11. September 2022
Der Ravensburger Verlag hat zwei Kinderbücher zum Film „Der junge Häuptling Winnetou“ aus dem Programm genommen – wegen „verharmlosender Klischees“ über die Ureinwohner Amerikas. Das Vorgehen erinnert an die untergegangene DDR, wo Karl Mays Winnetou-Romane jahrzehntelang nicht gedruckt werden durften.
Von Hubertus Knabe
Geschichte wiederholt sich nicht? Manchmal vielleicht doch. Die Entscheidung des Ravensburger Verlages, die Auslieferung von zwei Kinderbüchern zum neuen Kinofilm „Der junge Häuptling Winnetou“ zu stoppen, erinnert jedenfalls stark an eine Zeit, als die Geschichte des Apachenführers in Deutschland schon einmal nicht gedruckt werden durfte: In der DDR konnte auf Veranlassung der SED fast vier Jahrzehnte lang kein einziges Buch von Karl May erscheinen.
Der Abenteuerfilm von Mike Marzuk ist eine Art Fortsetzung von Mays Winnetou-Romanen. Der 12-jährige Sohn des Apachenhäuptlings will darin seinem Vater beweisen, dass auch er bereits ein großer Krieger ist. Der Ravensburger Verlag bot dazu außer einem Puzzle und einem Stickerheft auch ein Kinderbuch und ein Erstleserbuch an. Die Produkte nahm er Ende August überraschend aus dem Programm – aufgrund der „vielen negativen Rückmeldungen“, wie er verlautbarte.
Zur Begründung der Entscheidung teilte ein Sprecher auf Anfrage mit: „Bei den genannten Winnetou-Titeln sind wir nach Abwägung verschiedener Argumente zu der Überzeugung gelangt, dass angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, hier ein romantisierendes Bild mit vielen Klischees gezeichnet wird.“ Der Stoff sei „weit entfernt von dem, wie es der indigenen Bevölkerung tatsächlich erging.“
„Vom Standpunkt der Volkserziehung abzulehnen“
So ähnlich hatten auch die Kulturfunktionäre in der DDR argumentiert. Als der Karl-May-Verlag in Radebeul nach dem Krieg beantragte, mehrere Bücher des erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellers neu zu auflegen, urteilte das Sächsische Volksbildungsministerium 1948 in einer internen Stellungnahme: „Eine Karl-May-Produktion ist vom Standpunkt der Volkserziehung grundsätzlich abzulehnen. Sie verführt die Jugend zur kritiklosen Anhimmelung aller billigen Räuberromantik und trübt ihren Blick für die Auseinandersetzungen mit dem wirklichen Leben.“ Die Zentralverwaltung für Volksbildung in Ost-Berlin entschied daraufhin: „Keine Karl-May-Produktion!“
Die ostdeutsche Lehrerzeitung neue schule flankierte die Entscheidung mit einem Artikel, in dem es hieß: „Dass die Nazis Karl May zum amtlich anerkannten Jugendschriftsteller stempelten, hat neben ihrer Absicht, wildes Schlägertum als höchste Tugend zu verherrlichen, auch seinen Grund darin, dass er ihrem Rassismus ganz entspricht.“ Ein zweiter Autor behauptete, „dass die raffinierten Quälereien, die Karl May häufig schildert, an den Foltermethoden der SS nicht unschuldig“ wären. Ganz ähnlich argumentiert in diesen Tagen der Hamburger Kolonialismus-Forscher Jürgen Zimmerer. Dem Bayrischen Rundfunk erklärte er: „Es ist kein Zufall, dass Adolf Hitler und SS-Chef Himmler große Karl-May-Fans waren.“ Teile ihrer Besatzungspolitik in Osteuropa hätten sich an der Eroberung des Wilden Westens orientiert, wie sie sie aus den Büchern Mays entnommen hätten.
