von Mirjam Lübke...
Wer früher den Wehrdienst verweigern wollte, musste angeblich die Frage beantworten, wie er sich verhalten würde, wenn im Park ein Russe aus dem Gebüsch käme, um sich an seiner Liebsten vergreifen. Da steht er nun, der Durchschnittsrusse, ein riesiger Bär mit Pelzmütze, Balalaika auf dem Rücken und Kalaschnikow in der Hand. Mit einer Sitzblockade kommt man in diesem Fall nicht weit, vor allem wenn wir uns den Befragten als von Müsli geschwächten Klischeepazifisten vorstellen. Den packt der russische Bär mit einer Hand, wirft ihn wie die Kugelstoßerin Olga Steroidikowa hundert Meter weit in den nächsten Ententeich und schleppt anschließend die holde Maid in seine Datscha. Die meisten jungen Grünen würden heute krachend an dieser Gewissensprüfung scheitern.
Selbstverständlich kämen sie ihrer Freundin nicht persönlich zu Hilfe, denn ihre Kraft und Gesundheit brauchen sie noch für die nächste Autobahnblockade oder die Erstürmung eines Braunkohlebaggers. Aber auf ihrem Handy hätten sie die Notrufnummer des nächsten NATO-Stützpunkts gespeichert, der sofort einen Trupp Fallschirmjäger schickt, um das Böse zu erledigen. Der gesamte Park ist anschließend verwüstet, aber die Freundin mächtig beeindruckt. Das macht es fast wieder wett, dass Sören-Malte sie schnöde im Stich ließ, als ein paar Herren aus Nahost das gleiche Ansinnen hatten. Sie aus dieser Situation zu retten, hätte ihm schließlich als Rassismus ausgelegt werden können.
Um es ganz klar zu sagen: Mein Verständnis für Putin endete mit dem Einmarsch in die Ukraine. Alles vorher konnte ich rational nachvollziehen, die Amerikaner wären mit Sicherheit auch nicht begeistert gewesen, wenn Kanada oder Mexiko ein Militärbündnis mit Moskau geschlossen hätten. Manche Experten sagen, es gäbe eine neue Linie der US-Politik, mit der Russland dazu verleitet werden sollte, sich international durch eine vorschnelle militärische Operation zu diskreditieren - aber dazu gehören immer zwei. Eigentlich hatte ich Putin für zu rational gehalten, um in so eine Falle zu tappen. Es steht außer Zweifel, dass die ukrainische Zivilbevölkerung einen hohen Preis für diese geopolitischen Spielchen zahlt - ihr sollte tatsächlich unsere ungeteilte Solidarität gelten.
Ebenso gebe ich aber zu, wie sehr mich das Verhalten vieler junger Deutscher verwirrt. Eine ganze Generation entdeckt plötzlich den Krieger in sich, nachdem sie es seit Jahren nicht schafft, ihre Illusionen über den Zustand in unseren Großstädten endlich zu überdenken. Sogar legitime Sicherheitsinteressen in Deutschland durchsetzen zu wollen, gilt als Tabu. Jetzt ist man im Kriegsrausch, es reicht nicht, den Krieg zu beenden, sondern man schwärmt von Waffenlieferungen und NATO-Einsätzen. Selbst in den Kampf ziehen will man nicht, das Risiko sollen die Ukrainer schon selbst eingehen - die haben die richtige Haltung! Der deutsche Heldenmut beschränkt sich darauf, tapfer zu frieren - was wir nicht müssten, wenn es in den letzten Jahren eine vernünftige Energiepolitik gegeben hatte. Fast kommt es einem so vor, als sollten die ukrainischen Männer nun als Stellvertreter alles ausleben, was sich die Deutschen jahrelang verkniffen haben. Die grimmige Entschlossenheit ist wie üblich groß dabei und die moralische sowieso. Man glaubt fest daran, etwas Kriegswichtiges zu leisten, wenn man die Heizung herunterdreht - und jeder, der das nicht euphorisch bejubelt, wird zum Deserteur erklärt.
Ich glaube, der ukrainische Botschafter Melnyk hat diese Stimmung genau erkannt und weiß, welche Knöpfe er in Deutschland drücken muss, um ans Ziel zu kommen. Denn das ist die andere Seite der Medaille: Einiges, was der Botschafter fordert, geht weit über das legitime Interesse hinaus, um Unterstützung für sein Land zu werben. Das ist sein gutes Recht. Für meinen Geschmack schießt er dabei immer öfter über das Ziel hinaus, so etwa, wenn er fordert, bei Solidaritätskonzerten dürften keine russischen Musiker spielen. Müsste man sich nicht eigentlich freuen, wenn einem Bürger des verfeindeten Staates auf diese Weise ihre Unterstützung zeigen? Dreist war auch sein Angriff auf die zur Zeit prominenteste Schokoladenfirma Deutschlands, die er "Hitler Sport" nennt und als blutüberströmte Tafel zeigt. Er weiß genau, wie so etwas in Deutschland einschlägt - aber steht es ihm wirklich zu, über die Firmenpolitik eines unserer Unternehmen zu entscheiden? Zumal es eine sehr einseitige Kampagne ist, welche sich nur einen, ohnehin angezählten Fabrikanten beschränkt. Was für eine Theatralik - und zudem ein vollkommen unnützes Manöver, da es den Krieg nicht um eine einzige Minute verkürzen wird.
Nach den Irrungen und Wirrungen der Corona-Zeit, die wir nicht einmal vollständig überwunden haben, hätte ich nicht gedacht, dass es noch eine Steigerung der Hysterie geben könnte. Zu den Ereignissen in Bucha wage ich mich schon gar nicht mehr, mich zu äußern. Ich will mir weder einen russischen noch einen ukrainischen Bären aufbinden lassen - mit oder ohne Balalaika - und schaue mir einfach nur die Diskussion an. Vor ein paar Jahren noch hätte ich vor Entsetzen nicht schlafen können - nun bin ich einfach ratlos und vermag nicht zu unterscheiden, was gelogen ist und was die Wahrheit. Denn auch das haben wir durch Corona gelernt: Die Wahrheit kommt am Ende immer heraus - nur meistens viel zu spät.
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