Samstag, 21. Oktober 2017

Zuerst falsch geschätzt, dann auch noch verrechnet...

von Thomas Heck...

Während die Jamaika-Koalition versucht, den gemeinsamen Nenner für den weiteren Kurs Deutschlands in der Flüchtlingsfrage zu finden, wird in der Politik und in den Medien über die nicht unwichtige Frage gerätselt, was Deutschland in Fragen des Familiennachzugs wohl zu erwarten hat. Denn jetzt es sich, dass das Bundesinnenministerium bis heute keine eindeutigen Zahlen hat und bis heute Fälle auftauchen, wo Flüchtlinge sich unter bis zu acht Identitäten registrieren ließen. Rechnet man jetzt noch hinzu, dass bei vielen Flüchtlingen überhaupt keine Papiere vorliegen und Identitäten teilweise nach Angaben der Flüchtlinge erfolgten, ist jegliche seriöse Berechnung oder Schätzung unmöglich. Die ZEIT wagt den Spagat und wird auch daran scheitern, denn Klarheit bringen Vermutungen und Schätzungen in keinem Falle:



Familiennachzug viel zu hoch geschätzt titelt die ZEIT



Forscher legen erstmals detaillierte Schätzungen zum Familiennachzug vor. Ihr wichtigstes Ergebnis: Es dürften weit weniger Flüchtlinge nachkommen als vermutet.

Wenn es einer bis nach Deutschland schafft, holt er viel zu viele nach: Diese Sorge bestimmt die deutsche Flüchtlingspolitik – und ist ein zentraler Punkt in den laufenden Koalitionsverhandlungen, in denen die Parteien sich um den sogenannten Familiennachzug streiten. Während die Grünen möglichst vielen in Deutschland anerkannten Flüchtlingen erlauben wollen, ihre engen Verwandten nach Deutschland zu holen, möchten CDU und CSU genau das verhindern und deshalb den Familiennachzug für einen Teil der Flüchtlinge weiterhin aussetzen. Betroffen sind davon vor allem Menschen aus Syrien, denen es oft schwerfällt, ohne ihre Kinder und Ehepartner in Deutschland Fuß zu fassen.

Wie viele nachzugsberechtigte Verwandte die in Deutschland lebenden Flüchtlinge überhaupt haben? Dazu gab es bislang kaum belastbare Zahlen, dafür aber jede Menge Spekulationen. Die AfD vermutet, ab 2018 könnten zwei Millionen Flüchtlinge ihren Verwandten nach Deutschland folgen; Politiker der Partei warnten vor ganzen Großfamilien, die sich demnächst in Bewegung setzen und die deutschen Sozialkassen belasten könnten. Pro Flüchtling sei mit fünf Verwandten zu rechnen. Die Bild schrieb von mehr als sieben Millionen weiteren Flüchtlingen, die durch den Familiennachzug nach Deutschland kommen könnten. Innenminister Thomas de Maizière sprach von einer "gewaltigen Zahl".

Nun gibt es erstmals detaillierte Schätzungen – und die legen nahe, dass sich weit weniger Menschen zu ihren Verwandten nach Deutschland aufmachen dürften als bislang angenommen. Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg haben unter anderem Daten des Ausländerzentralregisters, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und des Auswärtigen Amts ausgewertet. Ihr Ergebnis: Ende des Jahres könnten sich bis zu 120.000 Menschen im Ausland aufhalten, die nach derzeitiger Gesetzeslage das Recht haben, ihren bereits geflohenen Verwandten legal nach Deutschland zu folgen. 

Spannend ist vor allem eine Zahl der Studie: Die Forscher haben berechnet, wie viele Verwandte von Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus noch im Ausland leben – von jenen Flüchtlingen also, über die in den Koalitionsverhandlungen zur Zeit so heftig gestritten wird. Sie dürfen zwar in Deutschland bleiben, haben aber seit dem vergangenen Jahr kein Recht mehr darauf, ihre minderjährigen Kinder oder Ehepartner nachzuholen. Nach dem Willen von CDU und CSU soll ihnen dieses Recht auch künftig verwehrt bleiben. Würde die Union aber auf ihre Forderung verzichten und auch diesen Flüchtlingen den Nachzug erlauben, kämen zu den 120.000 Nachzüglern noch einmal bis zu 60.000 hinzu. Insgesamt könnten also maximal 180.000 Verwandte nachkommen. Das sind im Schnitt 0,28 Nachzügler pro Flüchtling – weit weniger als etwa von der AfD vermutet.

Viele Familien leben längst gemeinsam hier

Für die vergleichsweise geringen Zahlen gibt es mehrere Gründe. Viele Flüchtlinge sind jung und haben noch keine Familie gegründet. Nur 46 Prozent der Erwachsenen unter ihnen sind laut der Studie überhaupt verheiratet, 43 Prozent haben Kinder. Entscheidend ist zudem, dass viele, die nach Deutschland flohen, längst mit ihren Ehepartnern und Kindern gemeinsam hier leben. Lediglich 27 Prozent der Verheirateten seien ohne ihren Partner geflohen, und ebenfalls nur 27 Prozent der Kinder von ihren Eltern in der Heimat oder unterwegs zurückgelassen worden. Insgesamt, schreiben die IAB-Forscher, kämen auf jeden erwachsenen Flüchtling in Deutschland 0,15 minderjährige Kinder, die sich noch im Ausland aufhalten. Das Alter zu berücksichtigen ist wichtig, denn: Nur wer unter 18 Jahre ist, darf seinen Eltern nach Deutschland folgen, wenn diese in Deutschland Asyl erhalten oder als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden.

Theoretisch hätten auch ein Teil der rund 40.000 Jugendlichen unter 18 Jahren, die allein nach Deutschland flohen, das Recht, über den Familiennachzug ihre Eltern nachzuholen. 2016 allerdings gab es solche Fälle kaum – laut der IAB-Studie seien bei der größten Gruppe der Flüchtlinge, den Syrern, nur in höchstens sechs Prozent der Fälle die Eltern nachgekommen. 

Während CDU und CSU versuchen, durch die Aussetzung des Familiennachzugs die Anreize für eine Flucht nach Deutschland möglichst gering zu halten, warnen Integrationsexperten und Flüchtlingsorganisationen vor den Folgen: Menschen, die um ihre Kinder und Ehepartner bangen müssten, fühlten sich in Deutschland oft verloren und hätten es besonders schwer, sich zu integrieren. Auch die Verwaltungsgerichte ächzen unter dem Nachzugsverbot: In den vergangenen Monaten hatten Tausende Flüchtlinge gegen ihre Asylbescheide geklagt, vor allem Syrer. Sie bekamen zuletzt immer seltener einen Schutzstatus zugesprochen, der ihnen den Nachzug enger Verwandter ermöglicht hätte. Die Gerichte wird das noch Jahre beschäftigen.

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