Man kann der Meinung sein, dass mit der AfD nicht zusammengewirkt werden dürfe. Dies ändert nichts daran, dass die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen demokratisch und legal war. Forderungen wie die der Bundeskanzlerin, die Wahl sei «rückgängig» zu machen, sind eindeutig verfassungswidrig.
von Rupert Scholz...
Die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen und das korrespondierende Scheitern der rot-rot-grünen Koalition unter dem «Linken»-Politiker Bodo Ramelow haben in Deutschland, bei Politikern wie Kommentatoren, ein buchstäbliches politisches Erdbeben ausgelöst; dies allerdings, wie näheres Zusehen zeigt, unter völlig falschen Vorzeichen.
Was ist geschehen? CDU und FDP waren sich einig darin, nicht Herrn Ramelow, sondern Herrn Kemmerich zum Ministerpräsidenten zu wählen. Dabei gingen sie davon aus, dass Ramelow im entscheidenden dritten Wahlgang als Minderheitsministerpräsident gewählt würde, da die AfD, die die rot-rot-grüne Koalition ebenfalls ablehnte, in den entscheidenden Wahlgang einen eigenen, freilich ebenso chancenlosen Kandidaten entsenden würde. In der Erkenntnis dessen handelte die AfD indessen völlig anders. Sie gab ihre kompletten Stimmen dem Kandidaten Kemmerich, der damit die erforderliche Mehrheit für die Wahl zum Ministerpräsidenten erlangte. Diese Wahl war ebenso legal wie demokratisch.
Dennoch brach nach diesem Vorgang vor allem in den Berliner Parteizentralen von CDU, SPD und FDP der grosse Wirbel aus. Denn mit der AfD koaliere man nicht, kooperiere man nicht und arbeite man auch sonst nicht zusammen, obwohl die AfD in Thüringen über rund ein Viertel aller Wählerstimmen verfügt. Man verwies auf entsprechende Parteitagsbeschlüsse et cetera, gemäss denen ein solches Zusammengehen mit der AfD seit längerem ausgeschlossen sei. Gegen diese Parteitagsbeschlüsse et cetera sei im thüringischen Landtag verstossen worden, man habe einen «Tabubruch» begangen. Man habe «undemokratisch» gehandelt.
SED-Nachfolger als Demokratie-Wächter
Die Bundeskanzlerin entliess sogar den Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte, weil er dem Kandidaten Kemmerich nach seiner Wahl gratuliert hatte. Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans forderte, das Thüringer Ergebnis «darf keinen Bestand haben». Die Bundeskanzlerin sprach davon, dass das Thüringer Wahlergebnis «unverzeihlich» sei und «rückgängig» gemacht werden müsse. Ähnlich äusserte sich die FDP, und in der Folge wurde der gewählte Ministerpräsident Kemmerich nur wenige Stunden nach seiner Wahl zum Rücktritt veranlasst. CDU und FDP erklärten, dass sie weder mit der AfD noch mit der Linken zusammenarbeiten würden, da es sich in beiden Fällen um extremistische Parteien handle.
Gegenüber der Linken wurde von der einen oder anderen Seite allerdings auch schon einschränkend argumentiert; dies im Wissen, dass die Linke nichts anderes als die Nachfolgepartei der SED ist, an deren Verfassungskonformität nach wie vor erhebliche Zweifel bestehen. Ungeachtet dessen spielt sich die Linke heute in Thüringen als ein besonderer Wächter der Demokratie auf, dem man in angeblich undemokratischer Weise böse mitgespielt habe, indem man ihren Kandidaten Ramelow nicht gewählt habe. CDU und FDP betonen zwar, dass sie weder mit der AfD noch mit der Linken kooperieren würden. Für die SPD und die Grünen gilt jedoch bereits etwas anderes. Sie scheuen sich schon längst nicht mehr, mit der Linken zu koalieren – siehe Berlin, Bremen und jetzt Thüringen.
Politisch mag man das faktische Zusammenwirken von CDU, FDP und AfD bei der Wahl von Kemmerich missbilligen. Man mag auch der Meinung sein, dass mit der AfD nicht zusammengewirkt werden dürfe. Dies alles ändert jedoch nichts daran, dass die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen demokratisch und legal war.