Der Mann, der in der DDR die Verbrechen der SS dem 1912 verstorbenen Schriftsteller ankreidete, hatte übrigens schon während des Nationalsozialismus ein Verbot seiner Romane gefordert – allerdings mit genau entgegengesetzter Begründung. Wie Karl-May-Biograf Christian Heermann herausfand, hatte er dem von Joseph Goebbels geleiteten Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 20. Juli 1938 geschrieben: „Karl Mays Weltanschauung und sein gesamtes Werk sind extrem pazifistisch gerichtet. (…) Wie kann man unsere Jugend zu kolonialen Gedanken erziehen, wenn man ihnen Bücher empfiehlt, in denen gegen Imperialismus, Gewaltpolitik, Machtstaat, Kolonialimperialismus usw. in der gehässigsten Weise losgezogen wird?“
Die sozialistischen Ideologen in der DDR sorgten dafür, dass man im Osten Deutschlands weder die Winnetou-Romane noch irgendein anderes Karl-May-Buch kaufen konnten. Die Leser in der DDR mussten sich entweder mit den alten Ausgaben im Bücherregal der Eltern oder Großeltern begnügen oder Verwandte aus dem Westen bitten, ihnen von dort ein Exemplar mit moderner Schrift mitzubringen. Diese mussten es allerdings erst erfolgreich durch den Zoll schmuggeln, denn Karl Mays Werke galten in der DDR als „Schmutz- und Schundliteratur“ und wurden an der Grenze eingezogen. Auf Anweisung des Ministeriums für Volksbildung wurden sie auch aus allen ostdeutschen Bibliotheken entfernt. In den Schulen gab es sogenannte Ranzen-Kontrollen, bei denen die inkriminierten Bücher eingezogen wurden.
1951 wurden sogar 19 Jugendliche vor Gericht gestellt, die eine „Interessengemeinschaft Karl May“ gegründet hatten. Sie hatten sich ursprünglich zum Büchertausch zusammengefunden, nachdem Mays Werke aus ihrer Schulbibliothek in Werdau entfernt worden waren. Als der 15jährige Karl Heinz Eckardt im Unterricht erklärte, dass ihm Mays Bücher immer noch besser gefallen würden als Gedichte des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Becher, bekam er einen strengen Verweis. Wenig später begannen die Schüler in der Tradition der Weißen Rose heimlich Flugblätter gegen die SED-Diktatur zu verteilen, wie Achim Beyer in einem Buch näher beschreibt. Sie wurden verhaftet und zu insgesamt 130 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Karl May – Ja oder Nein?
Nach Stalins Tod hofften viele Winnetou-Fans auf eine Lockerung des Verbots. Der Verlag Neues Leben lud 1956 zu einer Beratung unter dem Titel „Karl May – Ja oder Nein?“ ein. Die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten starteten unter der Überschrift „Old Shatterhand lebt noch!“ eine Serie. Doch wenig später, nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn im November, war es damit vorbei. Auf einer Tagung im DDR-Kulturministerium wurden Karl Mays Bücher sogar für die Ereignisse mitverantwortlich gemacht. Der Kinderbuch-Verlag der DDR beerdigte seinen Plan, einige von Mays Werken zu veröffentlichen. Der Redakteur der Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten wurde strafversetzt.
Der Popularität des offiziell nicht verbotenen Autors in der DDR tat das freilich keinen Abbruch – wie unter anderem aus der Autobiografie des Kosmonauten Siegmund Jähn hervorgeht. Der Generalmajor der Nationalen Volksarmee berichtet drin freimütig, wie er Karl Mays Bücher als Jugendlicher geradezu verschlungen habe. Selbst im Politbüro fand der offenbar Leser. Als 1990 die Wohnsiedlung der SED-Führung bei Wandlitz aufgelöst wurde, standen in der Bibliothek auch Werke von Karl May.
In DDR-Buchläden suchte man dagegen vergebens nach den Winnetou-Romanen. Nur ein einziges Mal – 1958 – durfte die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eine unverfängliche Erzählung Karl Mays herausbringen. Die Veröffentlichung führte allerdings dazu, dass das Verdikt jetzt erst recht bekräftigt wurde. Ein Leipziger Buchhändler hatte das Heft nämlich ins Schaufenster gestellt und dazu geschrieben: „Nun auch bei uns“. Das ostdeutsche Börsenblatt veröffentlichte ein Foto davon und schrieb dazu: Man hätte „nie annehmen sollen, dass ein Verlag ernsthaft daran gedacht hätte, Karl-May-Bücher wieder herauszubringen“. Nun sei das Unglaubliche geschehen und es sei nicht verwunderlich, dass die ersten Folgen einträten. Der Karl-May-Verlag, der nach dem Tode des Schriftstellers in dessen Wohnort Radebeul bei Dresden gegründet worden war, verlegte kurz darauf seinen Sitz ins westdeutsche Bamberg.
Gab es bis dahin noch vereinzelt Versuche, für Karl May in der Öffentlichkeit Partei zu ergreifen, änderte sich dies mit dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965. Parteichef Walter Ulbricht fragte damals bekanntlich die Delegierten: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?“ – und gab selber darauf die Antwort: „Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.“ Weil das sächsische Provinzblatt Burgstädter Monatsschau die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt und ausführlich über Karl May berichtet hatte, verlor der zuständige Kulturstadtrat damals seinen Posten.
