Liebe Leserinnen und Leser,
normal ist, was im Alltag keiner Erklärung mehr bedarf. Woran die Menschen sich gewöhnt haben. Was zum Leben nun mal dazu gehört. Es gibt Dinge, die haben sich in den vergangenen Jahren zur Normalität entwickelt, obwohl sie vor zehn Jahren nicht einmal Teil der öffentlichen Debatte waren.
Niemand von uns ist mit dem Wort „Gruppenvergewaltigung“ aufgewachsen. Es gehörte nicht zu unserem Wortschatz. Heute ist das Phänomen „Gruppenvergewaltigung“ viel zu oft Teil der Realität, die uns in trauriger Regelmäßigkeit in den Polizeimeldungen entgegenschlägt.
Unsere Hauptstadt Berlin wirbt auf ihrer Internetseite wie folgt: „Wussten Sie schon, dass Berlin die einzige europäische Stadt ist, die mehr Museen als Regentage hat? Regentage gibt es im Durchschnitt 106 pro Jahr, Museen rund 170.“
Ich würde diesen Slogan an dieser Stelle gerne aktualisieren: „Wussten Sie schon, dass Berlin eine Stadt ist, die mehr Gruppenvergewaltigungen als Regentage hat? Regentage gibt es im Durchschnitt 106 pro Jahr, Gruppenvergewaltigungen 111.“
Richtig gelesen: In Berlin sind Gruppenvergewaltigungen so normal wie Regen. Dieser Satz ist genauso traurig wie amtlich, er ist die Antwort der Berliner Innensenatorin auf eine Anfrage der AfD-Fraktion.
In unserer Hauptstadt wurden 2023 insgesamt 111 Fälle dokumentiert, in denen mehr als ein Täter einen Menschen vergewaltigt haben. Und Mensch heißt in dem Fall: Frau. Mehrere Männer vergehen sich an einer Frau. Oder einem Kind. 37 der 111 Opfer waren minderjährig. 54 Prozent der Tatverdächtigen hatten keinen deutschen Pass – dabei machen Ausländer nur 24,4 Prozent der Gesamtbewohnerzahl Berlins aus.
Eine kleine Auswahl der Tatorte: Mehrfamilienhäuser (41 Fälle), Parks und Parkanlagen (16 Fälle), auf offener Straße (4 Fälle), Schienenfahrzeuge im öffentlichen Nahverkehr (2 Fälle), Bahnhof (1 Fall), Schule (1 Fall).
Ein Großteil der Übergriffe fand im öffentlichen Raum statt. Wenn Sie sich die Zahl 111 nicht merken können, hilft vielleicht diese Eselsbrücke: Einfach an den Polizei-Notruf 110 denken – plus 1, dann sind wir bei 111.
Wir dürfen nicht vergessen: Hinter diesen 111 Fällen stehen 111 Schicksale, deren Leben auf immer verändert sein wird. Im Juni 2023 haben Islam El-M. (18) und Mehmet E. (19) ein 14-jähriges Schulmädchen am Berliner Schlachtensee vergewaltigt. Bei der Anklage wird die Tat laut Bild wie folgt beschrieben: „Etwa 80 junge Leute feiern nachts am Paul-Ernst-Park oberhalb der Liegewiesen, trinken dabei auch viel Alkohol. Gegen 22.30 Uhr machen sich zwei junge Männer an das hübsche Mädchen aus dem Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ran: ‚Komm mal mit!‘ Sie will nicht. Einer trägt sie zu einem abgelegenen Uferbereich. Nein, Bitten und Tränen werden ignoriert. Sie wird festgehalten. Einer küsst sie, einer zieht ihr die Hose runter … Freundinnen finden das Mädchen später blutend im Gebüsch.“ Der 19-Jährige wurde zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, der 18-Jährige zu neun Monaten Haft.
Horror-Geschichten wie diese: 111 Mal pro Jahr in Deutschlands wichtigster Stadt. Direkt vor der Haustür unserer Regierung, in unmittelbarer Nähe zum Reichstag, in diesem konkreten Fall vom Schlachtensee keine 15 Kilometer entfernt vom Schloss Bellevue, wo unser Staatsoberhaupt residiert. Mich macht das wahnsinnig.
Jetzt können wir Berlin als gescheiterte Hauptstadt abtun und sagen: Die Stadt ist eh verloren. Überlassen wir sie doch einfach ihrem Schicksal. Aber erstens leben hier noch Menschen, denen das nicht egal ist. Und zweitens zeigt ein Blick über die Stadtgrenzen: Berlin ist keine Ausnahme, sondern leider die Regel.
In den letzten zehn Jahren gab es exakt ein Bundesland, in dem mal ein Jahr lang KEINE Gruppenvergewaltigung angezeigt wurde. Das war Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2017.
Im Jahr 2022 gab es insgesamt 789 Gruppenvergewaltigungen in Deutschland. Im Jahr 2015 waren es noch insgesamt 400. Das gab die Bundesregierung im Mai 2023 zu Protokoll. Auch der Wert 400 bedrückt mich. Aber heute gibt es statistisch gesehen mehr als zwei Gruppenvergewaltigungen pro Tag. Und in der Hauptstadt alle drei Tage eine.
Wo bleibt der politische Aufschrei? Wo der Aktionsplan gegen Gruppenvergewaltigungen? Welcher Politiker verspricht uns, diese Zahl zu bekämpfen? Oder nach den Ursachen zu forschen?
Ich fürchte, die Zahl der 111 Gruppenvergewaltigungen in unserer Hauptstadt wird weder eine Debatte noch einen Wandel herbeiführen. Ein Regentag ist genau so normal geworden wie ein Tag mit einer Gruppenvergewaltigung. Tut mir leid. Aber was sich hier zur Normalität entwickelt hat, hätte nie normal werden dürfen.
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