Die Wahl im Thüringer Landtag war demokratisch, weil sie von freien Abgeordneten, frei gewählt und frei in ihrem Abstimmungsverhalten, durchgeführt wurde. Nach Art. 38 Grundgesetz (GG) gilt auch für Landtagsabgeordnete in Deutschland das freie Mandat (siehe auch Art. 54 Thüringer Verfassung). Jeder Abgeordnete ist allein seinem persönlichen Gewissen verantwortlich. Niemand darf ihn zu einem politischen Verhalten dieser oder auch anderer Art zwingen. Die Verfassungswidrigkeit des imperativen Mandats ist unbestritten. Dies gilt für die Abgeordneten von der Linken bis zu den Abgeordneten der AfD, für die Abgeordneten von CDU, SPD, FDP und Grüne ebenso.
Bundesländer haben volle Staatsqualität
Von ebendiesem freien Mandat haben alle Abgeordneten im Thüringer Landtag bei der genannten Wahl Gebrauch gemacht. Wenn das dabei erzielte Wahlergebnis anderen, namentlich bestimmten Parteizentralen in Berlin, nicht gefällt, so spielt dies keine Rolle. Es darf sogar keine Rolle spielen. Denn das freie Mandat des Abgeordneten hat auch den Vorrang vor Parteitagsbeschlüssen, Parteivorstandsbeschlüssen, Parteipräsidiumsbeschlüssen et cetera.
Alle Beschlüsse dieser Art sind zwar natürlich von politischer Bedeutung, rechtliche Bedeutung haben sie aber im Konfliktfall nicht. Die parteienstaatliche Demokratie gemäss Art. 21 GG findet ihre definitive Grenze am freien Mandat des Abgeordneten gemäss Art. 38 GG. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen bestätigt, und dies zeigt sich beispielsweise auch daran, dass ein Abgeordneter, der seine Fraktion verlässt und zu einer anderen Fraktion wechselt, selbstverständlich dies mit seinem Mandat tut, sein Mandat also nicht etwa an seine Partei zurückzugeben hätte oder in sonstiger Weise verlöre. Auch dies ist verfassungsrechtlich unbestritten, und das Gleiche gilt naturgemäss für Parteitagsbeschlüsse oder Ähnliches bei einem damit kollidierenden Abgeordnetenverhalten im Bundestag oder in einem Landtag.
Forderungen wie die der Bundeskanzlerin, dass die Thüringer Wahl «rückgängig» zu machen sei, oder wie die des SPD-Vorsitzenden Walter-Borjans, dass das Thüringer Wahlergebnis «keinen Bestand» haben dürfe, sind eindeutig verfassungswidrig, weil sie das freie Mandat ebenjener Abgeordneten in Frage stellen, die die vorgenannte Ministerpräsidentenwahl in freier Abstimmung vorgenommen haben. Die Äusserung der Bundeskanzlerin ist sogar noch problematischer, weil sie, die nicht mehr CDU-Vorsitzende ist, hier offenkundig nicht als Parteipolitikerin, sondern als Bundeskanzlerin gehandelt hat.
Kein Bundeskanzler, keine Bundeskanzlerin hat im Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland Rechte oder sonstige Befugnisse gegenüber einem Landesparlament wie dem Thüringer Landtag. Im Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland verfügen die Länder über volle Staatsqualität und so auch über prinzipiell unbeschränkte Verfassungsautonomie beziehungsweise über die absolute Autonomie ihrer Verfassungsorgane. Die Verfassungsorgane der Länder, also Landtage und Landesregierungen, sind in ihrem Verhalten dem Bund gegenüber so lange frei und unabhängig, wie sie nicht gegen vorrangiges Bundesrecht verstossen. Die Thüringer Wahl stellt einen solchen Verstoss aber keineswegs dar. Hier wurde allein Thüringer Demokratie und damit Thüringer Verfassungsautonomie ausgeübt. Wer dies auf der Bundesebene nicht akzeptiert oder anerkennt, verstösst gegen das verfassungsrechtlich manifeste Bundesstaatsprinzip (vgl. Art. 20 und 28 GG).
