Macron fordert eine „wahre europäische Armee“ mit der Begründung, Europa auch gegen die USA zu verteidigen. Merkel stimmt dem zu. Demgegenüber steht die Nato. Berlin muss zunächst die Bundeswehr wieder zu dem machen, was die Verfassung fordert.
In einer Zeit, in der auf Sicht regiert wird und die Politik unfähig ist, Antworten auf die großen Fragen der Zukunft zu geben, hat Präsident Macron den Mut, eine „wahre europäische Armee“ zu fordern. Er begründet seine „Vision“ damit, dass die von Präsident Trump angekündigte Kündigung des INF-Vertrages eine Gefahr für Europa sei. Europa und seine Sicherheit wären die Hauptopfer dieser einseitigen Maßnahme. Deshalb muss Europa sich verteidigen können, „mit Blick auf China, auf Russland und sogar auf die USA“.
Die Bundeskanzlerin hat Präsident Macron in ihrer Rede vor dem Europaparlament Mitte November ausdrücklich zugestimmt: „Wir sollten an der Vision arbeiten, eines Tages eine echte europäische Armee zu schaffen.“ Auch die Verteidigungsministerin will, dass „die Vision von einem in Verteidigungsfragen eigenständigen und handlungsfähigen Europa Realität wird“, denn „Europas Bürger erwarten zu Recht, dass auch Europa selbst wirksamen Schutz bieten kann“.
Andererseits, so Frau von der Leyen in der FAZ, „brauchen wir die Nato für unsere Bündnisverteidigung“. Die Verantwortung für den Einsatz soll jedenfalls nach Ansicht der beiden Politikerinnen bei den EU-Mitgliedstaaten und ihren nationalen Parlamenten bleiben.
Was Macron genau will
Was will die Bundesregierung denn nun? Eine „echte“ europäische Armee oder eine „Armee der Europäer“? Soll die Nato für die Verteidigung Europas verantwortlich bleiben oder sollen die Europäer das künftig ohne die Vereinigten Staaten leisten können?
Welches politische Ziel Macron verfolgt, hat er jedenfalls zweifelsfrei erklärt. Es geht ihm nicht um ein Interventionskorps, beispielsweise für den Einsatz in Afrika. Macron will Streitkräfte zur Verteidigung Europas, sogar gegen die USA. Die Bundeskanzlerin glaubt: „Wir können doch in der Nato mit einer europäischen Armee auftreten.“
Zwar führen die Vereinigten Staaten bereits einen Handelskrieg gegen ihre Nato-Verbündeten und verstoßen damit gegen den Nato-Vertrag. Sie sind aber immer noch ein enger, unverzichtbarer Verbündeter, und von einer militärischen Konfrontation kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Amerikaner erfüllen nach wie vor ihre Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten, beispielsweise durch die Stationierung amerikanischer Truppen in den osteuropäischen Nato-Staaten.
Die Nato ist bis heute eine Klammer, die über den Nordatlantik hinweg die Sicherheit Europas und Nordamerikas in einer sicherheitspolitischen und strategischen Schicksalsgemeinschaft eng miteinander verzahnt. Und Europa könnte im Falle einer Bedrohung weder auf amerikanische konventionelle Verstärkungen noch auf die Abschreckungswirkung des nuklearstrategischen Potentials verzichten.
Gerade deshalb muss man die von Präsident Macron befürchteten Konsequenzen der Kündigung des INF-Vertrages sehr ernst nehmen. Dies würde bedeuten, dass Russland freie Hand hätte, ein euro-strategisches nukleares Bedrohungspotential aufzubauen, das Europa, aber nicht die Vereinigten Staaten bedroht. Die Durchführbarkeit der Nato-Strategie wäre gefährdet.
Präsident Trump sollte wissen, dass er damit die Grundfesten der Allianz, gleiche Sicherheit für alle Verbündeten und Solidarität untereinander, zum Einsturz bringt. Die Europäer täten also gut daran, mehr als bisher in die eigene Sicherheit zu investieren.
Hinzu kommt, dass die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges schon vor einiger Zeit von einer neuen, multipolaren Weltordnung abgelöst wurde, die im wesentlichen von vier großen Mächten dominiert wird: Von den Vereinigten Staaten, China, Russland und Europa.
Nur wenn Deutschland und Frankreich politisch, wirtschaftlich und militärisch stark sind, wird sich Europa auf Dauer gegenüber den anderen Mächten behaupten können. Der britische Historiker Timothy Garton Ash spricht sogar von der „Selbstbehauptung“ Europas und befindet sich damit sehr nahe an der Position des französischen Präsidenten.
Gleichwohl darf das Konkurrenzverhältnis der vier Mächte nicht auf den militärischen Aspekt verengt werden, sondern sollte alle politischen und gesamtstrategischen Faktoren einschließen.
Voraussetzung für die Schaffung einer „echten“ europäischen Armee wäre eine europäische Regierung mit einem Verteidigungsminister, der einem Parlament verantwortlich ist. Dazu gehört auch eine gemeinsame militärische Führung mit der Planungskompetenz für die Verteidigung und eine integrierte Streitkräfteplanung.
Wesentliche nationale Parlamentsrechte, beispielsweise das Haushaltsrecht sowie die Entscheidungen über Einsätze und den Verteidigungsfall, müssten an das europäische Parlament abgetreten werden.
