Samstag, 5. September 2020

Besser spät als nie...

von Mirjam Lübke...

In Deutschland gilt die Unschuldsvermutung. Deshalb möchte ich Jagoda Marinic von der Süddeutschen nicht unterstellen, erst nach der Berliner Demo auf die Idee gekommen zu sein, dass die Maßnahmen der Regierung etwas überzogen waren. Vielleicht hat sie ihrem Redakteur schon vor zwei Monaten einen ähnlichen Text vorgelegt und eine erboste Reaktion erhalten. Nehmen wir weiterhin an, der Redakteur hat nicht erzürnt seinen Angela-Merkel-Fanbecher nach ihr geworfen. 

"Sag mal, Jagoda, haben sie dich mit dem Klammerbeutel gepudert?", könnte der Redakteur gebrüllt haben. "Ein Artikel mit Kritik an den Corona-Maßnahmen der Kanzlerin? Meinst du, wir sind hier bei Tichys Einblick, oder was? Sollen unsere Abonnenten etwa denken, wir stecken mit diesen Verschwörungsfuzzis unter einer Decke?" 

"Aber Chef, es gibt auch seriöse Wissenschaftler, die das so sehen..." 

"Papperlapapp! 90 Prozent der Deutschen stehen hinter den Maßnahmen! Denen fallen wir nicht in den Rücken... Unsere Einnahmen werden eh immer schlechter..."

"Chef, was sollen die Leute auch anderes denken? Schließlich erzählen ihnen alle Medien seit Monaten das gleiche..."

"Du schreibst die nächsten Wochen nur noch für die Kinderseite! Und jetzt raus hier!"

So könnte es gewesen sein. Vielleicht hat man aber bei der Süddeutschen auch die Bilder der Demo durchgeschaut, für den aktuellen Bericht die mit den "bösen" Fahnen ausgesucht, aber auf den anderen festgestellt: "Schau an, da war aber ein bunt gemischtes Völkchen unterwegs. Einige von denen hätten auch unsere typischen Leser sein können!"

Zeichnet sich etwa eine Trendwende ab? Man hätte sich sicherlich heimlich einen anderen Ausgang der Demo gewünscht, mit randalierenden Regierungshassern und aufmarschierenden Radikalen. Und sogar der "Sturm auf den Reichstag" tritt hinter anderen Themen zurück, vielleicht, weil die Bilder dann doch nicht so spektakulär ausfielen, wie es die Aufregung vermuten ließ. Viele Menschen werden sich gewundert haben, wie es drei Polizisten gelingen konnte, den angeblichen Putschversuch aufzuhalten, wenn andernorts vier Polizisten benötigt wurden, um eine einzelne Frau zu fixieren. 

Auch der Anstieg der Krankheitszahlen ist ausgeblieben. Corona macht wohl doch keine politischen Unterschiede, sondern mag einfach keine frische Luft. Die Ängstlichen, die nach dem 1. August Tausende Tote befürchteten, hatten nicht recht behalten. Auch das werden viele Bürger registriert haben. 
Es gab natürlich auch Enttäuschte. Teilnehmer, die sich gewünscht hätten, dass nun alles auf einen Schlag anders wird, die Regierung zurücktritt und die Masken in den Müll gepfeffert werden können. In einem Postamt in Thüringen gab es letztens helle Aufregung um eine vom Kanzleramt zurückgewiesene Sendung: Eine wütende Bürgerin hatte ihren benutzten Mundschutz an die Kanzlerin geschickt, was übrigens nicht strafbar ist. 

So etwas ist natürlich illusorisch. So schnell wirken Demonstrationen nicht. Aber diejenigen, die positive Erfahrungen gemacht haben, werden in den sozialen Medien und in ihrem direkten Umfeld davon berichten. Und so einem Augenzeugenbericht werden doch einige Menschen mehr Glauben schenken als den Medien. Meine "Haushaltsfee" etwa erzählte mir ganz angetan von einem anderen Klienten, der begeistert aus Berlin wiedergekommen war.

Auch die Süddeutsche - und andere Medien - wissen um diese Dynamik. Zwar erfolgt jetzt noch die automatisierte Distanzierung von den "Spinnern", aber vielleicht wird man davon schon im nächsten Jahr nichts mehr wissen wollen. So, wie heute die wenigsten Magazine sich noch erinnern mögen, wie islamkritisch sie noch bis 2015 waren. Das ist immerhin auch erst fünf Jahre her.


Das Schweigen

Maskenverweigerern sollen höhere Bußgelder zahlen

Kolumne von Jagoda Marinić 

Ein Mensch bekommt Schuldgefühle, wenn er Menschen verletzt - aber ein Bürokrat kriegt nur Schuldgefühle, wenn er Vorschriften verletzt." Diese gemeine, verallgemeinernde Zuspitzung stammt von Regine Hildebrandt, brandenburgische Arbeits- und Sozialministerin unter Manfred Stolpe. Der Satz dürfte erfahrungsgesättigt sein. Er ist wichtig in diesen Zeiten, in denen Vorschriften das Mittel der Eindämmung sind. Vorschriften bis in intimste Lebensbereiche hinein, wie etwa das Sterben. Menschen in Heimen wurde vorgeschrieben, ob sie die letzten Stunden ihres Lebens mit einem nahen Menschen teilen dürfen oder nicht. Kaum etwas beschämt mich so sehr wie die Vorstellung, wie viele alte Menschen, die wir schützen wollten, in den ersten Monaten der Pandemie vielleicht unnötig alleine waren und wie still diese Gesellschaft das hingenommen hat.

Nur weil man sich mit den irrationalen Corona-Protestierenden nicht identifizieren kann, muss man die staatlich verordneten Maßnahmen nicht alle gutheißen. Gerade während einer Pandemie braucht diese Demokratie eine kritische Öffentlichkeit. Wann fangen wir an, Fehler aufzuarbeiten? Ist es nicht bezeichnend für die Übervorsichtigkeit des derzeitigen medialen Diskurses, dass Gesundheitsminister Jens Spahn die erste Selbstkritik vor Demonstranten in Bottrop äußert statt auf kritische Nachfragen von Pressevertretern hin? Er räumte ein, mit dem Wissen von heute seien einige Schutzmaßnahmen unverhältnismäßig gewesen. Eine ehrliche und vernünftige Äußerung. Natürlich, alle standen unter Schock, in den Abendnachrichten nichts als Corona, was auch manche Medienwissenschaftler nun kritisieren. Es sollte das Anliegen aller Bürger sein, wissen zu wollen, wie sinnvoll die Opfer waren und welche Folgen nun zu stemmen sind. Jens Spahn nannte Pflegeheime als Beispiel, ein Bereich, in dem viele Menschen durch die Maßnahmen emotional tief verletzt wurden.

Jagoda Marinic

Jagoda Marinić ist Schriftstellerin. Ihre Kolumne erscheint alle vier Wochen freitags an dieser Stelle. Illustration: Bernd Schifferdecker

Was würden und sollten wir mit dem Wissen von heute nicht mehr tun? Es wurden Fehler gemacht, es werden noch mehr Fehler gemacht werden. Selbst Bürokraten schimpfen hinter verschlossener Tür über das Sammelsurium an Vorschriften, schließlich müssen viele von ihnen das Ganze durchsetzen. Doch im öffentlichen Diskurs herrscht merkwürdige Einigkeit darüber, wie gut Deutschland die Corona-Krise meistert. Nur die Corona-Demos stören, sie seien nicht repräsentativ, heißt es dann. Doch das greift zu kurz.

Im Bemühen, die Proteste zu verharmlosen, verweisen viele gerne auf die fast neunzig Prozent Zustimmung zu den staatlich festgesetzten Maßnahmen. Doch wie kommt es zu diesen neunzig Prozent? Ist Kritiklosigkeit jetzt eine Tugend? Zählen zu diesen neunzig Prozent auch jene Eltern und Familien, die monatelang mit der Schulschließung umgehen mussten, die digitales Homeschooling in einem Land erleben durften, das in Sachen Digitalisierung hinter Kasachstan und Kirgisistan gerankt wird? In Dänemark waren die Kinder schon im April wieder in den Krippen, Kindergärten und Schulen. Man wolle nach vier Wochen die Eltern entlasten, sagte die dortige Regierung - doch in Deutschland ist man trotz des Ausbleibens dieser Entlastung zu neunzig Prozent zufrieden?

Es gab Länder, in denen öffentliche Parks tagsüber gesperrt wurden, damit Kinder lernen können. Bei Regen ging es in Museen oder in andere öffentliche Einrichtungen. Wir können zwar keine Digitalisierung, aber Parks und Museen haben wir auch. Warum versteckt man sich hinter Zufriedenheit, warum fehlt die Energie für Kritik? Ist diese "Zufriedenheit" nicht eher eine Gleichgültigkeit, die einer Demokratie mehr schadet als nutzt?

Der eingangs zitierte Satz von Regine Hildebrandt ist in dieser Krise essenziell. Nach Jahren des Kampfes um informationelle Selbstbestimmung heißt es nun: Willst du einen Kaffee, her mit persönlichen Daten! Außer den Gastwirten beugen sich auch die Innenministerien der Länder gerne über diese Listen, wie diese Woche bekannt wurde. Zweckentfremdet. Hätte man so etwas nicht mit etwas Kritik im Vorfeld ausschließen können?

Welche Folgen die Maßnahmen, mit denen fast alle so zufrieden sind, auf die Gesellschaft haben werden, ist noch lange nicht absehbar. In den ersten Tagen der Einschränkungen träumte man von neuer Solidarität, doch dann kam der Sturm auf das Toilettenpapier. Und die Platzkämpfe, die man sonst vor allem aus Schwimmbädern kannte, zogen in die Supermärkte. Spätestens zur Ferienzeit etabliert sich das öffentliche Beschämen in den sozialen Medien. Unrechtmäßige Fotos von Ungehorsamen, Wuttiraden über Urlaubende, die es wagen, in diesen harten Zeiten genießen zu wollen. Wie gut passt es einem missgünstigen Geist in den Kram, wenn er seine Missgunst hinter seinen Sorgen rund um die Pandemie verstecken darf?

Reiserückkehrer, sagen einige, sollten nun bitte ihre Tests selbst bezahlen, weil sie freiwillig das Risiko eingegangen sind. Als herrsche das Risiko nicht überall. Dabei ist unser Gesundheitssystem glücklicherweise nicht so aufgebaut, dass jeder Skifahrer seinen Knochenbruch selbst zu bezahlen hat, weil ihm das auf dem heimischen Sofa nicht passiert wäre. Risiko gehört zum Leben, das scheint seit Corona vergessen zu sein. Stattdessen: Sozialneid und gegenseitige Bürgerkontrolle.

Ich empfinde keinerlei politische Sympathie für die Corona-Protestierenden, die sich vergangenen Samstag in Berlin von Rechtsextremen die Aufmerksamkeit haben stehlen lassen und sich von Nazis nicht abzugrenzen wissen. Paradoxerweise lenken die medienwirksamen, doch in weiten Teilen hohlen Proteste von den wirklichen Problemen dieser Krise ab. Meist hört man nur krudeste Theorien vor den Kameras und winkt ab. Verschenkt ist der Raum für wichtige Kritik und schwierige Schicksale. Vielleicht wären weniger Bürger auf Verschwörungszyniker hereingefallen, wenn es schon früher kluge kritische Stimmen gegeben hätte.

In normalen Zeiten würde jeder Diskurs solide Medienkritik enthalten, die auch das Schüren von Ängsten kritisiert. Doch seit Monaten riskieren nur wenige Denker fundierte Gegenpositionen, als wäre jede Kritik eine Leugnung der Gefahr. Dabei sollte man gerade jetzt Kritik an den Zuständen nicht Irrationalen überlassen.



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