Freitag, 24. November 2023

„Ich wusste, sie würden mich vergewaltigen“

von Thomas Heck...

Gut eineinhalb Monate nach dem blutigen 07.10. verschwindet das Geschehen langsam aber aus sicher aus dem Gedächtnis der Menschen. Umso wichtiger, dass wir die Geschehnisse nicht verdrängen, wie es hierzulande gerne getan wird. Für Israel wird der 07.10. für immer im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben wie der Holocaust, wie 911 für die USA.

Millet Ben Haim (27) überlebte das Massaker der Hamas-Terroristen bei einem Musikfestival nahe dem Gazastreifen. Sechs Stunden versteckte sie sich in einem Gebüsch. Sie wurde gerettet, aber heute fühlt sie sich „wie ein Geist“



Sie überlebte eines der tödlichsten Massaker an Juden seit dem Ende des Holocaust. Am 7. Oktober um 6.29 Uhr machte Millet Ben Haim (27) ein fröhliches Selfie mit ihren Freundinnen auf dem Musikfestival beim Kibbuz Re'im. Um 6.31 Uhr ertönte der erste Raketenalarm. Kurz darauf stürmten palästinensische Terroristen das Gelände, ermordeten 364 Festival-Besucher, verschleppten 40 nach Gaza.

Millet hat überlebt. Aber die junge, hochintelligente Frau, die früher Therapeutin werden wollte und Schüler über Sexualität aufklärte, wird nie wieder dieselbe sein. „Ich fühle mich wie ein Geist“, sagt Millet im großen Gespräch mit BILD. So wie Juden nach dem Holocaust ihre Geschichte erzählten, damit das Grauen nicht vergessen, nicht geleugnet werden kann, so erzählt Millet die Geschichte ihres Überlebens heute.
 
„Wir haben uns sicher gefühlt“

Sonnenaufgang am 7. Oktober. Noch feiern die Menschen ausgelassen das Leben. Sie ahnen nicht, welches Grauen gleich über sie hereinbricht. Viele der Feiernden werden bald nicht mehr am Leben sein.

„Ich war oft auf Partys. Für mich war das ein normales Wochenende, bis um 6.30 Uhr die Musik aufhörte. Bis zu diesem Zeitpunkt war es eine wirklich gute Party. Wir haben uns wie eine Gemeinschaft gefühlt, alles war voller Liebe, wir haben uns sicher gefühlt und uns ganz dem Moment hingegeben. Dann kamen die Raketen. Dutzende, vielleicht hunderte Raketen bedeckten den Himmel. Die Security begann dann, das Gelände zu evakuieren. Viele Menschen waren hilflos und verstanden überhaupt nicht, was gerade passiert.“

Millet und ihre Freundinnen am Samstagmorgen auf dem Musikfestival. Kurz nach diesem Selfie begann der Terror



„Die Terroristen waren auf allen Seiten“

Millet versucht, mit dem Auto zu fliehen. Doch Hamas-Terroristen kontrollieren die Straße.

„Wir haben versucht, mit dem Auto zu fliehen. Die Polizisten sagten uns, in welche Richtung wir fahren sollen. Aber nach ein paar Metern fingen die Leute an zu schreien, dass vorne Terroristen sind, die schießen. In den Autos vor uns wurden mehrere Menschen ermordet, einfach erschossen. Also drehte ich um und fuhr in die andere Richtung. Aber nach zwei Minuten hielten alle Autos wieder an und wir hörten Schüsse. Die Terroristen waren auf allen Seiten, wir konnten nirgendwohin fahren. Und wir wussten, dass sie immer näher kamen. Wir verstanden langsam, dass es viele Terroristen waren, nicht nur eine kleine Gruppe. Aber natürlich konnten wir uns nicht vorstellen, dass zu diesem Zeitpunkt tausende Terroristen nach Israel eingedrungen waren.“

Israelische Festival-Besucher fliehen zu Fuß vor den Terroristen



Die Festival-Besucher versuchen die Flucht über die Felder. Auch Millet.

„Es war das reine Chaos. Du rennst um dein Leben und egal, wohin du rennst, überall kommen dir schreiend andere Menschen entgegen und sagen, dass auch von dort auf sie geschossen wird. Die Terroristen wussten genau, wie wir fliehen würden und haben uns umzingelt. Einige von ihnen fuhren Autos, andere hatten Motorräder, manche waren zu Fuß unterwegs und einige kamen mit Paraglidern vom Himmel. Du hörst die Pfiffe der Schüsse. Um dich herum fallen Menschen einfach um.“

„Da wurde mir klar, dass das Terroristen sein müssen“

Manche Hamas-Terroristen haben sich als israelische Soldaten getarnt.

„Es gab sogar Hamas-Terroristen, die israelische Uniformen trugen. Ich erinnere mich, wie ich auf eine Gruppe Soldaten zu rannte. Ich war noch 50 Meter weg, als ich erkannte, dass sie RPGs (Granatwerfer, d.Red.) hatten. Da wurde mir klar, dass das Terroristen sein müssen, denn unsere Soldaten haben diese Waffen nicht.“

Palästinensische Terroristen ermordeten auf dem Festival 364 Menschen. Viele wurden aus nächster Nähe kaltblütig exekutiert



Millet wird immer schwächer.

„Es ist wie ein Albtraum, wenn man weiß, dass man nicht schnell genug läuft. Wenn man spürt, dass der Körper immer schwächer wird. Du hörst die Pfiffe der Schüsse. Um dich herum fallen Menschen einfach um. Du weißt, dass du fast keine Chance hast, zu überleben. Ich habe mir gesagt, dass ich weiterlaufen muss, aber ich hatte das Gefühl, als würde ich ohnmächtig oder hätte einen Herzinfarkt. So eine Schwäche habe ich noch nie gespürt, ich war unglaublich wütend auf meinen Körper. Es war, als wollten mein Körper und meine Seele einfach nicht mehr mitmachen. Als wollte sich mein System einfach ausschalten, um das alles nicht ertragen zu müssen. Ich bin zwei Stunden am Stück gelaufen, hin und her, hin und her. Es fühlte sich an wie zehn Minuten. Später habe ich auf meinem Handy nachgeschaut, es waren 13 Kilometer.“

Wer blieb, wurde ermordet

Millet rennt immer weiter. Um sie herum brechen manche Festival-Besucher panisch zusammen.

„Ich sah dieses Mädchen. Sie kauerte auf dem Boden und weinte, sie war völlig durcheinander. Ich habe versucht, sie zu umarmen und ihr zu sagen, dass wir weiter rennen müssen. Du hast da keine Zeit, dich hinzusetzen und zu sprechen, aber du versuchst es trotzdem. Eine meiner besten Freundinnen stand unter Schock und wollte auf dem Partygelände bleiben. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das eine schlechte Idee war. Jetzt weiß ich, dass ich recht hatte. Von denen, die geblieben sind, wurden fast alle vergewaltigt, entführt oder ermordet. Fast niemand hat überlebt.“

Die Flucht über die Straße wurde für viele Israelis zur Todesfalle. Hamas-Terroristen erschossen zahlreiche Zivilisten in ihren Autos



Mit drei anderen Frauen findet sie ein Gebüsch. Es ist kein optimales Versteck, aber ihre einzige Chance. Hier wird sie sechs Stunden lang ausharren.

„Du bist ein Ziel. Du spielst Verstecken mit den Terroristen. Wir waren zu viert, ich und drei andere Mädchen. Wir konnten nicht in größeren Gruppen bleiben, sonst hätten die Terroristen uns zu leicht entdeckt. Mir war klar, dass ich mich verstecken musste und dann sah ich ein Gebüsch. Es war kein perfektes Versteck, aber ein besseres hatte ich nicht. Ein Mädchen hielt mich ganz fest umarmt. Ich konnte sie nicht einmal ansehen, weil wir uns nicht bewegen wollten. Du sitzt ganz still und starr da. Wir hörten sie miteinander reden. Wir hörten ihre Schritte. Wir hörten, wie eine Person in unserer Nähe entführt wurde.“

Die Polizei konnte nicht helfen

Verzweifelt ruft Millet die Polizei an, fleht um Hilfe.

„Ich telefonierte mit der Polizei. Ich sprach so leise, aber auch so klar, wie ich nur konnte. Ein Polizist war sehr ehrlich zu mir. Er sagte, dass wir durchhalten sollen. Aber auch, dass die umliegenden Dörfer von Terroristen besetzt seien. Ich war nicht wütend auf ihn. Mir wurde klar, dass etwas wirklich Großes passiert ist. Und dass die Armee uns jetzt einfach nicht helfen kann.“

Sechs Stunden lang verstecken sich die jungen Frauen vor den Terroristen im Gebüsch



Millet macht sich keine Illusionen, welches Schicksal ihr droht, wenn die palästinensischen Terroristen sie finden.

„Ich habe nur gebetet, dass mich eine Rakete trifft. Ich erinnere mich, dass ich da lag und meinen Körper und meine Kleidung hasste. Ich hatte das Gefühl, dass das alles für die Terroristen wie ein Vorspiel ist. Ich wusste damals nicht, dass sie tatsächlich andere Mädchen vergewaltigt hatten. Aber ich wusste, dass es passieren würde, wenn sie mich finden. Ich wusste, dass sie uns vergewaltigen würden. Und uns dann ermorden und die Leichen mitnehmen. Ich wollte mich selbst begraben, ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen.“

„Sie werden mich einfach vergewaltigen und ermorden“

Sie kann nur noch an ihren Tod denken.

