Messerattacken im Tagesrhythmus, Terrorangriffe mit allem, mit dem man Menschen töten kann, offener Judenhass, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit... die Liste ließe sich endlos fortführen...
In Berlin beträgt der Anteil von Schülern mit ausländischen Wurzeln mancherorts bis zu 90 Prozent. Schulsenatorin Busse (SPD) rät Eltern ab, das als Ausschlusskriterium zu sehen – sie könnten „positiv überrascht“ werden. Und wie will Busse politisches und religiöses Mobbing bekämpfen?
WELT: Frau Busse, bis zu Ihrer Berufung zur Senatorin waren Sie lange Jahre Leiterin einer Schule im Brennpunktbezirk Neukölln. Was ist das größte Problem der Berliner Schulen?
Astrid-Sabine Busse: Natürlich der Fachkräftemangel. Und das nicht nur in Berlin: Uns fehlen bundesweit Zehntausende von Menschen, die die geburtenstarken Jahrgänge ersetzen, die jetzt in Pension gehen. Es dauert wohl bis 2030, bis sich das etwas beruhigt. Wir haben noch schwere Jahre vor uns.
WELT: Sie haben jetzt als Senatorin die Chance, etwas zu ändern. Aber in Politik und Verwaltung sind Sie eine Newcomerin. Hatten Sie eine Vorstellung davon, wie hart dieser Job ist?
Busse: Das hat mir keiner im Vorfeld so genau erklärt. Aber so wie ich die Quereinsteiger an den Schulen immer gut betreut habe, werde auch ich hier sehr gut unterstützt. Und politisch naiv bin ich als Vorsitzende eines Berliner Schulleitungsverbandes natürlich auch nicht gewesen.
WELT: Als Bildungssenatorin muss man traditionell viel Prügel einstecken. Gegen Sie hat die CDU sogar einen Missbilligungsantrag eingebracht. Wie gehen Sie damit um?
Busse: Es ist absurd, mich nach einem halben Jahr im Amt für die seit Jahren bestehende Mangelsituation verantwortlich zu machen. Aber auf Gegenwind muss man sich als Bildungssenatorin einstellen. Daher reißen sich die Leute auch nicht gerade um den Job. Aber jetzt bin ich da. Und ich bleibe.
WELT: Dieses Jahr konnten erstmals 170 Kinder zum Stichtag zunächst nicht mit Plätzen an weiterführenden Schulen versorgt werden. Wie konnte es zu einer solchen Fehlplanung kommen?
Busse: Es ist üblich, dass es am Schuljahresende noch Verteilungskonferenzen gibt, um noch Schüler unterzubringen. Und es haben auch diesmal alle rund 26.000 Siebtklässler noch einen Platz bekommen. 91 Prozent von ihnen an einer ihrer drei Wunschschulen. Der Wert ist nicht schlechter als im Vorjahr.
WELT: Bei den Lehrkräften sieht es weniger rosig aus. Sie rechnen damit, dass im Sommer 920 Stellen unbesetzt bleiben. Konnten Sie die Lücke bis Schuljahresende noch verkleinern?
Busse: Die Einstellungen laufen noch. Aber viel besser wird es zunächst nicht werden. Ich unterschreibe hier täglich Pensionsurkunden.
WELT: Wann wird es denn besser werden?
Busse: Dann bin ich nicht mehr im Dienst. Es wird ein Prozess von zehn Jahren werden. Die Universitäten müssen mehr junge Leute zum Abschluss bringen. Und wir brauchen erst einmal wieder mehr Menschen, die in den Beruf gehen. Dazu gehören natürlich auch Quer- und Seiteneinsteiger. Ich habe dadurch fantastische Menschen an die Schulen bekommen.
WELT: Wie können mit einer solchen Mangelwirtschaft auch noch Schüler aus der Ukraine integriert werden?
Busse: Das kommt noch obendrauf. Wir haben jetzt schon fast 5000 Schülerinnen und Schüler untergebracht. Ich habe anfangs gesagt: Wir stellen überall noch einen Stuhl rein. Dafür bin ich ausgelacht worden. Aber wir haben es gemacht. Ich wünsche es natürlich jeder Familie, dass sie zurückgehen kann. Wir wissen jedoch nicht, wann der Krieg zu Ende ist. Deshalb müssen wir auf das Erlernen der deutschen Sprache setzen. Und das schaffen wir auch.
WELT: Berlin führt jetzt als letztes Bundesamt die Verbeamtung von Lehrern wieder ein. Wann wollen Sie dafür ein Konzept vorlegen?
Busse: Nächste Woche haben wir die große Freude, die ersten paar Hundert Referendarinnen und Referendare zu verbeamten. Die Überführung der Bestandslehrer ist verwaltungstechnisch komplizierter. Die Verbeamtung ist natürlich auch nur ein Baustein zur Lehrergewinnung. Wenn auch ein wichtiger: Wir haben in den letzten zehn Jahren fast 5000 Lehrkräfte an andere Bundesländer verloren.
