von Thomas Heck...
Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass die SPD nicht mehr aus dem Sumpf finden wird, denn sie sich selbst geschaufelt hat. Parteiführung so gut wie unsichtbar. Die SPD in der Groko kaum zu erkennen. Und so schafft man sich immer weitere Probleme.
„Wir haben zehn Millionen Menschen in Kurzarbeit und wir diskutieren über den Wehrbeauftragten“, klagt ein Abgeordneter. Weil Johannes Kahrs trotz einer angeblichen Absprache mit der zurückgetretenen Fraktionschefin Andrea Nahles nicht zum Zuge kam und stattdessen die in Bundeswehrfragen bisher nicht aufgefallene Berliner Abgeordnete Eva Högl auserwählt wurde, ist die SPD auch in Zeiten von Corona in der „alten Normalität“, der von Personal- und Postenquerelen. Der Schlamassel hat den Ursprung darin, dass der bisherige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels in Ungnade gefallen war, auch wegen seiner Frau, der früheren Oberbürgermeisterin von Kiel und Journalistin Susanne Gaschke. Die piesackte die SPD mit Polemiken. Nachdem ihr Mann nun ausgebootet wurde, hat sie in der „Welt“ abgerechnet und ihren Austritt erklärt. Vielleicht lässt sich der Stoff irgendwann mal verfilmen.
33 Jahre lang war Susanne Gaschke Mitglied der SPD. Eingetreten war sie in eine Partei, die solidarisch sein und jedem eine Chance geben wollte. Heute sind den Genossen Posten, Dienstwagen und Mitarbeiterstellen wichtiger, sagt sie und es reicht ihr. Ein offener Brief. Taschentuch frei.
Liebe Genossinnen und Genossen,
es ist eigenartig, diese altertümlich und schöne Anrede ein letztes Mal zu verwenden. Ich trete aus der SPD aus. Und auch wenn ich weiß, dass Euch das gar nicht interessiert, dass Ihr das nicht einmal lest, dass einige von Euch sogar sehr froh sind, Leute wie mich endlich loszuwerden, will ich doch versuchen, Euch zu erklären, warum ich Mitglied in der ältesten Partei Deutschlands war. 33 Jahre lang, länger, als ich verheiratet bin. Und warum ich nun nicht länger zu Euch gehören will.
Vor mir auf dem Schreibtisch liegt mein Parteibuch. Der Pappeinband ist alt und abgegriffen. Es hat Eselsohren. Hinten drin steht als Postadresse noch das Erich-Ollenhauer-Haus in Bonn. Vorne hat der Ortsvereinskassierer, der es mir persönlich nach Hause brachte, eingetragen: Eingetreten in die SPD am 29.04.1987. Da war ich 20 Jahre alt, Studentin im ersten Semester in meiner Heimatstadt Kiel.
Auf den nächsten Seiten folgen die donnernden Sätze des Godesberger Programms von 1959, die so gar nichts mit Eurer heutigen Textbausteinsprache zu tun haben: „Aber das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, dass der Mensch … zum ersten Mal in seiner Geschichte/ jedem die Entfaltung seiner Persönlichkeit/ in einer gesicherten Demokratie/ ermöglichen kann zu einem Leben/ in kultureller Vielfalt/ jenseits von Not und Furcht. … In unsere Hand ist die Verantwortung gelegt/ für eine glückliche Zukunft/ oder für die Selbstzerstörung der Menschheit.“
Eingetreten bin ich in die SPD aus einer Art Widerspruchsgeist. Ich hatte ein Gymnasium besucht, auf das vor allem Kinder von Kieler Unternehmern, Ärzten und Professoren gingen, oder jedenfalls gaben sie dort den Ton an. Diese Mitschüler strahlten etwas aus, was ich heute auf Englisch „sense of entitlement“ nennen würde. Sie waren sich ganz sicher, dass ihnen ein großes Haus mit Garten, Markenklamotten, Skiurlaube in St. Moritz und dergleichen einfach zustünden. Gewählt wurde in diesen Elternhäusern mit überwiegender Mehrheit die CDU, manchmal auch die FDP. Die SPD kam in politischen Schulhofgesprächen, die es in den Achtzigerjahren tatsächlich noch gab, so gut wie gar nicht vor.
Vielleicht malte ich sie mir genau deshalb als Gegenkraft aus: als eine Partei, in der es nicht um angeborene Überlegenheit oder selbstverständliche Ansprüche ginge. Als eine Partei, die jedem eine Chance geben wollte, mit Fleiß und Anstrengung etwas aus seinem Leben zu machen, ganz gleich, wie reich oder gebildet oder beides oder keins von beidem seine Eltern waren. Das fand ich gerecht. Das schien mir ein ehrenwertes Ziel zu sein.
Das finde ich auch heute noch. Aber Ihr, Genossinnen und Genossen, Ihr habt Euch verändert. Aus einer Aufstiegspartei, die Menschen solidarisch dabei hilft, sich selbst zu helfen, habt Ihr – in mehrfacher Hinsicht – eine Versorgungspartei gemacht. Ihr habt das Schulsystem in vielen Bundesländern ruiniert, mit technokratischer Methodenideologie und Inklusionswahn. Ihr habt Eure antiautoritären Reflexe ausgelebt, ohne jemals zu fragen, wie man es denn am Ende konkret hinbekommt, dass alle 15-Jährigen lesen, schreiben und rechnen können. Dass Kinder mit Lernbehinderungen nicht untergehen. Dass Schüler ohne bildungsbürgerliches Elternhaus trotzdem die Möglichkeit bekommen, klassische Musik, Kunst, Literatur, Geschichte und Politik kennenzulernen. Und etwas mindestens so Schlimmes habt Ihr mit den Bologna-Universitäten angerichtet.
Auf der anderen Seite habt Ihr angefangen, alle möglichen „Zielgruppen“ paternalistisch mit Leistungen beglücken zu wollen: Alleinerziehende, Rentner, Geringverdiener. Ihr werft mit Geld nach Problemen. Nicht immer sind es die richtigen Probleme, und niemals interessiert Euch das Ergebnis. Ihr wisst ja sowieso schon, dass Ihr die Welt besser gemacht habt.
Fairerweise muss man sagen, dass Ihr Euch offenbar auch nicht für Eure eigenen Wahlergebnisse interessiert. Denn wenn Ihr Euch damit beschäftigen würdet, müsstet Ihr ja erkennen, dass der Zuspruch zu Eurer Strategie äußerst mager ist: Ihr kommt einfach nicht wieder auf Augenhöhe mit der Union. Sogar die Grünen haben Euch zeitweise überholt – und werden es vermutlich nach der Corona-Krise wieder tun. Ihr bleibt eine 15-Prozent-Partei. Wenn Ihr Glück habt. Das ist ganz schön bitter. Fragt sich eigentlich irgendjemand im Bundesvorstand oder sonst wo in der SPD, woran das liegen könnte? Außer daran, dass die Wähler zu dumm sind, um Euer segensreiches Wirken zu erkennen? Und natürlich an den bösen Medien?
All dies stört mich seit Jahren, aber ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, deshalb aus der Partei auszutreten. Ich hätte immer gesagt: Gegen solche Entwicklungen muss man dann eben innerparteilich kämpfen, man muss Mitstreiter sammeln, Leute überzeugen, auf Parteitagen besser argumentieren als die anderen, für Ämter kandidieren. Das macht ja sogar Spaß (wenn man die Zeit dafür hat), das ist lebendige Demokratie, das gibt einem das Gefühl, nicht nur ein Untertan, sondern ein Staatsbürger zu sein. Und wenn man nicht gewinnt, dann war man eben noch nicht gut genug.
Sogar das ganz normale Parteileben machte früher Spaß (natürlich auch, weil man jung war). Es war bereichernd, in einer Gruppe politische Bücher zu diskutieren – selbst wenn es um so exotische Themen wie den Ökosozialismus ging. Straßen-, Park- und Schrebergartenfeste machten Spaß. Man verliebte sich in ältere Jungs und trank zu viel Alkohol. Selbst Wahlkämpfe und das nächtliche Plakatieren waren aufregend, wenn man der Konkurrenz die besten Laternenpfähle wegschnappen konnte. Die SPD war Familie, Stammtisch, Clique – so ärgerlich wie alle drei, aber auch wunderbar. Ehen wurden gestiftet und lebenslange Freundschaften begründet.
Das alles schwand in dem Maße, in dem manche – und inzwischen: zu viele – von Euch begannen, die Partei als Versorgungspartei in einem zweiten Sinne zu begreifen. Zu viele Jusos, zu viele abgebrochene Studenten und Leute mit schwieriger Berufswahl kämpften um Posten, die gutes Gehalt, Mitarbeiter, Büros und Prestige versprachen. Es ging immer weniger darum, was man mit einem Amt erreichen wollte – es ging darum, dass man es bekam. Vielleicht ist das in anderen Parteien auch so. Aber in gewisser Weise war die SPD eben immer Avantgarde – im Guten wie im Schlechten.
Die sozialdemokratische Binnenlogik fing an, alles andere zu überlagern: Ihr wurdet Mitarbeiterpartei, Funktionärspartei, Proporzpartei. Als junge migrantische Frau konnte man alles werden, egal, was man tatsächlich konnte. Als dicke Frau aus Nordrhein-Westfalen ebenso. Qualifikation spielte eine immer geringere Rolle. Ich vermute, dass Wähler auf längere Sicht ahnen, worum es Euch wirklich geht. Deshalb sind sie seit Jahren nicht mehr besonders beeindruckt. Sie merken auch, wie Ihr bei all dem miteinander umgeht. Das für mich persönlich schlimmste Beispiel ist der ehemalige Parteivorsitzende Kurt Beck, aber es gibt ja genug andere.
Für mich als Journalistin war es immer ein Nachteil, und nur ein Nachteil, Parteimitglied zu sein. Anders als in den Sechziger- und Siebzigerjahren ist ein politisches Bekenntnis in den Medien seit Langem ein No-Go, und ein Bekenntnis zur SPD ist es erst recht. Ich trat trotzdem nicht aus, weil ich das als opportunistisch empfunden hätte. Aber ich musste viel dafür einstecken.
2012 verließ ich den Journalismus, wurde von der Kieler SPD als Oberbürgermeisterkandidatin nominiert und von der Kieler Bevölkerung mit 54 Prozent ins Amt gewählt. Und das, obwohl ein SPD-Ministerpräsident, an dessen Namen sich heute schon niemand mehr erinnern kann, alles, aber auch wirklich alles dafür tat, um meine Wahl zu sabotieren. Danach tat er vieles (wirklich sehr vieles), damit ich das Amt wieder verlor. Und niemand, wirklich niemand in der Berliner Parteiführung interessierte sich auch nur ein winziges Bisschen dafür, warum dort in Schleswig-Holstein Genossen eine Genossin schredderten. Sei’s drum, es war ein Versuch.
Nicht einmal damals, als ich zurückgetreten war, als mein Ruf in Scherben lag und ich keinen Job mehr hatte, dachte ich an einen Parteiaustritt. Auch ich hatte ja Fehler gemacht, und die sozialdemokratischen Werte blieben doch gültig, unabhängig von der Niedertracht Einzelner. Oder? Ich kann mich noch gut daran erinnern, liebe Genossinnen und Genossen, wer von Euch mich damals gern auf Hartz IV gesehen hätte – obwohl Ihr Euch ja offiziell so emsig von Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen distanziert.
Und ich weiß auch noch genau, was für ein Geheul losging, als ich dann zum erzbösen Springer-Verlag ging. Hier einmal fürs Protokoll: Ich fand es großmütig und großzügig von Springer, mich nach dieser schrecklichen Geschichte als Autorin aufzunehmen. Journalismus ist nun einmal der einzige Beruf, den ich gelernt habe. Einer der Chefredakteure lachte sich halb tot, als ich auf meine SPD-Mitgliedschaft hinwies, und sagte, das wisse ja nun wirklich jeder. Ich habe noch nie – ganz gewiss nicht in SPD-Zusammenhängen – in einer so liberalen Atmosphäre gearbeitet wie hier.
Aber ich habe es mir natürlich auch nicht nehmen lassen, weiter über die SPD zu berichten, schließlich verstehe ich was davon. In den vergangenen sieben Jahren ließ sich beobachten, wie die Partei ständig weiter nach links rückte, wie ihr die gesellschaftliche Mitte immer egaler wurde – obwohl alle Demoskopen Euch sagen und alle Empirie es beweist, dass Ihr nur gewinnen könnt, wenn Ihr die Wähler der solidarischen Mitte für die Unterstützung der Benachteiligten gewinnt. Das heißt aber, dass Ihr die Mitte – Akademiker, Künstler und Intellektuelle ebenso wie Facharbeiter und kleinere Selbstständige – nicht ignorieren dürft. Dass Ihr zumindest ansatzweise verstehen müsstet, wie ihr Leben aussieht. Was Euch als Politbeamte mit Öffentlicher-Dienst-Mentalität aber vermutlich schwerfällt.
Zugleich mit der Linksdrift wart Ihr bereit, so lange in der großen Koalition zu bleiben, wie es nur geht, denn dort sind Eure Posten, Dienstwagen und Mitarbeiterstellen garantiert. Ihr habt Euch gegen eine dringend notwendige Verkleinerung des Bundestags gestemmt. Ihr habt die „Ehe für alle“ gefeiert, als sei sie ein sozialdemokratisches Kernprojekt. Ihr habt einen beispiellosen Wanderzirkus veranstaltet, um mit zwei Vorsitzenden zu enden, die Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken heißen. Eure Familienministerin spricht zur Öffentlichkeit wie zu Kindergartenkindern. Euer Außenminister darf keine Außenpolitik machen. Euer Finanzminister glaubt immer noch, dass er Bundeskanzler werden könnte. Euer Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag hat mal eben im Alleingang die deutsche Nato-Strategie abgeräumt. Eure Bundestagsfraktion und Euer Parteivorstand erheben gegen keinerlei Wahnsinn mehr die Stimme – haben sie seit Langem nicht getan.
Selbst all dies hätte mich wohl noch nicht zum Parteiaustritt bewogen: Unsinnige Hoffnung und aussichtslose Liebe sterben ja immer zuletzt. Aber dann habt Ihr die Sache mit dem Wehrbeauftragten gemacht. Ich muss das gar nicht weiter ausführen, Ihr wisst genau, wie ehrlos Ihr Euch verhalten habt. Das geht zu weit. Das geht zu weit, weil Hans-Peter Bartels einen untadeligen, kompetenten Job gemacht hat. Weil er allseits anerkannt ist und in 22 Jahren Bundestag stets loyal zu Euch war. Es geht zu weit, weil Eure alternative Superkandidatin keinerlei Bezug zur Bundeswehr hat und weil die Öffentlichkeit über das Geschacher um die unabhängige Institution des Wehrbeauftragten entgeistert ist.
Vor allem aber geht es zu weit, weil ich mit Hans-Peter Bartels seit 29 Jahren verheiratet bin. Mir ist es nicht egal, wie Ihr mit dem Mann umgeht, den ich liebe. Da bin ich anders als Ihr. Euch ist inzwischen alles egal.