„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Sie verbieten nicht die Hassrede, sondern die Rede, die sie hassen. Den Sozialismus erkennt man daran, daß es die Kriminellen verschont und den politischen Gegner kriminalisiert...
Wenn es 5.000 Polizisten braucht um ein Gebäude der linken Szene zu räumen und wenn das die Leute einfach normal finden - dann hat sich die Linksradikalität ganz tief in unserer Gesellschaft eingenistet. Dann weiss man aber auch, dass man in Berlin ist, wo der rot-rot-grüne Senat seit Jahren linken Terrorismus schützt und geradezu fördert... wie hier der letzte Versuch der Linkspartei und der Grünen (Ex-SPD) Bundestagsabgeordneten, Rechtsanwältin und Terroristenunterstützerin Canan Bayram, die Räumung zu verhindern und dabei lächerlicherweise mangelnde Hygiene als Argument heranzieht...
Erklärung zur drohenden Räumung der #Liebig34: Die Einhaltung von grundlegenden Hygieneregeln wird kaum zu gewährleisten sein. Wir erwarten daher von Polizei und Innensenator angesichts der derzeitigen Pandemiesituation die Räumung auszusetzen. https://t.co/GmsOiYiLRfpic.twitter.com/nyxtkABWtk
Wegen der bevorstehenden Räumung des Linksradikalen-Hauses „Liebig 34“ in Friedrichshain werden immer mehr Staatsbedienstete bedroht. Im Internet wird dazu aufgerufen, Gerichtsvollziehern einen Besuch abzustatten. In einem Schreiben, das der Berliner Zeitung vorliegt, informierte die für die Gerichtsvollzieher zuständige Mitarbeiterin beim Amtsgericht Lichtenberg am Mittwoch ihre Kollegen über eine im Internet veröffentlichte Karte: „In dieser sind auch Adressen einzelner Gerichtsvollzieher*innen veröffentlicht“, schreibt die Beamtin. Und weiter: „Bitte achten Sie aktuell noch mehr auf sich – teilen Sie Übergriffe jeglicher Art unverzüglich der Polizei mit und informieren Sie uns.“
Auch bei der Polizei gibt es Warnungen. Nach den Angriffen auf eine Polizeidienststelle in der Lichtenberger Sewanstraße und der Brandstiftung am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg in der Möckernstraße in der Nacht zu Mittwoch warnte die Polizei in einem internen Schreiben: „Es ist unbedingt auf Eigensicherung zu achten.“
Das „anarcha-queer-feministische Wohnprojekt“ an der Liebigstraße 34, Ecke Rigaer Straße soll am Freitagmorgen geräumt werden. Der Mietvertrag ist Ende 2018 ausgelaufen. Doch die Bewohnerinnen weigerten sich seither auszuziehen. Das Berliner Landgericht gab einer Räumungsklage des Hauseigentümers statt.
In diesem Zusammenhang gehören Bedrohungen von Gerichtsvollziehern, Hauseigentümer-Anwälten und Hausverwaltern in Berlin inzwischen zum Alltag. Unter anderem wurde das private Wohnhaus des Hausverwalters mit Farbbeuteln und dessen Auto mit stinkender Buttersäure attackiert. Immer wieder gab es in der letzten Zeit Randale und Sachbeschädigungen und Autobrandstiftungen – aus Solidarität mit der Liebig 34. Auch die Fassade eines Mietshauses, in dem ein Gerichtsvollzieher wohnt, wurde mit Drohungen besprüht.
Aus Protest gegen die anstehende Räumung legten Linksradikale bereits am Montag die S-Bahn teilweise lahm. Im Internet bekannten sich „Feministisch-Revolutionär-Anarchistische-Zellen“ zu einem Brandanschlag auf Kabel entlang der Strecke zwischen Ostkreuz und Frankfurter Allee.
Für den Freitag, den „Tag X“, wie die Szene diesen Tag nennt, haben „Aktivisten“ „dezentrale Aktionen“ in der Stadt geplant. Um 21 Uhr soll es eine „Spontandemonstration“ geben. „Der Ort der Sponti wird kurzfristig bekannt gegeben“, heißt es auf einer der einschlägigen Internetseiten. Sympathisanten des Hauses haben angekündigt, die „Liebig 34“ „mit allen Mitteln“ zu verteidigen.
Wie aus einem tragischen Unfall ein brutaler Neonazi-Mord wurde
1986 stirbt der Mosambikaner Manuel Diogo bei einer Zugfahrt in Brandenburg. Für die DDR-Behörden ist es ein Unfall. Ein westdeutscher Historiker behauptet 30 Jahre später, es war ein rassistisches Verbrechen. Was ist damals wirklich geschehen?
30.9.2020 - 18:58, Anja Reich und Jenni Roth
Der letzte Tag im Leben von Manuel Diogo ist der 29. Juni 1986, ein Sonntag. In Mexiko-Stadt spielt die westdeutsche Nationalelf im WM-Finale gegen Argentinien. In Sachsen-Anhalt macht sich eine Gruppe mosambikanischer Vertragsarbeiter aus ihrem Dorf Jeber-Bergfrieden auf den Weg nach Dessau, um in einer Kneipe das Spiel zu sehen. Die Argentinier um Diego Maradona gewinnen mit 3:2. Um 22.01 Uhr steigen die Mosambikaner in Dessau in den Zug Richtung Belzig, der sie zurück nach Jeber-Bergfrieden bringen soll, aber einer von ihnen kommt nie an. Manuel Diogo, 23 Jahre alt, Holzfacharbeiter im Sägewerk von Jeber-Bergfrieden, wird um 0.45 Uhr an den Gleisen zwischen Bad Belzig und Wiesenburg gefunden, tot.
Die Transport- und Kriminalpolizei ermittelt, Zeugen werden befragt. Schnell steht fest: Es war ein Unfall. Manuel Diogo war betrunken, schlief im Zug ein, verpasste den Ausstieg, sprang auf freier Strecke aus dem Zug, vermutlich, um zurück zum Bahnhof Jeber-Bergfrieden zu laufen, und wurde dabei vom entgegenkommenden Güterzug erfasst. Seine Freunde merkten erst, dass er fehlte, als sie vom Bahnhof zurück zu ihrer Unterkunft liefen.
Die Akten zum Fall sind umfangreich, Hinweise auf Manipulationen gibt es nicht. Dennoch kommt 30 Jahre später eine ganz andere Version des Falles an die Öffentlichkeit: Manuel Diogo verbringt den Tag nicht in Dessau, sondern zusammen mit einem Freund in Berlin. Der bringt ihn zum Ostbahnhof, setzt ihn in den Zug Richtung Dessau. Neonazis steigen ein, schlagen ihn zusammen, fesseln ihn an Füßen und Beinen, lassen seinen Körper an einem Seil aus dem Zug hängen, sein Schädel wird dabei zertrümmert, die Leiche in Teile zerstückelt an den Gleisen gefunden. Ein brutaler, rassistischer Mord, von den DDR-Behörden und der Staatssicherheit unter den Teppich gekehrt, die Täter bis heute nicht bestraft.
2014 verbreitet Harry Waibel die Version vom Mord in seinem Buch „Der gescheiterte Antifaschismus – Rassismus in der DDR“. Waibel ist ein 74-jähriger Historiker aus Baden-Württemberg, der sich Antifaschist nennt, in Berlin-Schöneberg wohnt und in Archiven nach rassistischen Vorfällen in der DDR sucht. Auf den „Mord an Manuel Diogo“ sei er in der Stasi-Unterlagenbehörde gestoßen, sagt er. Er sagt nie Todesfall, immer nur Mord. Er sagt auch: „Der gesamte Nazismus, Antisemitismus wurde doch vertuscht in der DDR.“
Fast zeitgleich schreibt ein ehemaliger Vertragsarbeiter und Boxer namens Ibraimo Alberto ein Sachbuch über sein Leben. „Ich wollte leben wie die Götter. Was in Deutschland aus meinen afrikanischen Träumen wurde“ erscheint 2014 bei Kiepenheuer & Witsch. Alberto schildert darin, wie er zusammen mit einem Freund in Mosambik für den Auslandseinsatz ausgebildet wird, mit ihm 1981 in Berlin-Schönefeld landet und wie dieser Freund ihn fünf Jahre später in Berlin besucht und in derselben Nacht von Neonazis ermordet wird. Der Freund heißt Manuel Diogo.
Ein eminent politisches Buch nach einem historischen Fall.
Jurybegründung vom Deutschen Krimipreis
Drei Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches, 2017, taucht Ibraimo Alberto als Zeuge in einem MDR-Beitrag auf. Darin wird die Mordszene im Zug mit Schauspielern nachgestellt. Am Ende des Beitrages wird der Zuschauer Zeuge, wie das MDR-Team vor einer Hütte in Mosambik steht und der alten Mutter Manuel Diogos die Nachricht vom Neonazi-Mord überbringt. Die Frau bricht in Tränen aus.
Im Jahr 2019 nimmt sich auch der Schriftsteller Max Annas des angeblichen Mordfalles an. „Morduntersuchungskommission“ beschreibt, wie ein ostdeutscher Kommissar den Tod eines Vertragsarbeiters aufklären soll, herausfindet, dass es ein rassistisches Verbrechen war und die Behörden von ihm verlangen, daraus einen Unfall zu machen. Das Buch, vom Rowohlt-Verlag als „der erste große Kriminalroman, der in der DDR spielt“ beworben, von den deutschen Feuilletons als „wahre Geschichte“ hochgelobt, erscheint im Juli 2019 und wird im Dezember 2019 mit dem „Deutschen Krimipreis“ ausgezeichnet. „Ein eminent politisches Buch nach einem historischen Fall“, heißt es in der Jurybegründung.
Es gibt Lesungen, Talkshowauftritte, ein Café in der brandenburgischen Stadt Belzig, nicht weit vom Fundort der Leiche, startet eine Anti-Rassismus-Initiative. In Leipzig erinnert eine Ausstellung an Diogo. Ibraimo Alberto reist 2015 mit einer Delegation von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Afrika und wird vom ehemaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit dem Preis „Botschafter für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet.
Als im Mai 2020 in den USA der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten ermordet wird und die „Black Lives Matter“-Bewegung auch nach Deutschland schwappt, stellt die Linken-Abgeordnete Andrea Johlige eine Kleine Anfrage an den Landtag in Brandenburg, Stichwort: „Todesfall Diogo“. Sie fordert, dass die Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen einleitet. Das Medienecho ist riesig. Und tatsächlich: Am 29. Juni 2020 gibt die Staatsanwaltschaft Potsdam bekannt, den Fall neu aufzurollen. Ein Kriminalkommissar wird beauftragt, die Ermittlungen von damals zu prüfen und Zeugen erneut zu vernehmen.
Und so beginnt 34 Jahre später alles noch einmal von vorne. Die Berliner Zeitung recherchiert – fast zeitgleich mit dem Kriminalkommissar – im Fall Diogo, fährt nach Sachsen-Anhalt, telefoniert mit ehemaligen Vertragsarbeitern in Mosambik, spricht mit dem Heim- und Werkleiter aus dem Sägewerk, mit Anwohnern, Historikern, der Linken-Politikerin, kontaktiert die Buch- und MDR-Autoren. Es geht um die Frage, ob es Mord war oder ein Unfall. Im 30. Jahr der deutschen Einheit geht es aber auch darum, wie und von wem DDR-Geschichte umgeschrieben wird.
Da standen auf einmal 25 Leute in Sandalen, ohne Wintermantel, ohne Kutte, die meisten nur mit Sechsklassenabschluss.
Klaus Nitze, früherer Heimleiter
Manuel Diogo ist 18 Jahre alt, als er auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld landet. Zwei Jahre zuvor, im Februar 1979, haben die Regierungen der DDR und der Volksrepublik Mosambik ein „Abkommen über die zeitweilige Beschäftigung mosambikanischer Werktätiger“ vereinbart. Es ist der 21. Oktober 1981 und kalt. Die Vertragsarbeiter werden auf verschiedene DDR-Betriebe aufgeteilt: Motorradwerk Zschopau, Bahnmeisterei Erfurt, Elektroglas Ilmenau, Getränkekombinat Leipzig. Manuel Diogo gehört zur kleinsten Gruppe: 25 Männer, „Holzindustrie Oranienbaum“, heißt es in den Unterlagen des DDR-Staatssekretariats für Arbeit und Löhne.
Es ist eine weite Reise von Mosambik in die DDR, und nach Jeber-Bergfrieden, wo es außer dem größten Sägewerk der DDR nur noch einen Konsum und eine Gaststätte gibt, scheint die Reise noch weiter zu sein. Kein einziger Ausländer lebt hier, Schwarze kennen die Dorfbewohner nur aus dem Fernsehen. Klaus Nitze holt Diogo und die anderen mit dem Bus aus Schönefeld ab. Er ist ihr Heimleiter und bringt sie in ihre Unterkunft gleich neben dem Werk: pro Zimmer zwei Mann, zwei Betten, zwei Tische, zwei Schränke. Nitze hat zur Vorbereitung extra ein halbes Jahr Portugiesisch gelernt, merkt aber schnell, dass die Sprache das geringste Problem ist: „Da standen auf einmal 25 Leute in Sandalen, ohne Wintermantel, ohne Kutte, die meisten nur mit Sechsklassenabschluss. Wir haben ihnen gesagt, Kleidung haben wir nicht mit, aber der Bus ist warm.“ Im Wohnheim standen Teller mit belegten Käse- und Wurstbrötchen bereit. Niemand rührte das Essen an. „So was kannten die nicht.“
Am nächsten Tag fahren Nitze und seine Frau mit der Gruppe nach Dessau zum Einkaufen: Schuhe, Stiefel, Parkas, lange und kurze Unterwäsche. Nach drei Monaten Deutsch-Intensivkurs beginnt die Arbeit. Harte Arbeit. Holzstämme spalten, schneiden, lagern, Drei-Schicht-System, oft Sonderschichten am Wochenende. Manuel Diogo meldet sich freiwillig für die Sonderschichten, für die es extra Prämien gibt. „Er war der Ruhigste und Fleißigste von allen“, sagt Nitze, „immer bestrebt, Geld zu machen, nur nicht negativ aufzufallen, und der Einzige, der es nach kurzer Zeit zum Gabelstaplerfahrer geschafft hat.“
Wissbegierig war er, einer, der sich nicht in den Vordergrund drängt.
Ex-Werkleiter Günter Geyer über Manuel Diogo
Seine Kollegen bekommen oft Frauenbesuch, trinken Alkohol, fahren zur Disko in die umliegenden Städte. Auch Manuel hat eine Freundin, Susanne aus Dessau. Eines Tages nimmt er den Werkleiter Günter Geyer mit zu Susanne nach Hause, stellt seinen Chef ihren Eltern vor, wie einen Vater. Zu Geyer hat Manuel, der als Einzelgänger gilt, die engste Beziehung von allen, das stellen auch die Ermittler nach seinem Tod fest. Der Werkleiter selbst nennt Manuel einen Freund. Er habe ihn nach der Arbeit zu Hause besucht, mit ihm Bier getrunken und geredet. Wissbegierig sei er gewesen, einer, der sich nicht in den Vordergrund drängt. Günter Geyer hat Tränen in den Augen, wenn er sich an ihn erinnert.
Spricht man mit Menschen, die ihn kannten, wird aus Manuel Diogo, dem Vertragsarbeiter, dem Neonazi-Opfer, ein junger Afrikaner, der auf der Suche nach dem Glück ist, auch nach sich selbst. Da ist der Mann aus Jeber-Bergfrieden, der damals 14 war, heute in San Francisco lebt und am Telefon von den Besuchen in Manuels Zimmer erzählt und den gemeinsamen Mopedtouren. Da ist die ehemalige Kollegin, die schwärmt, wie nett „der Bengel“ gewesen sei, ein Frauenschwarm, aber nicht nur. „Der Manuel hatte es auch mit Männern.“ Und einmal, sagt sie, habe sie ihn in Frauenkleidern am Bahnhof gesehen. Sein damaliger Zimmernachbar sagt, Manuel habe sich prostituiert, daher das viele Geld. Klaus Nitze sagt: „Ach Quatsch! Die Damen kamen doch alle freiwillig.“ „Unsere Mosis“ nennen die Leute in Jeber-Bergfrieden die Mosambikaner, manchmal auch „Schokos“ oder „Neger“. Das habe man früher eben so gesagt, sagt Nitze.
Manchmal gibt es Ärger mit deutschen Männern, Schlägereien in Discos. Es geht um Frauen, es wird viel getrunken. Auch Manuel, von dem es immer hieß, er rühre keinen Tropfen an, fängt an zu trinken. 1985 beschließt die mosambikanische Regierung, 60 Prozent des Lohnes der Vertragsarbeiter einzubehalten und erst nach ihrer Rückkehr auszuzahlen. Etwa um die gleiche Zeit fliegt Manuel Diogo das erste Mal nach Hause, in einer großen Holzkiste nimmt er „Werte in Höhe von 25.000 Mark“ mit, heißt es in der Akte, darunter eine MZ, ein Motorrad. Nach seiner Rückkehr in die DDR verkauft seine Familie die Sachen, er erfährt es erst hinterher, erzählt sein Zimmernachbar. Manuel Diogos Träume scheinen zu zerplatzen. Er lässt sich nichts anmerken, arbeitet „ohne Tadel“ weiter. In der Akte heißt es: „Seit diesem Zeitpunkt ist zu verzeichnen, dass häufig und in größeren Mengen als bisher Alkohol getrunken wurde.“
Auch am Abend des 29. Juni 1986, des WM-Finales. Manuel Diogo sitzt mit seinen Kollegen in der Dessauer Kneipe vor dem Bildschirm. So erzählen es vier der noch lebenden Mosambikaner aus der Runde. Der Deutsche Roland Hohberg, der 1991 zusammen mit ehemaligen DDR-Vertragsarbeitern den Rückkehrerverein Adecoma in Mosambik gründete, hat sie für die Berliner Zeitung befragt. Sie erzählen, dass sie gute Laune gehabt und getrunken hätten – ziemlich viel sogar: Im Obduktionsbericht heißt es, Manuel Diogo habe fast 1,4 Promille im Blut und 1,8 Promille im Urin gehabt, es wird ein „deutlicher Alkoholgeruch der inneren Organe“ festgestellt.
Der Zug Richtung Belzig ist in ihrer Erinnerung leer, von Neonazis keine Spur. Manuel setzt sich etwas abseits, schläft ein, geht zur Toilette. Die Mosambikaner steigen aus, ohne Manuel – so betrunken hätten sie nicht mehr nach ihm geschaut, sagen sie heute. Die Zugbegleiterin ist laut Akten die Letzte, die Manuel Diogo lebend sieht: Er liegt schlafend auf dem Gang.
Der hat ausgesprochenes Pech gehabt.
Markward Michel, Lokführer, hat die Leiche gefunden
Es ist der 30. Juni 1986, gegen ein Uhr nachts, als der Lokführer Markward Michel, damals 42 Jahre alt, angefunkt wird: Im Raum Borne liege ein lebloser Körper im Gleis. Michel soll ihn suchen. Er fährt los, ganz langsam, erst zu weit, dann wieder zurück, bis er ihn im Licht der Scheinwerfer sieht: Manuel Diogo liegt auf dem Bauch, zwischen den Gleisen, das Hemd hochgerutscht. Er trägt eine graue Jeans, Sandalen an den Füßen. Michel steigt aus, für ihn ist sofort klar: ein Unfall. In seinem Haus im brandenburgischen Grubo nimmt er Blatt und Papier und zeichnet auf, wie er sich den Unfallverlauf vorstellt. Diogo ist, als er aus dem Zug sprang, zwischen zwei Wagen geraten, an einem Haken hängengeblieben, ein paar Meter mitgeschleift worden, liegen geblieben und überfahren worden. „Anders geht es gar nicht. Der hat ausgesprochenes Pech gehabt.“
Michel informiert die Transportpolizei, die informiert den Heimleiter. Klaus Nitze schätzt, dass es drei, halb vier Uhr morgens ist, als es an seiner Haustür Sturm klingelt. Er und seine Frau sind wach, sie kommen gerade von einem Geburtstag im nahen Roßlau. Er soll mit in die Pathologie nach Belzig fahren und Manuel identifizieren. Die Fahrt hat sich bis heute bei Nitze eingeprägt, auch das letzte Bild von Manuel. In einer Art Aluminiumschüssel, so lang und breit wie sein Wohnzimmertisch, habe er gelegen, der Körper mit einem weißen Tuch bedeckt, ein Fuß sei zu sehen gewesen, „verkehrtherum“. Und das Gesicht. „Ich habe gleich gesehen, das ist Manuel.“ Die Gerichtsmedizin stellt als Todesursache eine offene Schädelfraktur mit Zertrümmerung der Schädelbasis und weitere schwere innere Verletzungen fest. Ihr Fazit: „Alle festgestellten Verletzungen deuten auf einen Sturz mit anschließendem Anfahren im Liegen, Mitschleifen und teilweise Überfahren eines Reichsbahnfahrzeugs hin.“
Ein paar Stunden später versammeln sich die Kollegen im Büro des Heimleiters im Sägewerk. In seiner Erinnerung zeigen sie keine Trauer, vielleicht sind sie im Schock. Niemand spricht von Mord. Die Polizei befragt Zeugen, Kollegen, Diogos Freundin, die Zugführerin, den Lokführer, den Werkleiter. Die Mosambikaner können sich 34 Jahre später nicht mehr daran erinnern. Aber ihre Protokolle befinden sich in den Ermittlungsakten, Auszüge davon liegen im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde und im Landesarchiv Brandenburg. Es ist keine Rede von Neonazis, es gibt keinen Hinweis darauf, dass hier ein Mord verheimlicht wurde.
Und doch scheint es mehr als 30 Jahre später festzustehen, wird aus der Mordtheorie des Historikers Harry Waibel eine Tatsache. Je öfter sie erzählt wird, desto wahrer wird sie. Und desto wütender wird im anderen Teil der Stadt, in Berlin-Mitte, ein anderer Historiker, der sich mit dem Fall beschäftigt: Ulrich van der Heyden, 66 Jahre alt, geboren in Ueckermünde, Afrika-Experte, Autor des Buches: „Mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR-Wirtschaft“.
Vor zehn, zwölf Jahren sei er auf die Akten gestoßen, sagt van der Heyden in seinem Büro in einem Hinterhof der Humboldt-Universität. Dass es ein Unfall war, daran habe er nie gezweifelt. „Da war niemand sonst im Zug außer der Schaffnerin. Die Kumpels sind vorher ausgestiegen. Die waren alle betrunken.“ Das sei öfter passiert, auch, dass sie den Ausstieg verpasst hätten. „Die waren ja von Hause aus keinen Alkohol gewöhnt.“
‚Lügen-Harry‘ nennt Ulrich van der Heyden den Historiker aus dem Westen. Harry Waibel kontert: ‚Der van der Heyden lügt sich doch einen zurecht‘.
Bereits vor einem Jahr habe er Verlagshäuser und den MDR auf die Fehler in der Berichterstattung zum Fall Diogo hingewiesen. Er habe sogar Christian Bergmann, einen der MDR-Autoren, in sein Büro eingeladen, ihm die Akten gezeigt und um Richtigstellung gebeten. Als nichts passierte, legte er Beschwerde beim Rundfunkrat und bei der Intendantin des MDR ein. Die Antwort: eine Unterlassungserklärung. Van der Heyden schaltete einen Anwalt ein und protestiert weiter. Er spricht von Fake News, von einem Skandal à la Relotius. Ulrich van der Heyden schreibt schnell, redet schnell und regt sich schnell auf. Wie im Fall Diogo Fakten verdreht werden, aber auch darüber, dass Menschen wie Harry Waibel, die nie in der DDR gelebt haben, das Leben dort bewerten, auch seines.
„Lügen-Harry“ nennt van der Heyden den Historiker aus dem Westen. Waibel kontert:„ Der van der Heyden lügt sich doch einen zurecht.“ Er sitzt in seiner Wohnung in Schöneberg, die gleichen Akten vor sich auf dem Tisch, und erzählt seine Version der Geschichte. „Ein Eisenbahner der Reichsbahn sah die Leichenteile und informierte die Transportpolizei.“ Mit der Untersuchung habe auch die Vertuschung begonnen. „Als Gerichtsmediziner feststellten, dass er 1,4 Promille Alkohol im Blut hatte, wurde bekannt gegeben, er war betrunken und ist aus dem Zug gestürzt, so war die Legende der Stasi.“
Warum handelt es sich um eine Legende?
„Na, weil die Stasi alles vertuscht hat, was nicht in die Linie gepasst hat!“
Aber hätte die Stasi die Vertuschung dann nicht in die Akten geschrieben?
„Das war doch eine militärische Organisation! Wer sich gegen die herrschende Linie gestellt hätte, hätte mit unangenehmen Folgen rechnen müssen.“
Mein Wissen hat mich dazu gebracht, diese steile These aufzustellen.
Harry Waibel, Historiker
Waibel redet sich in Rage, auch für ihn ist es mehr als ein Kriminalfall. Er sei froh, sagt er, dass der MDR die Sache aufgegriffen habe. Das Buch von Ibraimo Alberto sei ja nicht wahrgenommen worden. Seit dem MDR-Beitrag sei das anders. Mit den Autoren, erzählt er, arbeite er schon lange zusammen, habe ihnen oft Akten für ihre Beiträge zur Verfügung gestellt, auch die von Diogo. Er lasse sich dafür von den Journalisten bezahlen. Von was solle er sonst leben, sagt er. Harry Waibel ist, das begreift man, wenn man an seinem Wohnzimmertisch sitzt, der Spindoctor hinter der Geschichte, der Mann, der Akten verteilt und Informationen streut. Ihm, dem Historiker aus dem Westen, glauben alle, seinetwegen ermittelt die Staatsanwaltschaft 34 Jahre später. Er ist sogar stolz darauf: „Mein Wissen hat mich dazu gebracht, diese steile These aufzustellen“, sagt er.
Die haben Suggestivfragen gestellt, die wollten nur eine Story, die gut ins politische Panorama passt.
Roland Hohberg, Deutscher in Mosambik
Es geht, auch das begreift man in diesem Moment, gar nicht um Wissen, um Fakten, sondern um Meinungen, Überzeugungen, Haltungen. Ähnlich wie einst in der DDR. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum sich ausgerechnet die mit dem Fall vertrauten Ostdeutschen in ihrer Empörung so einig sind: Klaus Nitze, der Heimleiter, hat den MDR-Beitrag, der in anderen Versionen und mit anderen Titeln inzwischen auch bei 3Sat, Arte und einer Sendung über DDR-Kriminalfälle lief, auf einer Geschäftsreise in einem Hotelzimmer gesehen. „Alles verdreht“, findet er. Roland Hohberg vom Rückkehrerverein Adecoma in Mosambik ist fassungslos, wie die ehemaligen Vertragsarbeiter, um die er sich kümmert, vom MDR manipuliert wurden. Er habe dem Sender Interviews vermittelt. Daher wisse er, dass die Journalisten ihre Gesprächspartner im Glauben gelassen hätten, der Neonazi-Mord sei bewiesen. „Die haben Suggestivfragen gestellt, die wollten nur eine Story, die gut ins politische Panorama passt.“
Und was sagen die anderen? Die Autoren, die Verlage, der MDR, die Jury des Deutschen Krimipreises? Warum sind ihnen nie Zweifel an der Mordthese gekommen, nie Widersprüche aufgefallen?
Auf die Fragen gibt es nur schriftliche Reaktionen. Und der MDR lässt sich mit seiner Antwort auf den Vorwurf der Suggestivfragen nicht einmal zitieren. Auch mit all den anderen Antworten nicht. Als Beweis für die Mordtheorie verweist die Kommunikationsabteilung des öffentlich-rechtlichen Senders lediglich auf ein Interview mit dem ehemaligen mosambikanischen Botschafter, in dem der sagt, die DDR-Behörden hätten ihm berichtet, dass Skinheads Manuel Diogo umgebracht haben. Die DDR-Behörden, das war in dem Fall das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne, bei dem Ralf Straßburg für den Einsatz der mosambikanischen Vertragsarbeiter zuständig war. Straßburg sagt, es sei immer von einem Unfall die Rede gewesen: „Es stimmt einfach nicht, dass wir irgendjemandem erklärt hätten, dass Manuel Diogo aus dem Zug gestoßen wurde.“
Ibraimo Albertos Lektor ist bereits im Ruhestand und in seiner Datscha in Russland gerade schwer erreichbar.
Buchverlag Kiepenheuer & Witsch
Max Annas, der Krimiautor, teilt mit, er habe sich in Schreibklausur für sein neues Buch begeben und momentan keine Zeit für ein Gespräch. Die Jury des Deutschen Krimipreises schreibt, Annas’ Buch sei ein historischer Kriminalroman, der – von einem tatsächlichen Fall angeregt – eine fiktive Geschichte erzählt. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch schreibt, Ibraimo Albertos Lektor sei bereits im Ruhestand und in seiner Datscha in Russland „gerade schwer erreichbar“.
Ibraimo Alberto selbst verweist in einer Mail auf die Interviews, die er bereits gegeben hat. Er habe alles gesagt. Sieht man sich dann aber die Interviews mit ihm im Fernsehen an, liest sein Buch, fragt man sich, was der ehemalige Vertragsarbeiter von dem Streit um den Tod seines Landsmannes überhaupt versteht, was seine Rolle dabei ist.
Albertos Buch ist seine Autobiografie, und es taucht tatsächlich darin immer wieder ein junger Mann namens Manuel auf. Alberto ist mit Manuel Diogo zusammen zur Schule gegangen, war mit ihm im Ausbildungslager, saß mit ihm im Flugzeug und landete zusammen mit ihm am 16. Juni 1981 in Berlin-Schönefeld. Manuel und er trugen einen grauen Arbeitsanzug, heißt es. Und: „Meiner war zwei Nummern zu klein und der von Manuel um einiges zu groß.“ Wie Neonazis ihn später fesselten und folterten, beschreibt er so detailliert, als sei er dabei gewesen. Unter einem Foto steht: „Mein Freund Manuel war eins der ersten Mordopfer Rechtsradikaler in der DDR. Die Täter kamen mit milden Strafen davon.“ Obwohl ja nie Täter ermittelt wurden und es nie einen Prozess gab. Mit dem Namen seines Freundes scheint er etwas durcheinander zu kommen. Manchmal heißt er Manuel, manchmal Manuel Antonio. Und vergleicht man die Ankunftsdaten, stellt sich heraus, dass sie gar nicht zusammen in Schönefeld angekommen sein können: Manuel Diogo ist nicht im Juni 1981 in Berlin gelandet, sondern erst Ende Oktober.
Haben sich die Männer überhaupt gekannt?
Die ehemaligen mosambikanischen Kollegen Diogos sagen, sie hätten nie von Ibraimo Alberto gehört. Manuel wäre auch niemals alleine mit dem Zug nach Berlin gefahren, sie seien immer in der Gruppe unterwegs gewesen.
Das war grausam, wurde ja im Fernsehen gezeigt. Die hatten diese Springerstiefel an.
Ehemalige Kollegin von Manuel Diogo
Konfrontiert man Ibraimo Alberto mit den Widersprüchen, antwortet er mit einem vagen Eingeständnis: Vielleicht erinnere er doch manches falsch, nach so langer Zeit, schreibt er. Womöglich habe Manuel doch in einem anderen Flugzeug gesessen. Und ja, er sei ja auch kein Augenzeuge der Tat gewesen, er erinnere sich nur an ein Gespräch in der mosambikanischen Vertretung, bei dem man ihm erzählt habe, dass ein Mosambikaner im Zug bei Dessau von Skinheads ermordet worden sei. „Warum hätte ich an dieser Aussage zweifeln sollen?“
Seine Geschichte aber ist in der Welt. Und die MDR-Bilder sind es auch. Selbst in der Erinnerung von Zeitzeugen ist die Dokumentation Wirklichkeit geworden. Eine ehemalige Kollegin von Manuel Diogo, die mit einem der ehemaligen Vertragsarbeiter zwei Kinder hat, sagt: „Das war grausam, wurde ja im Fernsehen gezeigt. Die hatten diese Springerstiefel an.“ Fragt man sie, was nicht heute, sondern in den Tagen nach Manuel Diogos Tod erzählt wurde, sagt sie: „Na ja, da dachte man, er war betrunken oder hat die Tür falsch aufgemacht.“
Manuel Diogos Mutter ist 2017 in Mosambik in der Gewissheit gestorben, ihr Sohn sei von Neonazis umgebracht worden. Auch für Harry Waibel steht das fest. Egal, was die Recherchen der Berliner Zeitung ergeben haben, egal, zu welchen Erkenntnissen die Staatsanwaltschaft Potsdam kommen wird. „Erwarten Sie da nichts Großes“, sagt er. „Denken Sie nur an die NSU-Morde.“
Er macht weiter mit seinen Forschungen über die DDR. In alten Akten des Außenministeriums habe er 150 Namen von Ausländern gefunden, die eines „unnatürlichen Todes“ starben, erzählt er. Vor wenigen Tagen hat er diese 150 Namen der Stasi-Unterlagenbehörde geschickt. Da sucht man jetzt nach den Akten.
Die Vozepräsidentin des Deutschen Bundestages gestern in Berlin.
Ein kardinalsroter Bettvorleger im munteren Farbenspiel mit grauen Stützstrümpfen, dazu weiße Tennissocken und Sneaker aus der Plattfußkollektion. Ein modisches Feuerwerk...
Wenn sich die Außenminister Israels und der Vereinten Arabischen Emirate in der Hauptstadt Deutschlands Berlin treffen und sich der deutsche Außenminister Heiko Maas wohlwollend auf die eigene Schulter klopft, so schmückt er sich mit fremden Federn, denn eines ist sicher. Dieses historische Treffen ist eben nicht Deutschlands Verdienst.
Es ist eben Trumps Verdienst, der diesen Friedens-Deal aushandeln konnte, weil er im Gegensatz zu Deutschland nicht die Palästinenser finanziert, nicht bedingungslos die Zweit-Staaten-Lösung fordert, sondern pragmatisch nach neuen Wegen des Friedens gesucht und gefunden hat. Auch wenn es der deutschen Politik und der Journaille nicht schmeckt: Trump agiert auf dem diplomatischen und schwierigen Parkett des Nahen Ostens durchaus geschickt und damit erfolgreich.
Während Deutschland immer noch in der Vergangenheit verhaftet ist und nicht einmal Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen vermag, sogar danach trachtet, EU-Staaten davon abzuhalten, Ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen, handeln die USA einfach. Deutschlands Rolle ist hier erbärmlich und da braucht sich ein Heiko Maas auch nicht auf eine Stele das Holocaust-Denkmals zu stellen, um größer zu wirken. Er macht sich einfach nur lächerlich.
Dennoch schreibt der Tagesspiegel wider besseren Wissens:
Es darf wohl als besondere Auszeichnung gelten. Und als Zeichen, dass Deutschlands diplomatisches Gewicht im Nahen und Mittleren Osten etwas zählt. Zumindest scheinen das Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate so zu sehen. Denn das erste Treffen der Außenminister des jüdischen Staats und der Golfmonarchie fand in Berlin statt – und begann mit einer bedeutsamen Geste.
Israels Außenminister Gabi Ashkenazi, sein emiratischer Kollege Scheich Abdullah bin Zayed und Gastgeber Heiko Maas (SPD) besuchten am Dienstag das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Noch nie zuvor hatte der Chefdiplomat eines arabischen Landes den Gedenkort mit dem Stelenfeld offiziell besichtigt und damit die Millionen jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gewürdigt. Der Besuch Scheich Abdullah bin Zayeds gilt als Zeichen dafür, dass die VAE den zentralen Stellenwert des Holocaust für den Staat Israel anerkennen.
Mitte September hatten Israel und die Emirate auf Vermittlung Washingtons ein Friedensabkommen unterzeichnet. Auch Bahrain scherte kurze Zeit später aus der Liste arabischer Staaten aus, die den jüdischen Staat so lange boykottieren wollen, bis dieses einen unabhängigen Palästinenserstaat zulässt. Weitere arabisch-muslimische Staaten bereiten sich darauf vor, diesem Beispiel zu folgen. Die Verhandlungen des israelischen und emiratischen Regierungsvertreters in deutschen Hauptstadt sind das bisher höchstrangigste Treffen von Vertretern beider Staaten.
„Es ist eine große Ehre, dass der israelische und der emiratische Außenminister Berlin als Ort für ihr historisches erstes Treffen gewählt haben“, sagte Außenminister Maas. Es sei den beiden Kollegen auch persönlich dankbar, dass sie Deutschland dieses Vertrauen entgegenbringen. Der Friedensschluss zwischen Israel und den Emiraten sei „seit Langem die erste gute Nachricht im Nahen Osten – und zugleich eine Chance für neue Bewegung im Dialog zwischen Israelis und Palästinensern“. Das allerdings sehen die meisten Experten anders. Sie gehen davon aus, dass die Sache der Palästinenser längst ins Hintertreffen geraten ist.
Die deutsche Außenpolitik setzt dennoch darauf, dass die Dynamik der Entwicklung eine weitere Entspannung in der Region ermöglicht. (Anm. des Heck Tickers: Eigentlich ein Witz, angesichts der Tatsache, dass deutsche Nahost-Politik in erster Linie darauf abzielt, die Zwei-Staaten-Lösung zu propagieren und dafür Terror gegen Israel billigend in Kauf nimmt, über Märtyrer-Renten diesen sogar indirekt finanziert.)
Deutschland sei der Bitte Israels und der Emirate gerne nachgekommen, das Treffen in Berlin zu organisieren, hieß es denn auch aus dem Auswärtigen Amt. Und das Engagement wird goutiert. „Deutschland ist nicht nur ein enger Freund Israels, sondern auch ein wichtiger Akteur in der Weltdiplomatie“, sagt Aaron Sagui, Gesandter der israelischen Botschaft in Berlin. „Warum sollte die Bundesregierung nicht auch eine größere Rolle im Nahen Osten spielen?“ Deutschland sei in der Region ein respektierter politischer und wirtschaftlicher Partner, der sich bekanntermaßen für den Frieden dort einsetze.
Dennoch ist allen Beteiligten und Beobachtern klar: In der ersten Reihe steht Deutschland dann doch nicht. Im Nahen Osten geben nach wie vor die USA den Ton an. Das ist auch der Fall, wenn es darum geht, die Beziehungen zwischen der arabisch-muslimischen Welt und Israel zu normalisieren. Zwar bemüht sich Benjamin Netanjahu als Regierungschef des jüdischen Staates seit geraumer Zeit darum, die Konfrontation mit den früheren Erzfeinden zu beenden. Sein Motto: Frieden gegen Frieden hat die einstige Doktrin Land gegen Frieden abgelöst. Zumindest Teile der arabischen Welt sind gewillt, ihm darin zu folgen.
Aber es ist kein Geheimnis, dass Donald Trump und seine Administration die einstigen Kontrahenten sehr wohl drängen, endlich aufeinander zuzugehen. Viele Länder werden mit Hilfe von US-Emissären geradezu bearbeitet und gelockt, damit sie dem Beispiel der Emirate folgen.
Historisches Treffen am Ort der Geschichte... Foto: dpa
Der Sudan zum Beispiel. Von verschiedenen Seiten wird übereinstimmend berichtet, dass amerikanische und sudanesische Regierungsbeamte intensiv verhandeln. Noch gibt es zwar keine Vereinbarung über eine Anerkennung Israels durch das geopolitisch und geostrategisch wichtige afrikanische Land. Doch es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis die Übereinkunft steht. Und eine Frage des Geldes.
Denn die Herrscher in Khartum erwarten als Gegenleistung für ihr Entgegenkommen von Washington Hilfszahlungen in Milliardenhöhe. Daran dürfte das Projekt kaum scheitern. Denn aus Sicht der USA und Israels kommt dem Sudan auch in anderer Hinsicht eine besondere Bedeutung zu: Nach dem Sechstagekrieg 1967 schwor die Führung in Khartum, niemals Beziehungen zum jüdischen Staat aufzunehmen. Käme es jetzt zu einer grundlegenden Kursänderung dürfte dies der Region signalisieren, dass an einem normalen Verhältnis zu Israel nichts Anrüchiges mehr ist, sondern dies lediglich den neuen Realitäten im Nahen Osten Rechnung trägt.
Zu diesen Realitäten gehört, dass die Annäherung der einstigen Gegner vor allem der Angst vor dem Iran geschuldet ist. Israel und viele arabische Staaten eint das Ziel, Teherans Hegemoniestreben etwas entgegenzusetzen. Mit den USA wissen die erklärten Feinde der Mullahs einen mächtigen Verbündeten an ihrer Seite.
Corona entwickelt sich mehr und mehr zum Instrument, um Willkürmaßnahmen gegen die Bevölkerung auch ex ante zu legitimieren. Trotz weiterhin niedriger Mortalitätszahlen, trotz wenig belegter Intensivbetten werden nun in Berlin Ausgangssperren und weitere Zwangsmaßnahmen erhoben. Aber nicht für alle... ausgenommen sind Abgeordnete und Politiker, also Menschen mit eingebauter Immunität.
So schreibt die B.Z.: Die Politiker belegen die Bevölkerung mit Zwangsmaßnahmen, von denen sie sich selber ausnehmen. Das lässt tief blicken, meint Gunnar Schupelius.
Die Corona-Notverordnungen werden immer unübersichtlicher. Besonders verwirrend wirkt die Entscheidung der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, drei Berliner Bezirke zu „Risikogebieten“ zu erklären.
Das bedeutet: Wer künftig aus Mitte, Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg in diese beiden Bundesländer reist, muss sich dort 14 Tage in Quarantäne begeben. Unklar bleibt, ob dabei die Meldeadresse ausschlaggebend ist oder der Aufenthalt in einem Risiko-Bezirk und wie das nachzuweisen wäre.
Die Bundesregierung hat darauf sofort reagiert: Abgeordnete sollen von der Quarantänepflicht ausgenommen werden. Das geht aus einem Aktenvermerkt des Deutschen Bundestages hervor, aus dem die Süddeutsche Zeitung zitiert. Demnach soll die Quarantänepflicht für Abgeordnete nicht gelten, wenn sie sich „im Rahmen ihrer Mandatsausübung in einem Risikogebiet aufgehalten haben“.
Tatsächlich findet sich eine ähnliche Regelung auch in der aktuellen Infektionsschutzverordnung des Berliner Senats vom 29. September. Hier wird sogar die gesamte Regierung erwähnt und nicht nur das Parlament.
Befreit von der Quarantänepflicht sind nach der Berliner Verordnung alle Personen, deren „Tätigkeit für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von Volksvertretung, Regierung und Verwaltung des Bundes, der Länder und der Kommunen zwingend notwendig ist“ (§ 9, (2), 2). Wer als unabkömmlich betrachtet wird und deshalb nicht in Quarantäne gehen muss, entscheidet „der Dienstherr“.
Auch für andere Berufsgruppen gibt es Ausnahmeregelungen, die aber zeitlich begrenzt sind. Fernfahrer zum Beispiel müssen dann nicht in Quarantäne, wenn sie sich weniger als 72 Stunden in dem Risikogebiet aufgehalten haben, aus dem sie nach Berlin kommen und wenn sie Berlin nach spätestens 48 Stunden wieder verlassen. Dasselbe gilt für die „Besatzung von Flugzeugen, Schiffen, Bahnen oder Bussen“.
Nur Politik und Verwaltung genießen also die bedingungslose Befreiung von der Quarantänepflicht. Die Politik hat sich dieses Sonderrecht selbst gegeben.
Dieses Privileg wird ebenfalls allen Diplomaten und ihren Mitarbeitern zugestanden. Sie können aus jedem Risikogebiet der Welt kommen und müssen nicht in Quarantäne gehen. Das gilt auch für alle Politiker, Beamte und Angestellte, die für die EU arbeiten und nach Brüssel pendeln und das, obwohl Belgien als Risikogebiet eingestuft wird.
Die Quarantäne ist ein schwerer Eingriff in das Privatleben. Wenn sie dennoch angeordnet wird, dann muss sie natürlich für alle gelten. Wie abgehoben sind Politiker, die das Volk mit Zwangsmaßnahmen belegen und sich selbst davon ausnehmen. Man glaubt es kaum.
Weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die Türkei unter Erdogan den nächsten militärischen Konflikt angeschoben. Nach eine Intervention in Libyen und Provokationen im Gasstreit im Mittelmeer, der Reklamation von Jerusalem als türkische Stadt erst letzte Woche, nun Armenien, der ungeliebte Nachbar im Osten. Widerstand von Seiten der EU sind nicht zu befürchten. Erdogan kann faktisch machen was er will. Die EU wird weiter mit der Türkei verhandeln. Merkel ist zu sehr abhängig von Erdogans Wohlwollen in der Flüchtlingsfrage, doch Europa begreift einfach nicht, was Erdogans Ziele sind.
Am Mittwochabend wurde der Galata-Turm im Zentrum von Istanbul in den Farben der Flagge Aserbaidschans angestrahlt. Es war ein Zeichen der Solidarität an den turksprachigen Bruderstaat, für den Präsident Recep Tayyip Erdogan gern die Parole "Eine Nation, zwei Staaten" verwendet.
Die Hilfe geht weit über Zeichen der Verbundenheit hinaus. Die Türkei engagiere sich militärisch aufseiten Aserbaidschans im Konflikt mit Armenien, das zwischen den beiden Ländern liegt und die Konfliktregion Bergkarabach kontrolliert, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. So lauten Vorwürfe an die Adresse Ankaras.
Am Mittwoch teilte das armenische Verteidigungsministerium mit, ein türkischer Kampfjet F-16 habe ein armenisches Kampfflugzeug SU 25 abgeschossen, der Pilot sei ums Leben gekommen. Auch wenn Aserbaidschan und die Türkei dies dementierten, blieb die armenische Regierung bei der Version und präsentierte Fotos, die Trümmer eines abgestürzten Kampfjets zeigen. Wie er zum Absturz kam, lässt sich daraus allerdings kaum abschätzen.
Die aserbaidschanische Luftwaffe verfügt traditionell über Kampfflugzeuge aus russischer Herstellung. Noch im April besuchte eine Delegation aus Baku Produktionsstätten in Russland, wo SU-25 und MiG-35 gebaut werden. Die Türkei als NATO-Mitglied setzt F-16-Kampfjets aus US-Produktion ein. Laut einer Pressemitteilung des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums landeten F-16 der türkischen Luftwaffe am 31. Juli in Baku, um an der gemeinsamen Militärübung "TurAz Qartali-2020" teilzunehmen.
Beistandsklausel für Armenien
Armenien behauptet, die F-16 der Türkei seien nach Ende der Übungen in Aserbaidschan geblieben und unterstützten dessen Streitkräfte. Mehrfach hätten türkische Kampfjets seitdem den armenischen Luftraum verletzt. Sie seien auch an einem Angriff auf die Region Vardenis in Armenien beteiligt gewesen, bei dem der Kampfjet abgeschossen worden sei.
Diese Aussage ist insofern heikel, als Armenien durch seine Mitgliedschaft "Organisation über den Vertrag der kollektiven Sicherheit" (OVKS) auf Beistand durch Russland setzen könnte - diese mit der NATO vergleichbare Klausel gilt zwar nicht für Bergkarabach, aber für armenisches Territorium. Dennoch sieht die Regierung in Jerewan derzeit davon ab, die OVKS um Beistand zu bitten. Das sagte Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan nach einem Telefonat mit Wladimir Putin. Darüber hinaus hatten Russland und Armenien 2010 den Verbleib eines russischen Militärstandorts in Armenien bis 2044 im Gegenzug für Sicherheitsgarantien und die Lieferung russischer Waffen vereinbart.
Hinweise auf Einsatz türkischer Drohnen
Doch gibt es weitere Hinweise auf eine mögliche türkische Beteiligung durch Videomaterial, das Armenien und Aserbaidschan von den Gefechten veröffentlichen. Im Juni kündigte das Verteidigungsministerium in Baku den Kauf türkischer Drohnen vom Typ Bayraktar an. Während es keine offizielle Mitteilung über die Lieferung dieser Drohnen an Aserbaidschan gab, weisen Experten auf Bildmaterial des Verteidigungsministeriums in Baku hin. Es enthalte Aufnahmen, die typisch für Bayraktar-Drohnen seien. Unbestätigt sind Berichte darüber, wonach diese Drohnen von türkischen Piloten gelenkt werden.
Darüber hinaus behauptete das armenische Verteidigungsministerium am Donnerstag, die türkische Luftwaffe habe das Kommando über die Luftangriffe gegen die Region Bergkarabach übernommen.
Die türkische Regierung selbst erklärt immer wieder ihre Unterstützung für Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien, macht aber kaum Angaben zu konkreten Maßnahmen. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew wiederum sagte, die Türkei sei keine Konfliktpartei und leiste lediglich moralische Unterstützung.
Ausländische Kämpfer im Konfliktgebiet?
Für heftige Diskussionen sorgen Berichte über ausländische Kämpfer, die in das Konfliktgebiet gebracht worden seien. So hieß es, kurdische Kämpfer seien aus dem Irak nach Bergkarabach gebracht worden, um auf armenischer Seite zu kämpfen. Mangels Belegen sind diese Behauptungen aber kaum haltbar.
Konkreter sind Berichte über Kämpfer aus Syrien, die von einer türkischen Sicherheitsfirma für einen Einsatz in Aserbaidschan angeworben worden sein sollen. Der britische "Guardian", die französische Zeitung "L'Express", die Agentur Reuters sowie die Nahost-Expertin Elizabeth Tsurkov fanden Zeugen, die die Rekrutierung von Söldnern in Syrien bestätigten. Die Rede ist von 300 bis 4000 Männern.
Diese kämpften unter türkischer Führung für die "Syrische Nationalen Armee" (SNA), ihnen sei versprochen worden, nur für den Schutz von Infrastruktur in Aserbaidschan eingesetzt zu werden, schrieb Tsurkov in Tweets. Es gebe aber bereits Informationen über getötete und verletzte Syrer von der Frontlinie in Aserbaidschan.
Russische Regierung "zutiefst besorgt"
Nun teilte auch das russische Außenministerium mit, Informationen über "illegale bewaffnete Gruppen, insbesondere aus Syrien und Libyen" vorliegen zu haben, die sich an den Auseinandersetzungen im Bergkarabach-Konflikt beteiligten.
"Wir sind zutiefst besorgt über diese Prozesse, die nicht nur zu einer noch größeren Eskalation der Spannungen in der Konfliktzone führen, sondern auch langfristige Bedrohungen für die Sicherheit aller Länder in der Region schaffen", heißt es in einer Pressemitteilung. Die betroffenen Staaten sollten den Einsatz ausländischer Terroristen und Söldner verhindern beziehungsweise für ihren sofortigen Rückzug sorgen.
Armeniens Staatschef Nikol Paschinjan erhebt schwere Vorwürfe gegen die Türkei: „Tausende von Terroristen“ seien aus Syrien eingetroffen und kämpften an der Seite der Türken für Aserbaidschan. Auch würden F-16-Kampfjets eingesetzt, um Zivilisten zu töten.
Der Konflikt um Bergkarabach war vor einer Woche wieder offen ausgebrochen. Die überwiegend von Armeniern bewohnte Region mit 150.000 Einwohnern hatte sich 1991 von Aserbaidschan losgesagt. Da das mehrheitlich christliche Armenien mit Russland verbündet ist und das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan von der Türkei unterstützt wird, droht eine Ausweitung des Konflikts über die Region hinaus. Durch den Südkaukasus laufen zudem wichtige Erdgas- und Ölpipelines.
Im Interview erhebt Armeniens Staatschef Nikol Paschinjan schwere Vorwürfe gegen die Türkei.
WELT: Sie beschuldigen Aserbaidschan, Militärhilfen von der Türkei anzunehmen. Welche Beweise haben Sie dafür?
Nikol Paschinjan: Wir haben Beweise. Russland, Frankreich und der Iran haben bereits bestätigt, dass die türkische Armee an der am 27. September gestarteten Großoffensive gegen Artsakh (Bergkarabach, Anm. d. Red.) teilgenommen hat. Hochrangige türkische Beamte gaben ihre Unterstützung für Aserbaidschan öffentlich zu, und zwar nicht nur in politischer und diplomatischer Hinsicht, sondern auch auf dem Schlachtfeld. Sie setzen Drohnen und türkische F-16 ein und bombardieren damit zivile Gebiete in Bergkarabach.
Die internationale Gemeinschaft, ganz besonders aber die amerikanische Öffentlichkeit, sollte wissen, dass diese in den USA hergestellten F-16 in diesem Konflikt dazu verwendet werden, Armenier zu töten. Es gibt Beweise dafür, dass türkische Militärkommandeure direkt an der Leitung der Offensive beteiligt sind. Ankara hat Baku mit Militärfahrzeugen, Waffen und militärischen Ratgebern versorgt. Wir wissen, dass die Türkei Tausende Söldner und Terroristen ausgebildet und aus den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden Syriens hierher gebracht hat. Diese Söldner und Terroristen kämpfen jetzt gegen die Armenier. Viele von ihnen wissen noch nicht einmal, warum die Türkei sie nach Aserbaidschan schickt. Man hat ihnen falsche Versprechungen gemacht, was sie erst nach der Ankunft hier im Land herausfanden.
Wir wissen auch, dass diese Terroristen Drogen nehmen – in den Taschen ihrer Uniformen wurden Spritzen mit Betäubungsmitteln gefunden, was auch erklären könnte, warum 30 Prozent der aserbaidschanischen Verluste ausländische Söldner sind.
WELT: Ist die Türkei Ihrer Meinung nach dafür verantwortlich, dass die Situation eskaliert ist?
Paschinjan: Absolut. Die gemeinsame Militärübung von Türken und Aserbaidschanern, die schon im August stattfand, ist im Grunde immer noch nicht beendet. Tatsächlich ist dieser Angriff auf Bergkarabach nur die nächste Phase dieser Operation. Nach der Vorbereitung im August entschlossen sie sich, diese Offensive zu starten und müssen somit für die Eskalation zur Verantwortung gezogen werden. Nach einem ersten Angriff und einer darauffolgenden Niederlage an der armenischen Grenze im Juli wandte sich Aserbaidschan an die Türkei, und es ist offensichtlich, dass Ankara in vielen entscheidenden Aspekten der gegenwärtigen Situation die Entscheidungen trifft. Ihr Ziel ist es, das Gleichgewicht der Kräfte in dieser Region zu ihren Gunsten zu verschieben.
WELT: Was meinen Sie damit?
Paschinjan: Die Türkei will ihre Rolle und ihren Einfluss im Südkaukasus verstärken und so den bereits seit einem Jahrhundert geltenden Status quo verändern. Ihr Traum ist es, ein Imperium im Stil eines Sultanats aufzubauen, und sie schlägt dabei einen Weg ein, der die gesamte Region in Brand setzen könnte.
WELT: Wären Sie zu einem Waffenstillstand bereit?
Paschinjan: Die Türkei und Aserbaidschan müssen die Feindseligkeiten beenden, denn sie haben mit dieser Offensive begonnen und töten auch jetzt, in diesem Moment, weitere Armenier. Bergkarabach darf nicht entwaffnet werden, denn das würde zu einem Völkermord führen. Die Menschen, die dort leben, werden in ihrer Existenz bedroht. Und im Moment zeigt die gegnerische Partei nicht das geringste Interesse daran, die Kämpfe zu stoppen.
Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Aserbaidschan die an ihrer Seite kämpfenden Terroristen irgendwie kontrolliert. Laut unseren Geheimdienstinformationen gehen die Söldner in einigen Dörfern Aserbaidschans einfach in die Läden, verbieten den Verkauf von Alkohol und verlangen, dass die Scharia eingehalten wird.
WELT: Sollten die Verhandlungen über die OSZE-Minsk-Gruppe laufen?
Paschinjan: Es ist das einzig mögliche Format. Die Präsidenten aus Russland und Frankreich haben einen starken Appell an die Angreifer gerichtet. Wir erwarten, dass sich die internationale Gemeinschaft aktiv für ein Ende der Feindseligkeiten¨engagiert. Die Mitgliedschaft der Türkei in der OSZE-Minsk-Gruppe sollte übrigens suspendiert werden, da sich das Land parteiisch und kriegerisch verhält. Aus diesem Grund kann es nicht mehr als Vermittler auftreten.
WELT: Ist diese Krise schlimmer als die im Jahr 2016?
Paschinjan: Sie ist viel schlimmer. Man kann sie höchstens mit dem vergleichen, was 1915 passiert ist, als mehr als 1,5 Millionen Armenier während des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts massakriert wurden. Der türkische Staat, der die Vergangenheit nach wie vor leugnet, ist hier erneut auf dem Weg Richtung Völkermord. Die Welt muss erfahren, was hier passiert. Die internationale Gemeinschaft muss schnell eingreifen und so verhindern, dass sich die Gewalt weiter ausbreitet, denn tut sie dies nicht, wird der ganze Südkaukasus die Folgen dieses Konflikts zu spüren bekommen.