Bundeswehr-Krise: „Liegen maximal bei 50 Prozent der Vollausstattung“
74 Prozent der Waffensysteme einsatzbereit? Bundeswehrverbandschef André Wüstner wirft dem Verteidigungsministerium „abstruse“ Berechnungen vor. Der Politik attestiert er einen Glaubwürdigkeitsverlust, der „einst stolzen Volkspartei“ SPD eine betrübliche Kapitulation.
Oberstleutnant André Wüstner, Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbands: „Die Truppe leistet unter den gegebenen Umständen erstklassige Arbeit“
Seit 2013 ist Oberstleutnant André Wüstner, 46, Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes – und damit Interessenvertreter von rund 200.000 Mitarbeitern der Streitkräfte.
WELT: Wie misst man eigentlich die Leistungsstärke einer Armee, Herr Wüstner?
André Wüstner: An den Fähigkeiten der Streitkräfte. Die speisen sich aus dem Zusammenspiel von modernem Material und motiviertem Personal. Nur mit voller materieller und personeller Stärke, entsprechender Ausbildung und Übung haben Streitkräfte die Fähigkeit, ihren Auftrag zu erfüllen – sind also einsatzbereit. Das ist der Kern, gemessen am politischen Auftrag.
WELT: Dann nähert sich die Bundeswehr also materiell ihrer Topform? Die Hauptwaffensysteme seien zu 74 Prozent einsatzbereit, hat das Verteidigungsministerium gerade mitgeteilt.
Wüstner: Solche Meldungen irritieren die Truppe und zeichnen in der Gesellschaft ein falsches Bild. Denn diese 74 Prozent beruhen auf abstrusen Berechnungsmodellen und haben mit der täglichen Lebenswirklichkeit in der Truppe nicht ansatzweise etwas zu tun. Ob in einer Einsatzflottille der Marine, einer Division des Heeres oder einem Luftwaffengeschwader: Überall verwalten die Frauen und Männer noch immer den Mangel, allen vor vielen Jahren politisch ausgerufenen Trendwenden zum Trotz.
Die Politik hat richtigerweise erkannt, dass die weltweiten Risiken und Bedrohungen unserer Sicherheit eine Vollausstattung der Bundeswehr erfordern. Doch da liegen wir maximal bei 50 Prozent. Bei einigen Systemen wie Hubschraubern oder den alten Tornados ist es noch schlimmer, da ist die Lage prekär.
WELT: Was bedeutet es für die Motivation von Soldaten, wenn ihnen in der täglichen Arbeit ihr Handwerkszeug fehlt?
Wüstner: Es bedeutet Frust – auch wenn sie täglich vorbildlich das Beste aus der Situation vor Ort machen. Nehmen Sie die Brigade, die Deutschland für die schnelle Nato-Speerspitze stellt: 2015 sind die Kameraden buchstäblich mit einem Besenstiel in den Einsatz gezogen; 2018 bis 2020 mussten sie sich ihre Ausrüstung in der ganzen Truppe zusammenleihen. Frau von der Leyen hat dann versprochen, dass beim nächsten Mal, 2022 bis 2024, eine Brigade aus sich heraus führungsfähig und einsatzbereit sein soll. Doch schon jetzt ist klar: Das Ziel wird wieder nicht erreicht.
Und wenn die Kameraden dann noch von 74 Prozent Klarstand der Waffensysteme lesen, sorgt das in Teilen für Verdrossenheit oder zumindest für einen Verlust an Glaubwürdigkeit von Politik. Sie werfen die Frage auf, ob man wirklich an der Einsatzbereitschaft interessiert ist – oder ob die Bundeswehr, wie es der Militärhistoriker Sönke Neitzel mal geschrieben hat, nur noch ein innenpolitisches Projekt ist.
WELT: Für 2031 hat Deutschland der Nato drei voll ausgerüstete Heeresdivisionen zugesagt, ebenso Luftwaffen- und Marinepakete. Die Regierung liegt schon viele Milliarden Euro hinter ihrem Plan. Da scheint eine Reduzierung der Ansprüche fast zwangsläufig, oder?
Wüstner: Nein. Dieses Ziel hat die Regierung unter Federführung des Außenministers aus guten Gründen so beschlossen, so steht es in allen unseren sicherheitspolitischen Grundlagendokumenten. Und so ist es der Nato zugesagt.
Es wäre ein fatales Signal in Richtung der Partner und der neuen US-Administration, wenn Deutschland sich gerade jetzt vereinzelt aus dem Staub macht und die deutschen Planungsziele für die Allianz nach unten korrigiert. Das untergräbt Vertrauen.
WELT: Fakt ist dennoch: 2022 wird es zu einem Kassensturz mit Blick auf die Kosten der Corona-Pandemie kommen.