Die Streitkräfte haben sich schon vor einiger Zeit auf den Weg nach Europa begeben. Beispiele dafür sind das Eurokorps, die deutsch-französische Brigade, die wechselseitige Unterstellung von Verbänden sowie eine Reihe von Maßnahmen, die eine engere Zusammenarbeit und ein besseres Verständnis untereinander zum Ziel haben.
Die Stärkung der Gemeinsamkeiten im europäischen Sinne darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Militärs nicht in Richtung einer „echten“ europäischen Armee vorausmarschieren können, wenn die fußkranken Politiker ihnen nicht folgen. Zumal auf diesem Weg viele rechtliche Hürden zu überwinden sowie nationale Traditionen und Eigenarten wegzuräumen sind.
Es sieht allerdings nicht so aus, als wären die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in absehbarer Zeit bereit, diesen Weg zu gehen. Die Bundesregierung ist es offensichtlich auch nicht, denn selbst die „Armee der Europäer“ soll aus Streitkräften „in nationaler Verantwortung“ bestehen.
Trotzdem wäre eine konstruktive Haltung der Bundesregierung zu Präsident Macrons Auslassungen angesichts der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, wie sie sich in Europa seit einiger Zeit abzeichnen, angebracht. Man könnte durchaus einen Schritt in Richtung Selbstbehauptung Europas machen, wenn man auf dem aufbaut, was sich in vielen Jahren in der Nato bewährt hat. Neues mit Bewährtem verbinden, garantiert Sicherheit auch im Übergang.
Frankreich und Deutschland sollten Präsident Macrons Vorschlag als Ausgangspunkt für eine Initiative nehmen, die größere Anstrengungen der Europäer zum Ziel haben muss. Ein pragmatischer Ansatz wäre zweifellos die Stärkung des europäischen Pfeilers innerhalb der Nato.
Die Europäer sollten vor allem bestrebt sein, größeren politischen und militärischen Einfluss in konzeptionellen und strategischen Fragen zu erhalten. Schließlich ist die Nato bereit, militärische Kräfte und Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, wenn die Europäische Union Einsätze in eigener strategischer und politischer Verantwortung durchführen will.
Deutschland und Frankreich sollten in der Nato-Kommandostruktur im Wechsel den Strategischen Befehlshaber für Operationen stellen, der bisher traditionell ein Amerikaner ist. Aufgrund internationaler Verträge wird diese Führungsposition immer noch als Alliierter Oberbefehlshaber Europa beziehungsweise SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) bezeichnet.
Für Frankreich wäre dies auch unter historischen Gesichtspunkten eine Genugtuung, denn bei der Gründung des Hauptquartiers fühlte sich Frankreich übergangen, weil General Eisenhower 1951 den britischen Feldmarschall Montgomery als seinen Stellvertreter einsetzte. Im Gegenzug könnte der in den USA stationierte Strategische Befehlshaber Transformation der Nato, gegenwärtig ein Franzose, ein amerikanischer Offizier werden.
Die Nato Response Force (NRF) sollte einen eigenen Führungsstab erhalten, und, wie ursprünglich beabsichtigt, nach einheitlichen Nato-Kriterien ausgerüstet und ausgebildet werden.
Die nationalen Verbände sollten mit der Unterstellung unter die NRF für die Dauer ihrer Zuordnung unter Nato-Kommando kommen (Nato Command Forces).
Den bestehenden Nato-Korps sollten jeweils drei zur Bündnisverteidigung befähigte Divisionen zugeordnet werden, deren Unterstellung für den Einsatzfall fest zugesagt wird (Earmarked for Assignment).
Damit würde das europäische Profil in der Nato geschärft und die Bereitschaft, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen, sichtbar betont. Die politischen Konsequenzen für Deutschland würden sich allerdings nicht auf eine stärkere – auch institutionalisierte – außen- und sicherheitspolitische Abstimmung bilateral mit Frankreich und multinational innerhalb der Europäischen Union beschränken.
Auch die konzeptionelle Abstimmung auf strategischer und operativer Ebene müsste verstärkt werden, nicht zuletzt, um ein engeres Zusammengehen der Europäer in der Rüstungskooperation zu ermöglichen.
Ohne die Bereitschaft, dauerhaft die notwendigen Mittel für die europäische Sicherheitsvorsorge bereitzustellen, bleiben jedoch alle Überlegungen im Hinblick auf die Selbstbehauptung oder gar „eigenständige“ militärische Fähigkeiten zur Verteidigung Europas fruchtlose Gedankenspiele.
In der politischen Diskussion wird immer noch die Meinung vertreten, eine engere militärische Zusammenarbeit würde finanzielle Einsparungen ermöglichen. Das ist ein Trugschluss. Die Bündelung defizitärer Fähigkeiten ist sicherlich geeignet, das Zusammenwirken multinationaler Verbände, die Interoperabilität, zu fördern. Sie kann aber nicht wesentlich zur Erhöhung der Kampfkraft beitragen oder strategisch Fähigkeitsdefizite ausgleichen.
Die Bundesregierung muss deshalb ernsthaft darangehen, die Bundeswehr wieder zu dem zu machen, was die Verfassung fordert: „Streitkräfte zur Verteidigung“. Dazu sind personelle und materielle Verstärkungen erheblichen Ausmaßes erforderlich, um Einsatzbereitschaft und Kampfkraft zu erhöhen, die Durchhaltefähigkeit zu verbessern sowie aufwuchsfähige Strukturen mit einem leistungsfähigen Reservistenpotential zu schaffen. Frau von der Leyen hat Recht: „Den Worten müssen jetzt Taten folgen.“
Der Autor, 76, ist ein deutscher General a. D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 der 13. Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses