Montag, 31. August 2015

Vater Staat und die 800.000 Mündel

von Jennifer Nathalie Pyka...

Deutschland führt ja bekanntlich gerade eine hitzige Debatte über Flüchtlinge. Unklar ist nur, wo genau die überhaupt stattfindet. Natürlich, es wird viel doziert, gesagt und gesprochen. Hier das Team „Alle raus!“, dort die „Alle rein!“-Fraktion. Dazwischen Til Schweiger, ein Busfahrer und ein paar Inhaber bekannter Positionen, die zwischen Taschengeld und europäischer Solidarität oszillieren. Das alles wäre zweifellos brillanter Stoff für ein Woody-Allen-Drehbuch, vielleicht noch ein Fall für Sigmund Freud. Aber das Label „Debatte“ mutet dann doch etwas euphemistisch an. 

Derweil tauchen die immer gleichen Bilder am Horizont auf. Flüchtlinge, die sich in mazedonische Züge drängen. Weinende Kinder auf Kos. Dann wieder Flüchtlinge an der ungarischen Grenze. Dazwischen dunkle Deutsche in Heidenau und helle Deutsche, die Kuchen vorbeibringen. Wer daneben gerne wissen möchte, wie es nun angesichts von 800.000 Neuankömmlingen weitergeht, wo sie wohnen und arbeiten sollen, wird rasch auf den „Kampf gegen rechts“ und das Leid der Flüchtlinge verwiesen. Das eine ist zwar nicht falsch, das andere zweifellos tragisch, nur eben nicht die Antwort auf die Frage.



In einer besseren Welt gäbe es Wege, dieser Möchtegern-Debatte zu entgehen. In Deutschland existieren dafür jede Menge Neurosen. Dabei würde es schon reichen, nochmal zwei Monate zurück in glücklichere Zeiten zu spulen, als die einzige Person, über die man sich aufregen konnte, Martin Schulz hieß.

Indes gibt es nun ein „wir“, dem magische Kräfte nachgesagt werden. „Wir schaffen das!“ ist die Formel für Anfänger. Fortgeschrittene dagegen fragen lieber nach: „Wenn nicht wir, wer dann?“ Schade nur, dass nie geklärt wird, wer dieses „wir“ eigentlich ist. 

Einigkeit herrscht hingegen insoweit, als Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das ist so sicher wie Norbert Blüms Rente und die Alternativlosigkeit der Energiewende. Allein: Diese These klingt nicht wirklich überzeugend. Denn Einwanderungsländer erkennt man in erster Linie daran, dass sie Zuwanderer nicht kollektiv wie Mündel, sondern wie erwachsene Menschen behandeln und ihnen zugesteht, in Freiheit und mit Eigenverantwortung ein neues Leben zu beginnen. 

Deutschland dagegen ist ein Land für Menschen, die ohne Murren einen beträchtlichen Anteil ihres Einkommens und ihrer Würde abgeben, um sich danach vorschreiben zu lassen, wie man den Müll trennt. Ein Land, in dem man zwar gerne die soziale Kälte beklagt, aber gleichzeitig ein Markt für eine App existiert, die es jedem ermöglicht, Falschparker mühelos beim Ordnungsamt zu verpetzen. Ein Ort, an dem der Staat in Begleitung der parlierenden Klasse alles daran setzt, „Gerechtigkeitslücken“ zuzubetonieren und sich ansonsten der Dampfwalze bedient, um vorhandene Ungleichheiten plattzumachen. Denn unter der Gleichheit, die einst neben Freiheit und Brüderlichkeit rangierte, versteht man hier nicht Gleichheit vor dem Gesetz, sondern harmonische Ergebnisgleichheit in allen Lebenslagen.

Deutschland ist ein Land, das keine Unterschiede erträgt. Es debattiert lieber über eine höhere Erbschaftssteuer, um so endlich etwas gegen die Ungerechtigkeit zu unternehmen, die sich durch die Co-Existenz reicher und armer Familie breitmache. Derweil begnügt sich NRW mit einer „Hausaufgabenbremse“, um wenigstens auf diese Weise den Abstand zwischen Kindern aus sozial schwachen und jenen aus bildungsnahen Elternhäusern zu verringern. Und wenn eine grüne Politikern die Forderung erhebt, auch weniger schlanke Damen bei Misswahlen ins Rennen zu schicken, weil diese sonst durch 90-60-90-Vorgaben ausgegrenzt werden, dann gilt das nicht etwa als Beleg von geistiger Umnachtung, sondern als legitime Antidiskriminierungsmaßnahme. 

Wie soll man also sichere von unsicheren Herkunftsländern abgrenzen, wenn man schon mit dem real existierenden Unterschied zwischen arm und reich völlig überfordert ist? Und wann wird in Bezug auf das Asylrecht wenigstens sprachlich zwischen Kriegsflüchtlingen, die gerade noch dem Islamischen Staat entkommen sind, und Wirtschaftszuwanderern vom Balkan, die schlicht ein besseres Leben führen möchten, differenziert? Wenn es an allen Universitäten nur noch „Studierende“ gibt, oder erst sobald jede Chefetage zu 50% weiblich besetzt ist? 
Stattdessen muss es die überraschende Erkenntnis tun, dass Flüchtlinge Menschen (und nicht etwa Pferde, Katzen oder Wühlmäuse) sind. Dass es tüchtige und faule, anpassungsbereite und integrationsunwillige, gut und schlecht ausgebildete Menschen gibt, hat sich dagegen noch nicht herumgesprochen. Der syrische Arzt, der gut gefüllte Portemonnaies zur Polizei trägt, ist demnach genauso ein Mensch wie der ein oder andere Islamist in Suhl, der einen zerfledderten Koran mit der Faust rächt und dafür mit Schützenhilfe von Bodo Ramelow belohnt wird. Auch das ist nur konsequent in einem Land, das immer dann zuverlässig gegen Islamophobie vorgeht, sobald irgendwo ein Jüngling unter Berufung auf Allah ein Blutbad nimmt. 