Wüstner: Aber ich warne davor, an der Sicherheit zu sparen. Innere und äußere Sicherheit sind Kernaufgabe staatlichen Handelns. Schauen Sie sich doch um in der Welt – Sie werden keine Himmelsrichtung ohne sicherheitspolitisches Risiko für Deutschland und Europa finden.
Deswegen ist es richtig, dass ein Bündnis wie die Nato wieder mehr in Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung investiert. Und deshalb muss Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land in Europa seine Zusagen einhalten, sich aber gleichzeitig auch im eigenen Land, Stichwort Cyber-Attacken oder Terrorismus, besser als bisher aufstellen.
WELT: In jedem Koalitionsvertrag steht, dass die Bundeswehr die bestmögliche Ausrüstung erhalten soll. Können Sie das noch ernst nehmen, wenn Sie auf die neuerliche Weigerung der SPD blicken, Kampfdrohnen zu beschaffen?
Wüstner: Es wurde acht Jahre über fünf – ich betone: fünf – Drohnen mit Bewaffnung diskutiert. Dass der SPD-Vorsitzende Walter-Borjans jetzt immer noch nicht entscheidungsfähig ist … nun ja, das spricht für sich. Ich habe jedenfalls extrem verärgerte Reaktionen bekommen, gar nicht mal so sehr von Soldaten, sondern von deren Angehörigen: Partner, Väter, Mütter, Familienangehörige.
In einer Zuschrift an den Verband hieß es: Das ist die betrübliche Kapitulation einer einst stolzen Volkspartei vor einer lautstarken und bewusst mit falschen Argumenten kommunizierenden Minderheit. Das unterschreibe ich so.
Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Die SPD kann den Spagat zwischen bestmöglicher Ausrüstung für den Schutz der Soldaten und der Ablehnung bewaffneter Drohnen nur dann hinkriegen, wenn sie die Konsequenz zieht: keine Einsätze mehr. Alles andere empfinden Soldaten und ihre Angehörigen als verantwortungslos.
WELT: Eine Mission, die tatsächlich zu Ende gehen wird, ist Afghanistan. Wurden aus diesem 20-jährigen Einsatz die richtigen Lehren gezogen?
Wüstner: Lehren kann man immer erst dann ziehen, wenn man einen Einsatz gründlich evaluiert hat. Das ist bisher nicht passiert. Ich habe das schon mal als eine Art Feigheit von Politik beschrieben.
Ob die Machbarkeitsillusionen zu Beginn oder die mangelnde Koordination des sogenannten vernetzten Ansatzes, also der Zusammenarbeit der deutschen Regierungsressorts: Es gibt genug aufzuarbeiten, auch wenn vieles gut lief. Insbesondere Soldaten, die im Einsatz verwundet wurden oder Kameraden verloren haben, äußern den dringenden Wunsch, das endlich zu tun.
Politische Fehler können passieren. Nur sollte man sicherstellen, dass die gleichen Fehler in der Sahel-Region oder anderswo kein weiteres Mal gemacht werden. Denn in Einsätzen bedeutet das eben oft, dass Soldatinnen und Soldaten ihr Leben verlieren, ohne in puncto Stabilisierung einen Millimeter nach vorne gelangt zu sein. Die Grundaussage bleibt: Soldaten gewinnen eben nur Zeit – Fortschritte in der Region schafft man durch Diplomatie in Verbindung mit Entwicklungshilfe.
WELT: Die Rüstungsbeschaffung läuft ja nach wie vor nicht richtig rund. Ob neues Sturmgewehr, schwerer Transporthubschrauber oder Marinetanker: Alles wurde vorzeitig abgebrochen. Woran liegt das?
Wüstner: Wir müssen selbstkritisch die Organisationsstruktur sowie -verfahren der Bundeswehr im Rüstungs- und Beschaffungswesen hinterfragen – das ist das eine. Damit meine ich nicht einzelne Menschen im Beschaffungsamt, sondern vielmehr die politisch gesetzten Rahmenbedingungen.
Das andere sind stete politische Einflussnahmen. Bei manchen Rüstungsprojekten geht es nicht in erster Linie um die schnelle Stärkung der Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte, sondern um wirtschafts-, industrie- und europapolitische Implikationen. Mal startet Politik aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ein bestimmtes Großprojekt, mal soll ein Kampfflugzeug der Zukunft als europapolitisches Symbol mit Frankreich entwickelt werden.
WELT: Das sind ja auch legitime Ziele.
Wüstner: Ich habe nichts gegen solche Ziele. Probleme bekommen wir nur dann, wenn die Einsatzbereitschaft in den kommenden Jahren darunter leidet. Gerade politisch motivierte Vorhaben, die nicht mit dem priorisierten militärischen Bedarf im Einklang sind, binden erhebliche Finanzmittel für Forschung und Entwicklung. Dieses Geld fehlt dann für Ersatzteile, Munition, Helme oder Nachtsichtgeräte.
