Montag, 26. Oktober 2020

Friß oder stirb...

von Thomas Heck...

Der Bürger ist immer der Dumme. Während der Staat zunehmend gegen Maskenverweigerer zu Felde zieht, die Bürger immer mehr maßregelt und mit Maßnahmen überzieht, die man durchaus hinterfragen sollte, wird beim eigenen Verhalten vom Politiker ein ganz anderer Maßstab angesetzt. Wenn z.B. das Bundeskabinett NICHT in Quarantäne muss, weil ihr Gesundheitsminister Jens Spahn an Corona erkrankt ist, unterdessen man bei Schülern eine gnadenlose Linie fährt, dann ist das eine Ungleichbehandlung, die dem Bürger unangenehm aufstösst. Da passt es ins Bild, was sich gestern bei Anne Will zugetragen hat, was die FAZ in ihrem heutigen Artikel gut beschreibt:


Manchmal sagen Bilder mehr als Worte – selbst wenn es nicht die Schreckensgemälde sind, die besonders eifrige Zeitgenossen gern auf ihre virtuellen Leinwände pinseln. Gestern Abend waren es die Bilder während des Abspanns von „Anne Will“. Die Gäste erhoben sich und kamen ins Gespräch, auch ohne den Mindestabstand von 150 cm. Das ist vielen Zuschauern nicht verborgen geblieben, und wurde in den sozialen Netzwerken lebhaft kommentiert. Den Tenor kann man so zusammenfassen: Die Gäste sprechen in dieser Sonderausgabe zum Infektionsgeschehen über Abstandhalten und die Reduzierung sozialer Kontakte, um das aber anschließend gleich wieder zu vergessen. Es gab auch etwas unhöflichere Formulierungen.

Aber „aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Das Zitat stammt von Immanuel Kant und wurde im deutschen Sprachraum zum geflügelten Wort. Diese Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit stand natürlich nicht im Mittelpunkt der Kommentare, schließlich wollen alle nur noch die Unzulänglichkeit der jeweils anderen demaskieren. Trotz allem war das Infektionsrisiko im Fernsehstudio wohl überschaubar. Zwar gelten geschlossene Räume ohne ausreichende Lüftung weiterhin als die wichtigste Ansteckungsquelle, setzen aber die Anwesenheit eines hoch infektiösen Menschen voraus.

Aus der Praxis eines Gesundheitsamtes

Auch nehmen Aerosole auf den Mindestabstand keine Rücksicht, weil sie die Angewohnheit haben, sich im ganzen Raum zu verteilen. Und die Anwesenden hätten im Studio mindestens sechzig Minuten Zeit gehabt, die Virenlast eines möglicherweise Infektiösen einzuatmen. Auf diesen Sachverhalt wies unter anderem die Virologin und Unternehmerin Helga Rübsamen-Schaeff hin. Warum sie aber die Ansteckung in einer Fußgängerzone fürchtete, wenn sie an einem anderen Passanten bloß vorbeigeht, blieb ein Rätsel. Wären selbst solche flüchtigen Begegnungen ein Infektionsrisiko, müssten wir uns über die Kontaktverfolgung durch die Gesundheitsämter wirklich keine Sorgen mehr machen: Sie wäre schlicht unmöglich. Deren Probleme brachte Kaschlin Butt gut zum Ausdruck. Die Leiterin des Gesundheitsamtes in Wiesbaden sprach nicht nur vom Zeitverzug bei der Benachrichtigung von Betroffenen. Mittlerweile sollten diese auch mögliche Kontaktpersonen selbst benachrichtigen, weil das ihr Amt nicht mehr leisten könnte. 