Vor allem aber: Wie soll man Flüchtlinge in einen Arbeitsmarkt integrieren, auf dem ungefähr genauso viele Verordnungen, Richtlinien und Gesetze gelten wie es Arbeitnehmer gibt? Deutschland agiert zwar vorbildlich, wenn es darum geht, hochqualifizierte Frauen per Quote in die Führungsetage zu manövrieren. Der Unterschied zwischen „gleichen Rechten“ und „Grundrecht auf Chefsessel“ interessiert uns nicht. 

Aber wie sieht es mit bildungsfernen Zuwanderern und deren Jobchancen aus, solange ein Mindestlohn existiert? In jedem Land der Welt gibt es einen Berufsstand, in dem traditionell viele Zuwanderer – zumindest die erste Generation – vertreten sind: den des Taxifahrers. In Deutschland dagegen gibt es nicht nur Andrea Nahles, deren schützende Hand solche Einwanderer vor diesem Schicksal bewahrt. Daneben existieren auch noch Gerichtsurteile, die die Mindestlohn-freie Alternative namens Uber gleich mit verbieten. 

Natürlich wäre Taxifahren für wenig Geld nicht schön. Aber ein kleines Einkommen ist besser als gar keines. Zudem ist es würdevoller wie auch integrationsfördernder als Arbeitslosengeld. Als vor mehr als hundert Jahren Tausende von Iren und Italienern die erbärmlichsten Bauten New Yorks bezogen, besaßen sie nicht viel mehr als der Flüchtling aus Eritrea von heute. Es gab auch keine Integrationsexperten und kein Taschengeld, dafür nur Freiheit, miese Jobs und die wage Aussicht auf ein besseres Leben. Das reichte, um sich durchzuwurschteln und motivierte vor allem die Kinder der Einwanderer, es mal besser zu machen. Angenehm war das sicher nicht, aber es war möglich. Einwanderung und Flucht aus Armut sind nur selten erbaulich und fast immer eine Herausforderung, die sich nicht gleich morgen auszahlt. 

Das Einwanderungsland Deutschland hingegen wird voraussichtlich das tun, was es am besten kann: verwalten und bevormunden. Flüchtlinge fungieren primär als schutzbedürftige Mündel, weil das die Rolle ist, die sich am leichtesten handhaben lässt. Wenn sie keinen Job finden, sollen sie halt vom Staat leben. Und wenn sie besonders viel Pech haben, werden sie von Angela Merkel gestreichelt. 

Individualismus dagegen nervt. Keiner mag ihn, wir können auch nicht mit ihm umgehen – weder mental, noch praktisch. Und wer schon die autochthone Bevölkerung für intellektuell unauffällige Wesen hält, die erst dann das Zündeln sein lassen, wenn Udo Lindenberg es ihnen im Rahmen eines „Aufstands der Anständigen Deluxe“ vorsingt, wird mit neuen Gästen nicht anders verfahren. 

Wo 1600 Zöllner zwecks Kontrolle des Mindestlohns eingestellt werden, dürften mittelfristig auch anderweitig Arbeitsplätze entstehen. Gebraucht werden Kindergärtner, Lehrer, Polizisten, Beamte im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Richter für Asylverfahren sowie JVA-Beamte, Staatsanwälte und Richter ob inhaftierter Schleuser. Zu den Psychologen gesellen sich dann Streetworker und Integrationsexperten. Nicht wenige davon haben ein Interesse daran, ihren Kundenstamm nachhaltig zu erweitern, zumindest aber zu erhalten. Und natürlich bedarf es zusätzlicher Mitarbeiter in den Arbeitsagenturen. Die werden sich darüber wundern, dass die meisten Arbeitgeber außerhalb des Fachkräftemangel-Universums lieber einen Bewerber mit perfekten statt ausbaufähigen Deutschkenntnissen einstellen werden, wenn sie schon 8,50€ die Stunde zahlen müssen. Spätestens dann dürften all die neu eingestellten Sozialarbeiter zum Einsatz kommen, die den völlig desillusionierten und zu recht deprimierten Einwanderern in ihren Sozialwohnungen höflich mitteilen, dass der Handel mit Rauschgift hierzulande strafbar ist.

Zumindest kurzfristig dürfte all das noch günstiger als die Rettung Griechenlands sein. Mittelfristig wird Wolfgang Schäuble die schwarze Null wohl neu interpretieren müssen. Insoweit ist es nicht einmal völlig falsch, wenn Sigmar Gabriel, Andrea Nahles und Thomas de Maizière nun „Wir schaffen das!“ rufen. Die Frage ist nur, ob die Flüchtlinge das in naher Zukunft genau so sehen werden.

Erschienen auf der Achse des Guten

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