WELT: Berlin war ja eigentlich bisher schon finanziell attraktiv. Zuletzt konnten die angestellten Lehrer mit einem Einstiegsgehalt von 5700 Euro brutto rechnen. Spielt am Ende nicht das Geld eine Rolle, sondern die prekäre Arbeitssituation an der Schule?
Busse: Das lasse ich überhaupt nicht gelten. Man kann an jeder Schule in diesem Land gut arbeiten – gerade auch in den Gebieten mit prekären Haushalten, weil die Kinder oft besonders dankbar sind für Zuspruch.
WELT: Wir wissen mittlerweile, dass viele Kinder psychisch enorm unter der Corona-Pandemie gelitten haben. Was tun Sie dagegen?
Busse: Wir haben 39 zusätzliche feste Stellen für Schulpsychologen geschaffen. Das bedeutet einen Personalaufwuchs um 40 Prozent und wird helfen. Die Schäden sind da, wir werden noch lange damit leben müssen.
WELT: Thilo Sarrazin hatte Sie für sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ mit einer heute 13 Jahre alten Äußerung über arabischstämmige Migranten zitiert: „Sie bleiben einfach untereinander. Man muss sich hier ja auch gar nicht mehr integrieren. Man nimmt das Viertel in Besitz, und man lässt sich pampern.“ Warum haben Sie sich jetzt dafür entschuldigt?
Busse: Ich habe mein großes Bedauern darüber ausgedrückt, dass sich Menschen verletzt gefühlt haben. Als Schulleiterin habe ich auch mal zugespitzt. Jetzt bin ich Senatorin und höre mir eher an, was Schulleiter berichten.
WELT: Dennoch: Es gibt in vielen Berliner Kiezen die Situation, dass man viel Geld für die Miete zahlen muss, aber in den Klassen der Einzugsschule 80, 90 Prozent Kinder nicht deutscher Herkunft (ndH) sitzen. Was raten Sie Eltern, die ihre Kinder nicht an eine solche Schule schicken wollen?
Busse: Ich rate jedem, sich die Schule erst einmal anzuschauen. Womöglich werden Sie positiv überrascht sein. Im Berliner Durchschnitt sind übrigens bereits gut 40 Prozent der Schüler nicht deutscher Herkunftssprache. Also willkommen in der Realität!
WELT: Das heißt, Eltern müssen sich damit abfinden, dass ein Großteil der Kinder bei der Einschulung kein Deutsch spricht?
Busse: Viele Berliner Kinder sprechen neben Deutsch noch eine andere Sprache. Ndh heißt ja nicht, dass man kein Deutsch spricht. Ich finde es gut, wenn Kinder in ihrem Umfeld bleiben, um Freundschaften zu schließen. Wenn die Schule funktioniert, kann ein Kind auch gut in einer Klasse mit vielen Kindern nicht deutscher Herkunftssprache lernen.
WELT: Das heißt, bildungsnahe Familien, die nach Kreuzberg oder Neukölln ziehen, sind selbst schuld?
Busse: Wer das schicke urbane Kreuzkölln erleben will, muss das Abenteuer in Kauf nehmen. Man trifft da mitunter tatsächlich auf Migranten! Ich rate dazu, der Schule aus dem eigenen Kiez eine Chance zu geben.
WELT: Im rot-grün-roten Koalitionsvertrag steht, dass das Merkmal „nicht deutsche Herkunftssprache“ für Schulen künftig nicht mehr veröffentlicht werden soll. Was spricht gegen Transparenz?
Busse: Die Schulqualität können Sie in den Berichten der Schulinspektion, die wir auf unserer Internetseite öffentlich machen, viel besser ablesen. Wir haben viel mehr Faktoren, um die unterschiedlichen Belastungen einer Schule abzubilden.
In unserer neuen Schultypisierung fassen wir sechs verschiedene Kriterien zusammen, darunter auch die Muttersprache der Kinder. Wir haben über 700 Schulen. Und Schulen in sozialen Brennpunkten erhalten von uns besonders viel Unterstützung.
WELT: Im vergangenen Jahr enthüllte eine Befragung religiöses Mobbing und Bedrohungenan zehn Neuköllner Schulen. Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Busse: Wir wollen zu dem Thema politische und religiöse Konflikte an Schulen eine Studie durchführen. Die Probleme sind vorhanden. Wir brauchen berlinweit valide Daten. Wir sind gerade auf der Suche nach einer geeigneten Universität, die wir beauftragen können. Wenn die Daten vorliegen, werden wir entsprechend handeln. Staatliche Schulen sollen ein neutraler Ort sein.