Karl Mays Texte plötzlich „blass oder harmlos“
Erst Anfang der 1980-er Jahre revidierte die SED-Spitze ihre Einstellung zum Häuptling der Apachen. Im November 1981 beschloss das Politbüro, Karl May still und leise zu rehabilitieren. In einer Vorlage zur Herausgabe einiger seiner Titel verwies der Chef des DDR-Jugendbuchsverlages Neues Leben auf die „alltägliche Gewöhnung des Lesers an Abenteuer in Literatur, Film und Fernsehen, die Karl Mays Texte zum Teil blass oder harmlos erscheinen lassen.“
Bald darauf konnte man auch in der DDR die Winnetou-Romane kaufen – vorausgesetzt, man ergatterte einen der grünen Bände, die trotz einer Auflage von 250.000 Exemplaren pro Titel rasend schnell vergriffen waren. Die insgesamt 13 Bücher entsprachen allerdings nicht dem Ursprungstext. So strich das DDR-Kulturministerium Mays kritische Bemerkungen über die Situation der Indianer in Nordamerika. Der in der DDR leicht misszuverstehende Satz „Ja, die rote Nation liegt im Sterben!“ lautete nun: „Der rote Mann liegt im Sterben!“. Und in der Szene, als sich die Deutschen Old Shatterhand und Klekih-petra begrüßen, sucht man vergebens nach der Passage: „Wir Deutschen sind eigentümliche Menschen. Unsere Herzen erkennen einander als verwandt, noch ehe wir es uns sagen, dass wir Angehörige eines Volkes sind – wenn es doch nur endlich einmal ein einiges Volk werden wollte!“
Für den Kurswechsel im Arbeiter- und Bauernstaat war SED-Chef Erich Honecker persönlich verantwortlich. Er beschränkte sich nicht nur auf die Aufhebung des Druckverbotes. Zu Weihnachten 1982 durfte das DDR-Fernsehen vielmehr erstmals den westdeutschen Film „Winnetou 1“ ausstrahlen. Allerdings war diesem eine Dokumentation zur Rechtfertigung der neuen Linie vorgeschaltet – was jetzt offenbar auch der MDR plant. Vor einigen Tagen kündigte der Sender nämlich an, bestimmte Filme nur noch mit einer „begleitenden Berichterstattung“ ausstrahlen. Auch über eingeblendete Text-Tafeln werde diskutiert – so weit ging nicht einmal die SED.
Nach jahrzehntelanger Unterbrechung durften 1984 erstmals auch die Karl-May-Spiele auf der Felsenbühne im sächsischen Rathen wieder stattfinden. Sogar das Ende der 1920-er Jahre gegründete Privatmuseum auf dem ehemaligen Grundstück Karl Mays in Radebeul, das in der DDR nur ein Schattendasein führen durfte, erhielt Honeckers Segen. Im Januar 1985 informierte ZK-Sekretär Egon Krenz den Parteichef, dass das Museum „nach Deiner Anregung (…) entsprechend den Traditionen gestaltet“ worden sei. Mays ehemaliges Wohnhaus, die bis dahin als Kinder-Hort genutzte „Villa Shatterhand“, beherberge in Zukunft eine Ausstellung über Leben und Werk des Schriftstellers.
Schon 1929 hatte der Philosoph Ernst Bloch unter der Überschrift „Die Silberbüchse Winnetous“ in der „Frankfurter Zeitung“ über Mays Werke geurteilt: „Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will.“ In diesem Sinne war Winnetou auch in der DDR ein Symbol für Freiheit und Aufrichtigkeit. Um dem Alltag zu entfliehen, wurde es sogar Mode, sich als Indianer zu verkleiden und das Wochenende mit Gleichgesinnten in selbst gebauten Zelten zu verbringen. In der Fernsehserie „Weissensee“ sieht man, wie ein Volkspolizist einen solchen Ausflug in die Freiheit jäh beendet, indem er die Anwesenden zwingt, das Lagerfeuer zu löschen.
Die sogenannte Indianistik-Szene und ihr Vorbild Winnetou blieben der Stasi freilich bis zum Untergang der DDR verdächtig. Der langjährige Direktor des „Indianermuseums“, wie die Ausstellung in Radebeul auf Geheiß der SED bis 1985 hieß, war Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Staatssicherheitsdienstes, sein Büro diente als Konspirative Wohnung. Auch sein Nachfolger spitzelte für die Stasi, unter anderem im „Indianistikclubs Hellerau“. Nach der Neueröffnung des Museums half er, in Karl Mays ehemaliger Bibliothek einen Treffort für Stasi-Informanten einzurichten.
Das alles ist jetzt mehr als drei Jahrzehnte her. Wohl kaum ein Ostdeutscher hätte sich damals vorstellen können, dass eines Tages ein westdeutscher Verlag die Geschichte von Winnetou auf den Index setzen würde.