Das Verteidigungsministerium sollte dem Parlament klar aufzeigen, welche Lücke zwischen politischer Ambition einerseits und dem Finanzplan für die kommenden Jahre andererseits klafft. Die Trendumkehr vom Zulauf von Gerät zum Abfluss, also altersbedingter Verschrottung, ist noch nicht geschafft. Der Sanierungsbedarf der Streitkräfte ist eben nach wie vor brutal.
WELT: Was kann die Bundeswehr selbst tun? Der ehemalige WehrbeauftragteHans-Peter Bartels (SPD) hat vorgeschlagen, den Bereich der Nutzung von Waffensystemen aus dem Koblenzer Rüstungsamt herauszulösen. Sinnvoll?
Wüstner: Ja. Wir müssen unsere dysfunktionalen Strukturen so anpassen, dass Führung und Verantwortung wieder in einer Hand sind – und damit auch die Nutzungsverantwortung. Ich hoffe, dass Frau Kramp-Karrenbauer diesen und ähnliche Impulse aufnimmt. Die Legislaturperiode läuft aus, für wesentliche Reformen wird es nicht mehr reichen. Aber die Vorarbeiten müssen erledigt werden: Die Ministerin sollte Vorschläge erarbeiten lassen, die man dann in der kommenden Legislaturperiode anpacken kann.
WELT: Die kleinste Bundeswehr aller Zeiten hat so viele Organisationsbereiche und Stäbe wie nie. Muss man da nicht auch ran?
Wüstner: Ja, wir brauchen Anpassungen in der Gesamtstruktur oberhalb der Truppenkörper der Bundeswehr. Die Führungsfähigkeit des Inhabers der Befehls- und Kommandogewalt ist nicht ausgerichtet auf die im Weißbuch 2016 zementierte Gleichrangigkeit von Landes- und Bündnisverteidigung sowie internationalem Krisenmanagement. Meiner Meinung nach braucht es eine effektivere Organisation, ausgerichtet an den vier Kerndimensionen Land, Luft, See und Cyber.
Es ist elementar, Aufgaben, Verantwortung und Ressourcen wieder in Deckung zu bringen, um das Kernprinzip von Leistungsfähigkeit in der Bundeswehr zu ermöglichen: dezentrales, eigenverantwortliches Führen mit Auftrag. Gelingt das in der nächsten Legislaturperiode nicht, werden wir an Effektivität verlieren und die Führungskultur wird irreparablen Schaden nehmen.
WELT: Haben Sie Signale, ob Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) diesen Gestaltungsauftrag annehmen wird?
Wüstner: Die Ministerin ist angetreten mit einer ersten, wirklich sehr guten Rede nach ihrer Vereidigung. Danach hat sie sicherheitspolitische Impulse gesetzt und die gesellschaftliche Sichtbarkeit der Truppe erhöht, beispielsweise durch das Bahnfahren in Uniform. Alles gut, insbesondere wenn man die Doppelbelastung Ministerium und Parteivorsitz sieht.
Aber die Kernverantwortung einer Verteidigungsministerin liegt in der ganzheitlichen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Ja, diese hat auch eine organisatorische Dimension. Will sie da gestalten und Möglichkeiten der Adaption erarbeiten oder nur verwalten? Am Ende der Legislaturperiode wird all das messbar sein.
WELT: In der Corona-Krise ist die Bundeswehr eines der wenigen staatlichen Organe, das tadellos funktioniert. Ein kleiner Trost für Sie?
Wüstner: Wissen Sie, ich verstehe meine Aufgabe als Interessenvertreter der Angehörigen der Bundeswehr so, dass ich ausdauernd auf die Lücke zwischen politischen Versprechen und der Realität hinweise, regelmäßig Optimierungsvorschläge einbringe. Das ändert aber nichts daran, dass die Truppe, trotz mangelhafter Einsatzbereitschaft in der Landes- und Bündnisverteidigung, unter den gegebenen Umständen erstklassige Arbeit leistet – gerade im internationalen Vergleich.
Danke sagen möchte ich gerade in diesen Tagen zwischen den Jahren den Menschen, die in den Einsätzen fernab der Heimat ihren Dienst tun. Ich fände es gut, wenn wir an sie denken – und auch an all jene, die in den vergangenen Jahren nicht wieder nach Hause zurückgekehrt sind.
Und ja, in der Pandemie würde vieles ohne die Streitkräfte nicht laufen. Unsere Amtshilfe rettet Leben. Ich glaube, anders als manchem Ideologen im Parlament und anderswo ist das der Mehrheit dieser Gesellschaft auch sehr bewusst.
Erschienen in der WELT...