So ging es bei der Kritik an den Abspann-Bildern nicht um die epidemiologischen Risiken im Fernsehstudio von Anne Will, sondern um die damit verbundene Symbolik. Was aber wiederum der passende Kommentar zur Sendung war. Schließlich hatte Armin Laschet (CDU) eine Absage des CDU-Parteitages zur Neuwahl eines Parteivorsitzenden mit der damit verbundenen Symbolik begründet. Er hielt nicht das geplante Hygienekonzept für unzureichend, sondern eine solche Präsenzveranstaltung in der gegenwärtigen Situation für nicht vermittelbar. Wie wolle man das den Menschen erklären, wenn gleichzeitig eine Beerdigung mit lediglich zehn Trauergästen erlaubt sei, so der Ministerpräsident aus Düsseldorf. Allerdings könnte man auch den Trauergästen auf Beerdigungen das gleiche Verantwortungsbewusstsein zubilligen wie den Parteitagsdelegierten der CDU. Das nur als Idee.

Symbolik oder Hilflosigkeit

Die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen wird dabei nicht immer gelingen, wie jeder weiß. Aber die Alternative einer Durchsetzung mittels des staatlichen Ordnungsrechts ist ein Schimäre, wie wohl auch der Berliner Bürgermeister Michael Müller lernen musste. Ein Problem hätte er „nicht mit Kontakten, sondern bei den ungeordneten Kontakten.“ In einer Vier-Millionen-Stadt könnte er nicht „jeden Park rund um die Uhr überwachen“ oder „an jede Haustür einen Polizisten stellen.“ Wobei die steigenden Infektionszahlen unter Polizeibeamten mittlerweile auch in Berlin ein Thema geworden sind. Das hinderte aber die Polizei am Sonntag nicht daran, Fahrradfahrer in der Hauptstadt an die Maskenpflicht in besonders stark frequentierten Straßen zu erinnern. Über die damit verbundene Symbolik hätte man auch diskutieren können, ist aber unterblieben. Man könnte Hilflosigkeit vermuten.

Dabei haben die handelnden Politiker ein wichtiges Anliegen: Die mögliche Überforderung unseres Gesundheitssystems verhindern, um das durch die Pandemie verursachte menschliche Leid zu begrenzen. Dabei will man zugleich soziale und ökonomische Kollateralschäden einer staatlich verordneten Kontaktsperre verhindern. Laschet und Müller machten deshalb deutlich, etwa die faktische Aufhebung der Schulpflicht aus dem Frühjahr nicht wiederholen zu wollen.

Lockdown kein Allheilmittel

Warum ein solcher Lockdown nicht das bisweilen beschworene „Allheilmittel“ in der Pandemiebekämpfung ist, erläuterte der Philosoph Julian Nida-Rümelin (SPD). So hätte Spanien mehr Tote pro 100.000 Einwohner als die Vereinigten Staaten, obwohl dort der Lockdown tatsächlich als Ausgangssperre definiert worden war. Kurz gesagt: Lockdowns stoppen nicht die Pandemie, sondern verschieben lediglich deren Dynamik auf einen späteren Zeitpunkt. Deshalb plädierte Nida-Rümelin dafür, „Maßnahmen nicht immer mit Kriterien zu verwechseln.“ Vielmehr sei es „entscheidend, wie sich die Menschen unter welchen Bedingungen verhalten.“ Die Berliner Fahrradfahrer ohne Maske haben sich allerdings richtig verhalten, wenn sie das Ansteckungsrisiko auf ihren Zweirad als gering definierten.

Aber der frühere Kulturstaatsminister brachte das Dilemma der Politik gut auf den Punkt: Wir seien dabei, in eine „strategische Sackgasse zu geraten.“ Diese besteht aus der Einsicht, dass Präventionspolitik ohne die Eigenverantwortung von uns allen nicht funktioniert. Aber auch aus dem Misstrauen, wir könnten nicht entsprechend handeln. Zugleich sprach er sich für eine Ausweitung der als unzulänglich angesehenen Corona-Warn-App zu einer Tracking-App aus, die auch den Gesundheitsämtern individuelle Bewegungsdaten zur Verfügung stellen sollte.

Butt begrüßte diesen Ansatz, um die Nachvollziehbarkeit von epidemiologisch relevanten Daten sicherzustellen. Müller und Laschet ließen ebenfalls ihre Sympathie für diese, laut Nida-Rümelin, „Technologie des 21. Jahrhunderts“ erkennen. Sie hielten den Vorschlag des SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach für eine Widerspruchslösung für sinnvoll. Die Nutzung der Daten sollte nur dann unterbleiben, wenn jemand ausdrücklich widersprochen habe.

Unzureichende App

Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) formulierte eine klassische liberale Position: Er warnte davor, „den Datenschutz zum Sündenbock zu machen.“ Leider wurde aber eine wichtige Beobachtung nicht weiter diskutiert: Nur wenige Menschen nutzen die bisherige App, um ihre aufgezeichneten Kontakte über eine Infektion zu informieren. Sie soll aber bei einer entsprechenden Warnung bei den Nutzern zwei Verhaltensweisen auslösen: Die eigenen Kontakte zu reduzieren und sich anschließend testen zu lassen. Aber selbst diese anonymisierte App ist nicht mehr in der Lage, die Offenlegung einer Infizierung sicherzustellen.

Offenbar gibt es dafür zwei Gründe: Das Misstrauen gegen den Staat, obwohl diese App dazu keinen Anlass gibt. Und die Angst vor einer Stigmatisierung, weil eine Infizierung in der Debatte längst mit einem schuldhaften Handeln verbunden wird. In den vergangenen Wochen suchte man vor allem nach Sündenböcken für das Infektionsgeschehen und nannte das seltsamerweise Prävention. Eine solche Tracking-App überzeugte somit nur Menschen mit einem hohen Risikobewusstsein, die aber schon längst ihre sozialen Kontakten reduziert haben. Alle, die diese Perspektive nicht teilen, werden diese App nicht mehr nutzen. Diese will man aber erreichen. Und niemand wird hoffentlich versuchen, die Installierung einer Tracking-App gesetzlich vorzuschreiben. In Bayern war man bekanntlich noch nicht einmal in der Lage, die in den Restaurants angegebenen Kontaktdaten lediglich für ihren gesetzlich vorgegebenen Zweck der Pandemiebekämpfung zu nutzen. Dort hielt man es vielmehr für eine gute Idee, diese Daten auch für die Strafverfolgung einzusetzen. Wer wundert sich dann noch über das grassierende Misstrauen gegen staatliches Handeln?

Maskerade als Politikersatz

So zeigte dieser Vorschlag Nida-Rümelins keinen Ausweg aus der „strategischen Sackgasse“, sondern dokumentierte dessen Fortsetzung. Immerhin machte aber diese Sondersendung die Grenzen eines Politikansatzes deutlich, der sich nur noch um die Symbolik seiner Maßnahmen sorgt. Am Ende wird der Staat so tun, als würde er die Pandemie mit der Kontrolle von Fahrradfahrern bekämpfen, während wir Bürger so tun, als würden wir das befolgen. Nur schaut niemand zu, wenn wir uns privat treffen. Aber mit dieser Maskerade wird man niemanden überzeugen, „auf längere Dauer anders zu leben“, wie es Gerhart Baum ausdrückte. Ein Mund-Nasen-Schutz ist dafür in manchen Situationen ein gutes Hilfsmittel, selbst wenn er nervt.

In der ersten regulären Sendung am kommenden Sonntag wird es wahrscheinlich um die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten gehen. Ob diese einen Ausweg aus der dortigen innenpolitischen Sackgasse bieten werden, ist nicht sicher. Dafür werden Anne Wills Gäste den Mindestabstand einhalten, wenigstens während des Abspanns. Diese Symbolik muss schon sein. Unsere Unzulänglichkeit kam schließlich schon gestern Abend gut zum Ausdruck.



 

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