von Michael Wolffsohn...
Konrad Adenauer war ein Retter Israels. Auch deshalb war der erste deutsche Bundeskanzler in jeder Hinsicht das Kontrastprogramm zum letzten deutschen Reichskanzler, Adolf Hitler. Hitler wollte die „Endlösung der Judenfrage“, also die Vernichtung aller Juden. Adenauer festigte die Lösung der Judenfrage, indem er das Überleben Israels sicherte.
Durch die staatliche Existenz Israels haben alle Juden seit zweitausend Jahren wieder erstmals die Möglichkeit, frei zu entscheiden, ob sie im jüdischen oder woanders in einem nichtjüdischen Gemeinwesen leben möchten. Dass Juden endlich diese selbstbestimmte Wahl haben, verdanken sie nicht nur, doch auch der im Luxemburger Abkommen vom September 1952 vereinbarten bundesdeutschen Wiedergutmachung an Israel.
Diese rund 4 Milliarden D-Mark hatte Israel damals bitter nötig. Ohne sie wäre der neue Staat wirtschaftlich zusammengebrochen. Nur deshalb war Ministerpräsident Ben Gurion bereit, mit Deutschen über eine finanzielle Wiedergutmachung für den Holocaust zu verhandeln und den relativ niedrigen Betrag auch anzunehmen.
Heute wissen wir, dass selbst die weit über jenes Abkommen geleisteten Zahlungen nur einen Bruchteil dessen darstellen, was die deutsche Volkswirtschaft durch den NS-Raub am jüdischen Eigentum dauerhaft bereicherte. „Blutgeld“, empörte sich Oppositionsführer Menachem Begin im Januar 1952. Tausende, teils gewalttätige Demonstranten sahen es ebenso. Fast wäre es dieser Frage wegen zu einem israelischen Bürgerkrieg gekommen. Ironie (?) der Geschichte. Im Nachfolgestaat der Täter wollten viele nichts Israel und „den“ Juden (zurück)geben, im Nachfolgestaat der Opfer wollten viele nichts von Deutschen nehmen. Die DDR verweigerte sich bis zu ihrem Ende jeglicher Wiedergutmachung.
Konrad Adenauer hatte den Vertrag regelrecht durchgeboxt. Zum Teil gegen massive Ablehnung in der Union, besonders der CSU, und erst recht von FDP und Kommunisten. Ohne die Unterstützung der damaligen SPD-Opposition hätte selbst Adenauers vermeintliche Allmacht nicht gereicht, um die im März 1953 erfolgte Zustimmung im Bundestag zu erhalten.
Was viele gar nicht wissen und auch von manchen Historikern lange bestritten wurde: Die Westmächte, allen voran die USA, hatten zwar nichts gegen die finanzielle Wiedergutmachung durch Deutschland. Noch wichtiger war ihnen aber seit Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 die Wiederaufrüstung Westdeutschlands. In Washington glaubte man, dass Deutschland nur entweder die Wiederaufrüstung oder die Wiedergutmachung, keinesfalls beides, wirtschaftlich stemmen könnte. Die USA bremsten daher, London sowie Paris war deutsche Wiedergutmachung an Israel und Juden egal.
Gerade diese Entscheidung Adenauers verdeutlicht, was politische Führung bedeutet: Notfalls die eigene Überzeugung gegen den Hauptstrom der Gesellschaft, auch der eigenen Wählerschaft, durchsetzen, also agieren statt reagieren, steuern statt gesteuert werden. 1952 lehnten 44 Prozent der Westdeutschen die Wiedergutmachungszahlungen ab. Nur 11 Prozent waren dafür. Erst seit den 1980er Jahren hat sich das Meinungsbild geändert.
Noch immer behaupten manche: Adenauer habe die Wiedergutmachung nur durchgesetzt, weil er auf diese Weise hoffte, über die USA Deutschlands Eintrittskarte in die westliche Gemeinschaft besser erlangen zu können. Das ist, wie gesagt, falsch. Wie falsch beweist die Jahreswende 1956/57: Israel hatte im Herbst 1956 gegen Ägypten Krieg führen müssen.
Präsident Nasser hatte Israel wirtschaftlich strangulieren wollen, indem er die Zufahrt zum südisraelischen Hafen Eilat sperrte. Den Krieg gewann Israel schnell. Es weigerte sich, zum Missfallen der USA eroberte Gebiete auf der Sinai-Halbinsel und den Gazastreifen zu räumen. Um Druck auf Israel auszuüben, verlangte Washington von Adenauer das Einfrieren der Wiedergutmachungszahlungen an Israel.
Adenauers Antwort: Das komme nicht infrage. Deutschlands Wiedergutmachung an Israel sei unverhandelbare Grundlage bundesdeutscher Moral und Politik.
Diese in schwierigster Situation praktizierte Moral Adenauers war der Beginn der bis heute fortgeführten engen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen Israel und der Bundesrepublik. Adenauer und Ben Gurion waren die Väter auch der militärischen Kooperation, die organisatorischen Weichenstellungen erfolgten durch Franz Josef Strauß und Schimon Peres, der später Israel in nahezu allen politischen Ämter diente.
Die Legende besagt: Hiervon habe Israel mehr profitiert. Ja, Israel hat hier von Deutschland profitiert. Aber umgekehrt gilt Gleiches. Im Kalten Krieg bezogen Deutschland und die Nato von Israel detaillierte Informationen über (von arabischen Staaten in Kampfhandlungen erbeutete) sowjetische Waffen.
Was wäre heute Deutschlands Terrorabwehr ohne Israels Hilfe? Ohne israelische Drohnen wäre die Bundeswehr noch weniger einsatzfähig. Israels IT-Wissen ist außerdem nicht nur fürs deutsche Militär, sondern auch für Deutschlands Wirtschaft längst unverzichtbar.
• Das erste Mal: Vor dem 6-Tage-Krieg im Juni 1967 fürchteten viele in der Welt einen zweiten Holocaust, sprich: den Untergang Israels. Vor aller Augen bereiteten Ägypten, Syrien und Jordanien einen Krieg gegen den Jüdischen Staat vor. Goliath gegen David. So schien es. Trotzdem erklärte die CDU/CSU-SPD-Bundesregierung ihre „strikte Neutralität“ in Nahost.
An deutsche Waffenhilfe war nicht zu denken. Verteidigungsminister Gerhard Schröder (CDU) wollte sogar die Lieferung von Gasmasken an Israel verhindern, und Außenminister Willy Brandt (SPD) überzuckerte Bonns Haltung: Diese strikte Neutralität sei keine „moralische Indifferenz oder Trägheit des Herzens.“
Israels Militär verwandelte den vorhergesagten Untergang in einen Sieg, dessen politische Früchte noch heute bitter sind. Bitter oder nicht. Brandts Zuckerwatte hätte Israel nicht gerettet, und Gasmasken hatte Israel wider Erwarten doch nicht gebraucht. Nicht bitter ist das: Anders als bis zum Juni 1967 können seitdem nicht nur Muslime und Christen, sondern auch Juden alle heiligen Stätten Jerusalems besuchen. Vor allem die Klage- bzw. Westmauer des im Jahre 70 n. Chr. von den Römern zerstörten Zweiten Jüdischen Tempels. Kann man hierzu moralisch indifferent oder herzensträge bleiben?
• Das zweite Mal: Im Jom-Kippur-Krieg, Oktober 1973, drohte Israel anfänglich tatsächlich die Auslöschung. Um das zu verhindern, lieferten die USA Israel massiven Waffen-Nachschub. Die SPD-FDP-Koalition war dabei alles andere als hilfsbereit oder gar hilfreich. Ohne Zweifel hat sie dadurch Israels Existenz gefährdet.
Das war um so erstaunlicher als Willy Brandt im Juni 1973 diesen Krieg hätte verhindern können. Israels Ministerpräsidentin Golda Meir war Ägypten gegenüber zu weitgehenden Zugeständnissen bereit und hatte Kanzler Brandt um eine Friedensmission gebeten, der er sich verweigert hatte. (Mehr dazu in meinem im Herbst 2018 erscheinenden Buch „Willy Brandt zwischen Krieg und Terror“.) Der israelisch-ägyptische Frieden wurde 1979 ohne und teils gegen die Nahostpolitik von Brandts Nachfolger Helmut Schmidt geschlossen.
• Das dritte Mal: In seiner Israel-Distanz ging Kanzler Helmut Schmidt noch weiter. Anfang der 1980er Jahre, als Saudi Arabien sich noch als Frontstaat gegen Israel verstand, wollte er dem Wüstenreich deutsche Leopard 2-Panzer und andere Waffen liefern. Er scheiterte mit diesem Ansinnen nicht zuletzt an seiner eigenen Partei, allen voran dem eher linken Idealisten Norbert Gansel aus Kiel.
• Das vierte Mal: In den 1980er Jahren halfen deutsche Firmen illegal dem irakischen Diktator Saddam Hussein bei der Reichweitensteigerung seiner Raketen sowie der Produktion von Chemiewaffen. Der Kohl-Genscher-Regierung gelang es nicht, dieses auch Israel existenzgefährdende Handeln zu unterbinden. Im Golfkrieg, im Januar 1991, trafen irakische Raketen – ohne chemische Kampfstoffe – Israel. Tote waren zu beklagen. Außenminister Genscher kam zum Sühnebesuch. Die Sühne-Tat folgte: Deutschland schenkte Israel zwei U-Boote und beteiligte sich großzügig an der Finanzierung zusätzlicher.
• Das fünfte Mal: Im Juli 2015 schloss Teheran mit den fünf Uno-Vetomächten plus Deutschland ein Abkommen, das die Nuklearisierung des iranischen Militärs verhindern soll. Bei näherem Hinsehen handelt es sich jedoch um ein zeitliches Verschieben, nicht um ein Verhindern. Aus Sicht Jerusalems gefährdet Deutschland daher Israels Sicherheit.
• Für die sechste Gefährdungskette war die DDR verantwortlich. Seit den späten 1960er Jahren unterstützte sie massiv extrem antiisraelische arabische Staaten und Terrororganisationen.
Das Fazit nach 70 Jahren: Das trennende NS-Gestern ist in Israel und Deutschland nicht vergessen. Doch Israel und Deutschland (ver)binden im Heute und Morgen gemeinsame Interessen.
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