Streit um Wahlabstimmungen und Abstimmungsverhalten im Parlament gehört zu jeder pluralistischen Demokratie. Aber wenn solcher Streit entsteht oder – an sich durchaus legitim – ausgetragen wird, kommt es auch auf die eingesetzten Mittel und Argumentationen beziehungsweise deren Legitimität an. Im demokratischen Rechtsstaat müssen immer Mass und Rechtmässigkeit gewahrt werden. Auch dies sollte eine Lehre von Erfurt sein. Was berechtigt etwa (Bundes-)Politiker, gegenüber dem Abstimmungsverhalten der AfD im Thüringer Landtag von «Aushöhlung der Demokratie» oder «Zerstörung der inneren Demokratie» zu sprechen? Und weiter: Was berechtigt dazu, aus Protest gegen dieses Abstimmungsverhalten zu Strassenterror, zu Gewaltakten namentlich gegenüber Einrichtungen der FDP und Drohakten gegen den gewählten Kandidaten Kemmerich und dessen Familie zu greifen?
Erinnerungen an Weimar
Solche Verhaltensweisen diskreditieren die Demokratie und deren rechtsstaatliche Grundlagen. Wenn hinsichtlich Erfurt sogar von «Weimarer Verhältnissen» gesprochen wird, so kann nur festgestellt werden: In Deutschland drohen heute keine Verhältnisse à la Weimar. Aber wenn gegenüber legitimem Abstimmungsverhalten einer Partei im Landtag in dieser Weise protestiert wird, so erinnert dies in der Tat an die schrecklichen Entwicklungen, die zum Untergang der Weimarer Demokratie geführt haben. Insgesamt: Das angebliche Thüringer Polit-Drama entlarvt sich in Wahrheit als ein ebenso bundesstaatliches wie demokratierechtliches Verfassungsdrama, in dem vor allem Bundespolitiker eine höchst problematische und gefährliche Rolle gespielt haben und offensichtlich auch weiter spielen.
Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass entsprechendes Verhalten sogar strafrechtliche Relevanz erlangen kann. Denn gemäss Paragraf 106 Strafgesetzbuch ist die Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans strafbar. Man kann nur hoffen, dass dies alles von den Verantwortlichen bald erkannt und eingesehen wird und damit auch das Thüringer Polit-Drama wieder in die Bahnen gelenkt wird, in denen das demokratisch freie Mandat von Abgeordneten ebenso wie die demokratische Verfassungsautonomie des Bundeslandes Thüringen in der gebotenen Form geachtet und respektiert wird.
Die Linke will Minderheitsregierung
Ergänzend sei allerdings auch auf ein weiteres, jetzt rein thüringisches Verfassungsproblem hingewiesen: Bekanntlich will die Linke versuchen, über eine neue Wahl im Thüringer Landtag doch eine Minderheitsregierung Ramelow zu ermöglichen. Nach den Ankündigungen der anderen Parteien, d. h. CDU, FDP und AfD, ist jedoch davon auszugehen, dass der Kandidat Ramelow im dritten Wahlgang erneut keine Mehrheit erlangen wird, selbst wenn von den anderen Parteien kein Gegenkandidat aufgestellt wird. Dann stünden sich 42 Ja-Stimmen von Rot-Rot-Grün und 45 Nein-Stimmen von CDU, FDP und AfD gegenüber. Mit anderen Worten: Der Kandidat Ramelow stünde einer klaren Mehrheit von Nein-Stimmen gegenüber, was nach hiesiger Auffassung bedeutet, dass er auch insofern keine relative Mehrheit, wie sie für seine erhoffte Minderheitsregierung erforderlich wäre, erreicht. Die Mehrheit läge bei den Nein-Stimmen; und dies wäre gemäss den Regeln des demokratischen Mehrheitsprinzips entscheidend. Die Thüringische Verfassung regelt diesen Fall zwar nicht ausdrücklich, aber auch für sie ist naturgemäss – wie in allen anderen Fällen – das allgemeine Mehrheitsprinzip massgebend.
Rupert Scholz, 82, ist Mitglied der CDU und Staatsrechtler. Von 1981 bis 1988 war er Senator in Berlin und von 1988 bis 1989 unter Bundeskanzler Kohl Bundesminister der Verteidigung.