Samstag, 20. Dezember 2025

Wie ein Spiegel-Reporter ein Märchen über ein rassistisches Amerika schrieb



von Joelle Rautenberg

Eigentlich wollte Spiegel-Reporter Jonah Lemm eine mitreißende Reportage über einen Anwalt im US-Bundesstaat Louisiana schreiben, der in einem rassistischen Amerika gegen Trumps Abschiebepolitik kämpft. Der Text erschien Anfang Dezember im Spiegel. Lemm beschreibt darin, wie er den amerikanischen Anti-Abschiebeanwalt Christopher Kinnison in Louisiana begleitet und für seine Recherchen ein Highschool-Footballspiel in Winnfield besucht. Genau jener Besuch des Footbalspiels wirft aber nach Recherchen von NIUS massive Fragen hinsichtlich der Arbeit des Spiegels auf. Mehrere faktische Ungereimtheiten rufen Erinnerungen an den Spiegel-Skandal um den Autor Claas Relotius aus dem Jahr 2018 wach...

Ein zweiter Hochstapler?

Das beginnt schon bei dem Einstieg in den Text: Holzhäuser, die wirken, als wollten sie sich selbst abreißen. Die flirrende Südstaatenhitze über dem Asphalt. Ein Himmel, so blau, „als hätte ihn ein Kind mit Buntstiften ausgemalt“. Nicht nur die bildhafte, fantasievolle Sprache des Spiegel-Reporters Lemm in seinem Artikel „Wie ein Anwalt in den Südstaaten gegen Trumps Abschiebemaschine kämpft“ erinnert an den früheren Reporter Claas Relotius, der gerne seine szenischen Einstiege ausschmückte. Darauf machte zuerst der Anwalt und Professor für Medienrecht Ralf Höcker auf X aufmerksam.

Relotius arbeitete bis 2018 für den Spiegel und löste eine veritable Magazin-Krise aus, die ein weltweites Medienecho nach sich zog, als bekannt wurde, dass er über Jahre hinweg preisgekrönte Reportagen erfunden, stark verfälscht und abgeschrieben hatte.

Er erhielt von 2012 bis 2018 insgesamt 19 Auszeichnungen für seine journalistische Arbeit, die in großen Teilen erfunden war: der ehemalige Spiegel-Reporter Claas Relotius.



Minderjährige Cheerleader und besorgte Eltern

In seinem Artikel beschreibt Jonah Lemm, der Anti-Abschiebeanwalt Christopher Kinnison habe ihm geraten, ein Highschool-Footballspiel in Winnfield zu besuchen, wenn er „Kultur und Menschen“ kennenlernen wolle. Kinnison selbst geht nicht dort hin, weil er gehört hätte, dass in Winnfield ein Mann das „N-Wort“ gesagt habe und niemand widersprochen hätte. Eine nicht überprüfbare Behauptung, die nicht die einzige in Lemms Text bleibt.

Den Beginn des Spiels zwischen den Winnfield Tigers und den Jonesboro-Hodge-Tigers beschreibt Lemm ebenfalls im relotiusesken Stil. Man habe Gott um ein faires Spiel gebeten, dieser habe jedoch nicht geantwortet, „stattdessen erklang die Nationalhymne.“ Anschließend gibt Lemm an, mit dem Handy „ein paar“ Bilder und Videos vom „Spielfeld und der Tribüne“ aufgenommen zu haben. Was er nicht angibt: dass er offenbar Aufnahmen anwesender junger Mädchen gemacht hat.

Nach wenigen Minuten sei eine Frau auf ihn zugekommen, habe ihn angeschrien und ihm vorgeworfen, minderjährige Cheerleaderinnen zu filmen. Kurz darauf habe ein Mann ihm geraten, das Spiel zu verlassen. Für keine der beiden Behauptungen, weder die Konfrontation durch die Frau noch die Aufforderung durch den Mann, liegen laut Winnfield Police Department Hinweise vor.

Warum filmte der Reporter Minderjährige?

Der Spiegel-Reporter beschreibt weiter, wie er am Tag nach dem Spiel durch die Polizei kontrolliert wurde, da er am Haus einer der beim Spiel anwesenden Cheerleaderinnen vorbeigefahren war. Danach habe er beschlossen, „die Stadt doch lieber zur eigenen Sicherheit zu verlassen“.

Doch die NIUS vorliegenden Bodycam-Aufnahmen zeichnen ein anderes Bild: Der Grund für die polizeiliche Maßnahme war nicht Lemms zufälliges Vorbeifahren am Haus der Cheerleaderin, sondern die Tatsache, dass er die Minderjährige beim Football-Spiel gefilmt habe, woraufhin die Eltern die Polizei alarmierten.

Im Video erklärt ein Polizist Lemm: „Du warst beim Football-Spiel und hast Bilder von den Töchtern der Eltern gemacht. Und plötzlich sehen die Eltern dich, wie du am nächsten Tag besonders langsam an ihrem Haus vorbeifährst“. Auch die Darstellung, Lemm habe die Stadt verlassen, weil er seine Sicherheit in Gefahr sah, ist mehr als zweifelhaft. In den Aufnahmen ist deutlich zu hören, wie ein Beamter ihm versichert: „Nobody is forcing you to leave“ und „it’s not illegal what you did.“

Das Footballstadion von Winnfield. Hier soll der Spiegel-Reporter Jonah Lemm Aufnahmen minderjähriger Cheerleaderinnen angefertigt haben.



In seinem Artikel skizziert Lemm einen verschlossenen, misstrauischen Ortes eines paranoiden Amerikas, „getrieben von Angst“. Doch auch diese Behauptung lässt sich aus den NIUS vorliegenden Bodycam-Aufnahmen nicht ableiten: Im Gespräch mit Lemm äußern sich die Polizeibeamten freundlich und offen. Sie sagen: „Wir freuen uns, dass du hier bist“ und „Wir möchten, dass Menschen herkommen und sehen, wer wir sind und wofür wir stehen“.

„Einer der schlechtesten journalistischen Texte, die ich je gelesen habe“

NIUS sprach mit dem Sheriff von Winnfield, Josh McAllister, um die Behauptungen des Spiegel-Journalisten zu überprüfen. Gegenüber NIUS sagt McAllister, dass Lemm nicht etwa wegen seiner Nationalität aufgefallen sei oder weil die Menschen in Winnfield verschlossen wären, sondern weil er gezielt Fotos von den Cheerleaderinnen gemacht habe, die allesamt minderjährige Mädchen waren.

Hält Lemms Behauptungen für schlechten Journalismus: der Sheriff von Winnfield, Josh McAllister



Laut dem Sheriff müsse Lemm verstehen, dass es ein Problem darstelle, wenn jemand „Fotos von minderjährigen Mädchen ohne das Einverständnis der Eltern oder ohne, dass es jemand mitbekommt“ mache. Zudem habe Lemm „auf der Tribüne gesessen und über einen langen Zeitraum Bilder der Cheerleaderinnen gemacht“ bis einige Eltern ihn konfrontiert hätten. Dennoch, so McAllister, habe ihn niemand explizit aufgefordert, das Spiel zu verlassen.

Jonah Lemm auf seinem Instagram-Profil. Laut dem Sheriff Winnfields, Josh McAllister, soll das Verhalten des Reporters auf dem Highschool-Footballspiel „a pretty serious issue“ sein.



Lemm erwähnt in seinem Artikel lediglich die Stadt Winnfield mit rund 4.000 Einwohnern, ignoriert dabei jedoch den deutlich größeren Verwaltungsbezirk „Winn Parish“, für den Sheriff McAllister zuständig ist und der etwa 14.000 Einwohner umfasst und rund 2.480 Quadratkilometer groß ist, also knapp dreimal so groß wie Berlin. Dass Lemm zufällig innerhalb des Verwaltungsbezirks mehrfach am Haus eines der gefilmten Cheerleader-Mädchen vorbeigefahren sei, hält McAllister für bemerkenswert.

Während Lemm die Bewohner Winnfields als verschlossen und „paranoid“ darstellt, beschreibt McAllister das Gegenteil: „We want people in our Winn Parish. We want people to come and see what we’re about.”

Trotz Winnfields bunter „Police Jury“ (Anm. d. Red.: eine Police Jury ist ungefähr vergleichbar mit einem Gemeinderat in Deutschland) impliziert der Spiegel-Reporter, dass Winnfield fremdenfeindlich wäre.



Laut McAllister steht im Artikel von Lemm vieles, „das schlicht nicht den Tatsachen entspricht“. Dazu zählt laut dem Sheriff auch die Behauptung Lemms, er habe versucht, an die Bodycam-Aufnahmen der Beamten zu gelangen, doch die städtische Mitarbeiterin hätte ihm „nie wieder“ geantwortet. McAllister bezeichnet das als klare „Falschaussage“ und erklärt, es gebe eine Verwaltungsgebühr für die Herausgabe der Videos. Eine Gebühr, die Lemm nie bezahlt habe.

Gegenüber NIUS zeigt sich McAllister schockiert, auch darüber, dass er von dem Artikel erst durch NIUS erfahren habe. „Der Spiegel-Reporter hat nicht nur ein falsches Bild über Winn Parish gezeichnet, sondern auch über ganz Louisiana. Das ist einer der schlechtesten journalistischen Texte, die ich je gesehen habe.“

„Die Aufnahmen waren nie zur Veröffentlichung bestimmt“

Auf NIUS-Anfrage teilte der Spiegel mit, man könne kein Fehlverhalten von Reporter Jonah Lemm erkennen. Die „wenigen Fotos und Videos des Spielfelds“, die Lemm mit seinem Handy aufgenommen habe, seien lediglich „zu Dokumentationszwecken“ entstanden und „nie zur Veröffentlichung bestimmt“ gewesen. Zu welchen spezifischen Dokumentationszwecken Lemm die Fotos machte, bleibt dabei unklar.

Journalismus als Gesinnungsfrage

Ein Gastbeitrag des Strafverteidigers Gerhard Strate von 2018 im Cicero zum damaligen Fall Class Relotius trug den Titel: „Wenn Haltung mehr zählt als Wahrhaftigkeit“. Strate kritisierte darin die zunehmende Entfremdung vieler Journalisten von ihrem Handwerk sowie deren Neigung, zwischen „richtigen“ und „falschen“ politischen Haltungen zu unterscheiden.

Auch im Fall Jonah Lemm lässt sich ein klar politisch motivierter, ideologisch aufgeladener Journalismus erkennen. So betont Lemm, dass im ländlichen Louisiana in manchen Gegenden bis zu 90 Prozent der Menschen bei der Präsidentschaftswahl 2024 Donald Trump gewählt hätten. Gleichzeitig verschweigt der Journalist, dass im gesamten US-Bundesstaat Louisiana über 38 Prozent der Amerikaner für die demokratische Kandidatin Kamala Harris gestimmt hatten.

Im Relotius Artikel „In einer kleinen Stadt“ vom 25. März 2017 behandelt der Autor die US-Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota. Ähnlich wie Lemm verbreitete Relotius im Artikel diverse stereotype Narrative über vermeintlich rückständige Trump-Wähler.



Doch Lemms Artikel über Winnfield ist nicht der einzige politisch gefärbte Artikel des Autors. Bereits 2018 erhielt er den Otto-Brenner-Newcomerpreis für seine Recherche über Verbindungen zwischen AfD-Akteuren und der Identitären Bewegung. Später schrieb Lemm unter anderem für das linke, selbsternannte Faktenchecker-Portal „Correctiv“, das vor allem durch die sogenannte „Geheimplan“-Recherche von 2024 bekannt wurde, eine Veröffentlichung, die gerichtlich bestätigte Falschaussagen enthielt. In einem Correctiv-Artikel warnt Lemm unter anderem davor, dass sich die „Neuen Rechten“ „nachdenklich“ und „philosophisch“ geben und Essays schreiben würden.

Im Jahr 2018 erhielt Lemm den Otto-Brenner-Newcomerpreis für eine Recherche über die AfD.



„You were super nice“

In seinem Artikel konstruiert Lemm immer wieder implizit eine Bedrohungssituation durch Polizei und Anwohner. Durch Formulierungen wie: „Das Amerika, das ich in Winnfield kennengelernt habe, zeigt, wie sehr sich die jahrelange Panikmache von Trump und rechten Aktivisten in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat“ oder „Einem Fremden traut hier niemand“ suggeriert er, die Bewohner Winnfields seien verängstigt oder abweisend.

Doch auch diese Implikationen lassen sich durch die NIUS vorliegenden Bodycam-Aufnahmen nicht belegen. Während der gesamten Polizeikontrolle wirken die Polizisten gegenüber Lemm sehr freundlich und zuvorkommend.

Auf die direkte Frage eines Beamten „So, have I mistreated you?“ antwortet Lemm „No, you were super nice“. Auch die Frage, ob er bedroht worden sei oder jemand versucht habe, ihn zu etwas zu zwingen, verneint Lemm eindeutig.

Auf den NIUS vorliegenden Bodycam-Aufnahmen der Polizeikontrolle wirkt Lemm entspannt und erheitert.



Gerade das Ende der Bodycam-Aufnahmen widerspricht Lemms Narrativ besonders deutlich: Als er fragt, ob er sich eine Zigarette anzünden dürfe, stimmen die Polizisten locker zu. Einer bedauert, dass Lemm seine Recherche nicht offiziell angemeldet habe, da er ihm sonst hätte helfen können, Zugang zum Spielfeld zu bekommen und Bilder zu machen.

Rauchend in der Polizeikontrolle: der Journalist Jonah Lemm.



Die ganze Szene wirkt eher wie eine lockere Unterhaltung: Es wird über die USA, Reisen und Deutschland gesprochen, ein Polizist sagt: „I've always wanted to go to Germany“. Ein anderer bietet Lemm sogar an, ihn auf ein Footballspiel einzuladen und das Ticket für ihn zu kaufen.

Von „Panik“ oder Verschlossenheit kann bei den Polizisten keine Rede sein. Oder um es in Lemms Worten zu sagen: Die Polizisten im Bodycam-Video wirkten vor allem „super nice“.


2 Kommentare:

  1. Der Spiegel lügt. Erzähl mal was neues.

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  2. Der Spiegel "relotiert" wieder. Was für ein verschissenes Drecksblatt

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