„Ich stellte mir vor, was ich tue, wenn sie mich finden. Wenn ich weine oder um mein Leben bettele, werden sie mich wahrscheinlich auslachen. Es wird ihnen egal sein. Sie werden mich einfach vergewaltigen und ermorden.“

Ein islamistischer Terrorist mit Kalaschnikow-Gewehr auf dem Festival-Gelände



Millet hört die Stimmen der Barbaren.

„Das Erschreckendste war, wie locker sie waren. Sie haben gelacht. Das hat mir mehr Angst gemacht als ihre Waffen. Wenn jemand so grausam und gleichzeitig so fröhlich ist, dann weißt du, dass er sich in Sicherheit fühlt. Mir wurde klar: Wenn sie sich so wohlfühlen, ist unsere Armee nicht in der Nähe.“
„Was sagst du deiner Familie?“

Die junge Frau nimmt Abschied von ihrer Familie.

„Du kannst nur wenige Worte sagen, also was sagst du deiner Familie? Ich habe ihnen gesagt, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin. Ich wollte, dass sie etwas haben, das sie tröstet. Dass sie zumindest das Gefühl haben: Sie ist gestorben, aber sie hatte ein glückliches Leben. Was für ein bizarrer Gedanke, die Familie über den eigenen Tod hinwegtrösten.“

Einer der Palästinenser erschießt einen wehrlosen, am Boden liegenden Israeli. Es ist eine erbarmungslose Exekution



Dann ein Wunder: die Rettung. Ein Zivilist namens Ramy Davidian, der an diesem Tag mehr als 100 Menschen rettet, kontaktiert Millet.

„Irgendwann hatte ich Kontakt mit einem Mann namens Ramy Davidian. Er hat an diesem Tag hunderte Menschen gerettet. Ich versuchte, ihn irgendwie zu uns zu navigieren. Er sagte, dass er hupen wird, wenn er da ist, dann sollte ich rauskommen. Ich verabschiedete mich von ihm und bat ihn, uns nicht aufzugeben. Dann hörte ich die Hupe und rief ihn an. Er war es. Da wurde mir klar, dass ich aus dem Gebüsch rauskommen muss, damit er uns sieht. Aber gleichzeitig hörte ich draußen Schüsse, mal waren sie weiter weg, mal kamen sie näher. Das war der gruseligste Moment.“

„Wenn du getötet wirst, dann wirst du getötet“

Millet muss nach sechs Stunden unter dem Gebüsch hervorkommen. Sie hat Todesangst. Noch immer könnten Terroristen in der Nähe sein. Sie hört Schüsse.

„Es war ein Gedanke, den ich seit meiner Kindheit über den Holocaust hatte. Ich erinnere mich, wie ich als Kind darüber nachgedacht habe, wie manche Menschen es geschafft haben, zu überleben. Wie manche im Ghetto die Kraft hatten, zu kämpfen oder zu fliehen. Ich erinnerte mich an einen Film über die Flucht aus dem KZ Sobibor. Ich dachte: Wenn du die Tatsache akzeptierst, dass du sowieso getötet wirst, dann kannst du es schaffen. So fühlte ich mich. Ich sagte mir: Wenn du getötet wirst, wirst du getötet. Das gab mir den Mut, mein Versteck zu verlassen. Ich kroch heraus und sah ein Auto mit einem hebräischen Aufkleber. Also hob ich den Kopf für eine Sekunde, damit er mich sehen konnte.“

Seit dem 7. Oktober ist Millet ein anderer Mensch: „Ich fühle mich wie ein Geist“



Millet ist gerettet, in Sicherheit, bei ihrer Familie. Doch nichts ist so wie zuvor.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass es vorbei ist. Das Trauma ist so groß, es berührt mich so tief. Mein Cousin wurde erschossen. Wir vermissen Freunde und Familienmitglieder. Unsere Soldaten sind drüben und kämpfen. Einer meiner Freunde wurde in Gaza verwundet. Jeden Tag schießen sie Raketen auf uns. Nach der Beerdigung meines Cousins war das Ausmaß an Kummer und Angst so überwältigend, dass ich glaube, mein Herz sei einfach zum Stillstand gekommen. Es ist noch lange nicht vorbei.“

Der 7. Oktober hat für Millet alles verändert.

„Meine Freunde versuchen, Kontakt mit mir zu haben, aber ich möchte das nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich sie überhaupt kenne. Es ist auch schwierig, bei meiner Familie zu sein. Sie freuen sich sehr, mich zu sehen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich sehen. Ich fühle mich wie ein Geist. Ich weiß nicht, wer ich bin.“

Doch Millet Ben Haim gibt nicht auf. Sie wird ihre Geschichte weiter erzählen. Damit niemand leugnen kann, was wirklich geschah.


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