umgang mit den Opferzahlen. Die einzige Quelle sei das Gesundheitsministerium von Gaza, das von der Hamas geführt wird. »Wer ist aber der Gesundheitsminister oder die Gesundheitsministerin?«, fragt Segenreich ironisch. Wie die Zahlen erhoben würden, wisse niemand genau. In die Statistik flössen Krankenhausdaten, Medienberichte, die nicht besonders wissenschaftlich seien, und Eigenmeldungen ein. Eine unabhängige Kontrolle gibt es nicht.
Die kolportierte Zahl der 67.000 Toten enthalte Kämpfer und Zivilisten zugleich. Diese fehlende Unterscheidung sei das größte Problem, weil es suggeriere, alle Toten seien Zivilisten gewesen. Auch werden die Todesursachen nicht präzisiert. Es müssten nicht immer israelische Raketen schuld sein. Manche Opfer seien eines natürlichen Todes gestorben, andere durch explodierende Munitionslager oder fehlgeleitete Raketen der Hamas. Vielleicht wohnten sie in Häusern, die von der Hamas militärisch besetzt waren. Oder sie starben gar nach ihrer Teilnahme am Massaker vom 7. Oktober 2023 in den Kämpfen auf israelischem Gebiet, bevor die Armee wieder die Kontrolle hatte.
Es gebe eigentlich keine verlässliche Zahl der Toten im Gazastreifen, so Segenreich, weswegen Journalisten die umherschwirrenden Angaben auch nicht als Tatsachen publizieren dürften.
Ein »Völkermord«?
Unter den herrschenden Bedingungen von einem »Völkermord« zu sprechen, sei »lachhaft, wenn es nicht so ernst und bitter und böse wäre«. Ein Völkermord setze die Absicht voraus, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise vernichten zu wollen. Dazu Segenreich kategorisch: »Es kann keine Rede davon sein, dass Israel Palästinenser als Volk zerstören will«; es wolle nur die Hamas als dominierende Kraft im Gazastreifen beseitigen und die letzten, toten Geiseln rückerstattet haben.
Der Nahost-Korrespondent beruft sich auf den »gesunden Menschenverstand«. Bei einem Völkermord habe die verfolgte Gruppe keinen Ausweg. Sie könne sich nicht ergeben und »stopp« sagen. Das kenne man von den Völkermorden der Türken in Armenien und der Nationalsozialisten an den Juden, Roma und Sinti oder aus Ruanda im Fall der Tutsi.
Segenreich verweist auch auf ein anderes Argument: Als Israel den Gazastreifen von 1967 bis 2005 besetzt hielt, stieg die dortige Bevölkerung von 400.000 auf 1,3 Millionen Menschen an. »Ich kenne keinen Völkermord, bei dem sich die Zahl der Verfolgten verdreifacht hat.«
Auch die vielzitierte Umfrage vom letzten September, nach der 86 Prozent der Genozidforscher Israel einen Völkermord attestierten, nennt er »völligen Zirkus und Unfug«. Die infrage stehende Organisation, die International Association of Genocide Scholars, sei vorher kaum bekannt gewesen und danach sofort wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Nur 28 Prozent ihrer 600 Mitglieder haben online abgestimmt. Mitglied könne praktisch jeder werden, der ein Formular online ausfülle und einen Mitgliedsbeitrag zahle.
Die Macht der Schlagwörter
Ben Segenreichs Fazit ist ernüchternd und macht nachdenklich: Wird Israel immer wieder mit Schlagwörtern wie »Genozid«, »Apartheid« oder »Aushungern« in einem Atemzug genannt, gibt Segenreich zu bedenken, bleibt immer etwas davon hängen, auch ohne Beweise für die erhobenen Anschuldigungen, denn »es funktioniert wie Werbung«. Worte prägen die Wahrnehmung und schleifen sich ein. Der Nahost-Konflikt sei schlimm genug, er wäre aber »etwas leichter«, gebe es nicht zusätzlich all diese vielen Missverständnisse.
Dass eine ungenaue und tendenziöse Berichterstattung den internationalen Antisemitismus befeuert, erwähnt Segenreich nicht. – Wahrscheinlich, weil sich seine Zuhörer dessen sehr bewusst sind, wie die wohlwollenden Fragen im Anschluss zeigen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen