Sonntag, 5. Juni 2022

Linkspartei: Untergang in Raten...

von Thomas Heck...

Es besteht durchaus die Chance, dass die Linkspartei alsbald das Zeitliche segnen wird, etwas was besser schon vor 30 Jahren mit der Vollendung der deutschen Einheit geschehen wäre, hätte uns das doch eine Menge Stress erspart. Dass diese Mauermörderpartei zudem zutiefst antiisraelisch und somit antisemitisch ist, Terrorismus unterstützt und diesen Staat in dieser Form ablehnt, könnte man fast noch ertragen, insbesondere wenn das Votum des Wählers es so will. Nennt man Demokratie. Es ist hinzunehmen, auch wenn es nicht gefällt. 

Doch dass diese Partei faktisch nur wegen der "Wahlunregelmäßigkeiten" bei der Bundestagswahl 2021, andere sprechen von Wahlbetrug, im Bundestag und in Berlin in die Koalition sitzt, schadet unserer Demokratie und führt sie ad absurdum. Denn der Wähler hatte den Untergang der SED eigentlich beschlossen, es wurde nur noch nicht umgesetzt.

Endzeitstimmung bei der Linkspartei - Ausgabe der linken Wochenzeitung "Freitag" vom 28. April 2022


Bei der Linken herrscht Panik. Selbst langjährige Spitzenfunktionäre sehen die Partei in einer existenziellen Krise. Sind die Postkommunisten in Deutschland bald Geschichte? Ein Parteitag soll in Kürze die Rettung bringen. Doch Zweifel sind angebracht, ob dies gelingt.

Die Linke hat bei den Landtagswahlen in NRW am 15. Mai erneut eine Niederlage erlitten. Mit nur noch 2,1 Prozent der Stimmen hat sie nach Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und dem Saarland in einem weiteren Bundesland den Einzug in den Landtag verfehlt. Geht die Partei, die noch vor Kurzem von einer Regierungsbeteiligung im Bund träumte, bald ihrem Ende zu?

Selbst führende Linken-Funktionäre wie Gregor Gysi räumen ein, dass sich die Partei in einer existenziellen Krise befindet. Nicht nur im Westen ist sie vielerorts auf das Niveau der Tierschutzpartei geschrumpft, auch im Osten hat sie ihre einstige Vormachtstellung verloren. Bei der Bundestagswahl im September verfehlte sie mit 4,9 Prozent sogar die Fünf-Prozent-Hürde. Nur weil sie drei Direktmandate erobern konnte, kam sie überhaupt ins Parlament.

Existenzielle Krisen hat die Partei schon einige erlebt. Bei den Bundestagswahlen 2002 erreichte die umbenannte Staatspartei der DDR sogar nur vier Prozent. Drei Jahre lang war sie nur noch mit zwei Abgeordneten im Parlament vertreten. Doch danach erholte sie sich wieder. Ihr Wiederaufstieg wurde möglich durch den von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi ausgetüftelten Coup, der Partei ein neues, gesamtdeutsches Image zu verpassen: 2007 traten ihr die Mitglieder der westdeutschen Neugründung WASG bei und sie nannte sich fortan „Die Linke“.

Gesamtdeutsches Image verpasst – Wahlplakat der Linkspartei in Berlin zur Bundestagswahl 2005


Schrumpfende Wählerzahlen

Eine ähnliche Rettungsaktion ist derzeit nicht in Sicht. Die Partei verliert vielmehr seit Jahren kontinuierlich Wählerstimmen – vor allem in ihrer einstigen Hochburg Ostdeutschland. In Brandenburg sank sie zwischen 2009 und 2019 von 27,2 auf 10,7 Prozent, in Sachsen von 20,6 auf 10,4 Prozent. Auch in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt halbierten sich ihre Ergebnisse auf rund zehn Prozent. Nur im bevölkerungsarmen Thüringen erreichte die Linke 2019 ein Rekordergebnis, was jedoch in erster Linie regionalpolitische Gründe hatte.

Auch in den westdeutschen Flächenländern rangiert die Partei seit Längerem auf den hinteren Plätzen. Nur in Hessen gehört sie noch dem Landtag an. In allen anderen Ländern kam sie bei den letzten Wahlen lediglich auf zwei bis drei Prozent. Um die eigene Stimme nicht zu verschenken, wählen selbst Anhänger der Linken dort inzwischen lieber Grüne oder SPD. Allein in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, wo die Partei bei rund zehn Prozent liegt, konnte sie zuletzt leichte Zuwächse verzeichnen.

Der gleichzeitige Wählerverlust im Osten und im Westen ist für die Linke existenzbedrohend. Denn ihr bundesweites Überleben beruhte lange Zeit auf einer einfachen Rechnung: Wenn sie im Osten gut 20 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte, würde sie bei Bundestagswahlen auch dann die Fünf-Prozent-Hürde überspringen, wenn sie im Westen nur drei bis vier Prozent erreichte. Doch von diesen Werten hat sie sich inzwischen deutlich entfernt.

Wählerverlust in Ost und West – Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch (l.) am Abend der Bundestagswahlen 2021


Die Ursachen dafür liegen auf verschiedenen Ebenen. Zum Einen kommen ihre programmatischen Vorstellungen vielen Wählern nicht mehr zeitgemäß vor. Zum Anderen mangelt es der Partei an überzeugendem Führungspersonal. Hinzukommt eine notorische Zerstrittenheit, die auch öffentlich zur Schau gestellt wird. Strategisch bedeutsam ist aber vor allem, dass sich die AfD im rebellischen Osten als neue Fundamentalopposition etablieren konnte. Aktuelle Krisen wie die Sexismus-Vorwürfe gegenüber männlichen Parteifunktionären kratzen zusätzlich am Image der Partei.

Altbackene Programmatik

Programmatisch wirkt die Partei zunehmend altbacken und wie aus der Zeit gefallen. Seit 30 Jahren fordert sie, dass der Staat mehr soziale Wohltaten verteilen soll. Doch das Mantra von der „sozialen Gerechtigkeit“, das an einen Gewerkschaftskongress der 1970er Jahre erinnert, wirkt immer weniger überzeugend. Denn die Probleme, die aus der globalen Konkurrenz für den Industriestandort Deutschland und einer immer älter werdenden Gesellschaft resultieren, lassen sich damit nicht lösen. Vorschläge, wie die Bundesrepublik ihren Wohlstand auch in Zukunft bewahren kann, sucht man vergebens im Programm der Linken.

Auch eine andere Säule des Programms wirkt seltsam antiquiert. Wenn es nach der Linken ginge, soll der Staat zahlreiche Wirtschaftssektoren in Zukunft selbst betreiben: Krankenhäuser, Energieversorgung Wohnungsbau und weitere Bereiche der sogenannten Daseinsvorsorge sollen „vergesellschaftet“ und dazu gegebenenfalls auch enteignet werden. Selbst die Lufthansa will die Linke verstaatlichen und mit der Deutschen Bahn zu einem „Mobilitätskonzern“ verschmelzen. Doch dass der Staat ein besserer Manager sein soll als private Unternehmen, bezweifeln viele Wähler. Wer einmal Kontakt mit deutschen Behörden hatte, weiß, warum.

Verstaatlichung der Lufthansa – Sozialismus-Werbung der Linken im Landtagswahlkampf in Sachsen 2019 


Hinzukommt, dass dieser programmatische Markenkern der Linken in den letzten Jahren zunehmend von grün-alternativen Themen überdeckt wurde. Bei der letzten Bundestagswahl stand „Klimagerechtigkeit“ sogar auf dem Titel ihres Wahlprogramms. Während ehemalige SED-Funktionäre im Osten und aktive Gewerkschafter im Westen früher für eine gewisse Bodenständigkeit sorgten, wird der Diskurs in der Partei heute von „Lifestyle-Linken“ bestimmt – wie die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht jene meist jüngeren Genossen nennt, die der Linken in den letzten Jahren beigetreten sind.

Für diese Mitglieder stehen Sprachvorschriften, vermeintlich falsche Konsumgewohnheiten und die Rechte diverser Minderheiten ganz oben auf der Agenda. Geringverdiener, die die Linke laut ihrem Programm eigentlich vertreten will, fühlen sich dadurch häufig abgestoßen. Auch die Forderung nach „offenen Grenzen für alle Menschen“, wie sie im Wahlprogramm zur Bundestagswahl steht, dürfte insbesondere in Ostdeutschland kaum auf Zustimmung stoßen. Reüssieren kann die Partei mit dieser Ausrichtung zwar in den großen Städten – doch das allein reicht nicht fürs bundesweite Überleben.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Partei jetzt auch noch auf außenpolitischem Gebiet kalt erwischt. „Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands,“ heißt es im Programm der Linken zur letzten Bundestagswahl. Auch Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Abwendung weiterer Krisen wollte die Linke nicht gestatten. Gysi bemüht sich zwar, diese Positionen aufzuweichen, doch fahren dem außenpolitischen Sprecher der Fraktion linke Fundamentalisten regelmäßig in die Parade.

„Kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands“ – Linken-Aufruf zur Teilnahme am Ostermarsch 2022


Spürbare Führungsschwäche

Verstärkt werden diese Probleme durch eine offensichtliche Führungsschwäche. Seit dem Abgang von Oskar Lafontaine als Vorsitzender (2010) und Gregor Gysi als Fraktionschef (2015) gibt es kaum noch Funktionäre, die über das eigene Klientel hinaus strahlen. Während Lafontaine die Partei inzwischen verlassen hat, ist Gysi mit seinen 74 Jahren ein Auslaufmodell. Sollte er in drei Jahren nicht noch einmal für den Bundestag kandidieren, dürfte die Partei auch sein Direktmandat verlieren – und damit ihre Überlebensversicherung bei einem Abschneiden von unter fünf Prozent. Die einzige Linken-Politikerin mit bundesweiter Ausstrahlung ist derzeit Wagenknecht, doch die ist in der Partei bei vielen regelrecht verhasst.

Im Vergleich zu ihr haben es die langjährigen Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger nie vermocht, größere Gruppen der Bevölkerung zu erreichen. Den im vergangenen Jahr gewählten Nachfolgerinnen Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler ist dies erst Recht nicht gelungen. Während Hennig-Wellsow nach mehreren missratenen Fernsehauftritten im April von ihrem Amt zurücktrat, sieht sich Wissler mit dem Vorwurf konfrontiert, in ihrem hessischen Landesverband sexistischen Übergriffen nicht entgegengetreten zu sein. Auf einem Parteitag vom 24. bis 26. Juni in Erfurt soll nun der gesamte Parteivorstand neu gewählt werden.

Dass die Linke dabei aus ihrer Krise herausfindet, ist nicht sehr wahrscheinlich. Im für die Partei besten Fall werden die gravierendsten Konflikte – zum Beispiel ihre Reaktion auf den Ukraine-Krieg – mit Formelkompromissen überdeckt. Wer die Partei künftig anführen wird, ist dagegen völlig unklar. Während früher hinter verschlossenen Türen ein Personalpaket geschnürt wurde, das von verschiedenen innerparteilichen Lagern mitgetragen wurde, kommt es diesmal zur offenen Feldschlacht: Ganze neun Genossen – sieben Männer und zwei Frauen – haben angekündigt zu kandidieren.

Unklare Nachfolge – Linken-Vorsitzende Janine Wissler (l.) und Susanne Hennig-Wellsow (r.) nach ihrer Wahl im Februar 2021


Da die Partei zwei Vorsitzende wählt, von denen mindestens einer eine Frau sein muss, wird es wohl zu einem Duell um den „Frauenplatz“ kommen: Gegen Parteichefin Wissler will die weitgehend unbekannte Bundestagsabgeordnete Heidi Reichinnek kandidieren. Sie gilt als Vertraute von Ex-Stasi-Informant Diether Dehm. Bei dem verbleibenden „Männerplatz“ wird es wahrscheinlich auf eine Entscheidung zwischen dem Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann und dem Europaabgeordneten Martin Schirdewan hinauslaufen. Pellmann ist Grundschullehrer von Beruf, gewann aber 2021 ein Direktmandat, womit er der Linken den Wiedereinzug in den Bundestag ermöglichte. Schirdewan, ein Enkel von SED-Politbüromitglied Karl Schirdewan, war 2019 Spitzenkandidat der Linken bei den Europawahlen, bei denen die Partei von 7,4 auf 5,5 Prozent fiel.

Wagenknecht, deren Parteiausschluss gerade von der Bundesschiedskommission abgelehnt wurde, will sich hingegen nicht dem Votum der Delegierten stellen. Sie trat statt dessen einmal mehr mit einem „Aufruf“ an die Öffentlichkeit. Darin heißt, dass die knapp 5000 Unterzeichner „in grundsätzlicher Opposition zum Marktradikalismus und zu kapitalistischer Herrschaft“ stünden und ihr Ziel „ein neuer, demokratischer und ökologischer Sozialismus“ sei. Innerhalb der Linken wird „eine konstruktive Zusammenarbeit“ gefordert, bei der auf „bekannte und anerkannte Persönlichkeiten“ nicht verzichtet werden dürfe – womit wohl vor allem Wagenknecht selbst gemeint sein dürfte.

Vieles spricht deshalb dafür, dass der Untergang auf Raten weitergeht. Die nächste Wahlniederlage droht der Linken am 9. Oktober bei den Landtagswahlen in Niedersachsen. Laut einer Forsa-Umfrage vom April liegt sie dort bei drei Prozent.




Samstag, 4. Juni 2022

Wahlfehler berlinweit mandatsrelevant – Vertuschungsaktion verhinderte Wahlwiederholung

Exklusiv: Wahlfehler berlinweit mandatsrelevant – Vertuschungsaktion verhinderte Wahlwiederholung

IMAGO / Emmanuele Contini 
Konstituierende Sitzung im Abgeordnetenhaus in Berlin, 04.11.2021

Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Michael Müller sagte nur wenige Tage nach der Wahl 2021: „Nach un­se­ren der­zei­ti­gen Er­kennt­nis­sen sind die Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten nicht in einem Um­fang zu sehen, die man­dats­re­le­vant oder wahl­ver­fäl­schend sind.“ Er gab damit die Linie vor, mit der die Wahlpannen in Berlin weggeredet werden sollten. Spätestens seit den TE-Recherchen der letzten Wochen ist klar, wie flächendeckend das Wahldesaster war, wie systematisch die Fehler auftraten und dass zehntausende Wählerstimmen betroffen sind.

Die „Mandatsrelevanz“ ist die letzte Verteidigungslinie des Senats. Es ist eine juristisch-bedingte, rein theoretische Rechnung. Demnach hätten die Wahlpannen und Manipulationen keine Auswirkung auf die Mandatsverteilung.

ZEIT ZUM LESEN
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Doch nach intensiver Recherche ist es TE gelungen, auch jene theoretische Mandatsrelevanz berlinweit zweifelsfrei nachzuweisen – damit ist eine Wahlwiederholung unumgänglich. Mutmaßlich, um genau das zu verhindern, hat die Landeswahlleitung dann eine Rechnung erfunden, die das Endergebnis entscheidend veränderte. Das werden wir zeigen, zum besseren Verständnis aber erst weiter hinten im Text. 

Den Leser weisen wir daraufhin, dass es sich hier in weiten Teilen um eine theoretische Rechnung handelt, die juristisch bedingt ist. Wenn Sie sich für die mathematischen Einzelheiten nicht bis ins letzte Detail interessieren, dann überspringen Sie beim Lesen einfach die kursiven Absätze. Wir haben die Ergebnisse auf Wahlen spezialisierten Mathematikern vorgelegt und diese haben sie bestätigt. Und sogar die Landeswahlleitung bestätigt uns (siehe unten). 

Die Mandatsrelevanz – es geht um berlinweit 1746 Stimmen

Die Mandatsrelevanz liegt berlinweit dann vor, wenn die systematischen Wahlfehler theoretisch eine Veränderung des Zweitstimmenergebnisses zum Berliner Abgeordnetenhaus hätten ergeben können, so dass sich am Ende die Sitzverteilung des Parlamentes dadurch ändern könnte. Dafür wird immer eine theoretische Kontrollrechnung durchgeführt: Angenommen, alle Stimmen, die durch Wahlpannen nicht regulär abgegeben werden konnten, wären für einen der Wahlvorschläge ausgefallen – würde sich die Mandatsverteilung dann ändern? 

Ist das der Fall, muss berlinweit wiederholt werden. 

Die gegenwärtigen 147 Sitze des Abgeordnetenhauses werden nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren auf die Wahllisten der Parteien verteilt. Dabei wird zunächst eine theoretische Sitzverteilung gemäß der Stimmenverhältnisse errechnet. Das geht aber natürlich nicht auf, weil nur ganze Sitze vergeben werden können und nicht beispielsweise 35,94 für die SPD. Es wird dann gerundet. Und zwar nach folgendem Prinzip: Zunächst wird berechnet, wie viele Sitze jeder Liste gemäß ihres Zweitstimmenanteils mindestens zustehen – also „die Zahl vor dem Komma“, im Falle der SPD 35. Anschließend wird geprüft, wie viele Sitze so verteilt werden können und wie viele zur feststehenden Gesamtsitzzahl insgesamt fehlen. Im aktuellen Fall können 144 Mandate so im ersten Schritt verteilt werden, drei Mandate fehlen. Diese drei Mandate werden nun auf jene Listen verteilt, die entsprechend die höchste Nachkommastelle aufweisen. Im aktuellen Fall sind das die SPD mit 35,94, die Grünen mit 31,70 und die Linkspartei mit 23,60. Sie bekommen im Ergebnis 36 bzw. 32 und 24 Sitze. 

Eine Veränderung der Sitzverteilung des Abgeordnetenhauses durch veränderte Stimmergebnisse ist nun am ehesten denkbar, wenn diejenige Partei, die am knappsten ein weiteres Mandat verfehlte, bei der Nachkommastelle jene Partei überholt, die gerade noch ein weiteres Mandat erhielt. Am knappsten erhielt die Linkspartei ihr zusätzliches Mandat mit 23,60 theoretischen Sitzen und 24 Sitzen, die sie am Ende tatsächlich bekam. Die Liste, die am knappsten an einem weiteren Mandat scheiterte, war die AfD mit einer theoretischen Sitzanzahl von 13,43, die am Ende lediglich eine tatsächliche Sitzanzahl von 13 ergab. 

Damit die AfD die Nachkommastelle der Linkspartei überholen könnte, bräuchte sie 1746 Stimmen zusätzlich – dann würde sie einen Sitz mehr und die Linkspartei einen Sitz weniger erhalten. 

1746 Zweitstimmen (wohlgemerkt in ganz Berlin) sind also notwendig, um die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses grundsätzlich zu verändern und eine Wiederholung unumgänglich zu machen.  

Die Frage ist nun, ob die zweifelsfrei quantifizierbaren verlorenen Stimmen durch Wahlfehler die Zahl 1746 übersteigen. Denn wie beschrieben werden diese für die Kontrollrechnung immer fiktiv einer einzigen Partei zugeschlagen, um zu prüfen, ob sich die Sitzverteilung ändern könnte.

Die Wahl hängt an 264 Stimmen

TE-RECHERCHE
Linkspartei-Direktmandat von Wahlunregelmäßigkeiten betroffen – Verbleib im Bundestag fraglich
Dass diese Zahl überschritten wird, erscheint zunächst offensichtlich. Durch Wahlzettelmangel waren Wahllokale insgesamt mindestens 55 Stunden während der regulären Wahlzeit geschlossen. Rechnet man das mit den durchschnittlichen Wählerzahlen hoch, wären allein durch diese Wahlpanne mindestens 3437 Wähler am Wahlgang gehindert gewesen. Selbst wenn man nur jene Wahllokale berücksichtigt, die länger als 60 Minuten geschlossen waren, sind über 36 Stunden geschlossene Wahllokale die Folge. Hochgerechnet wären das immer noch 2260 Stimmen. Doch dieses Argument kann man dadurch entkräften, dass es keine ganz konkreten Zahlen gibt, die sich beweisen ließen. Um alle Unklarheiten zu beseitigen, klammern wir diesen gesamten Punkt also aus und rechnen nur mit jenen Zahlen, die zweifelsfrei und genau vorliegen.

TE-Recherchen zeigen, dass allein 1297 Wahlzettel für die Zweitstimme versehentlich nicht an Wähler ausgegeben wurden. Das heißt, Wähler gingen ins Wahllokal, wurden im Wahlregister abgestrichen, gaben etwa zum Bundestag und zur Bezirksverordnetenversammlung ihre Stimme ab – aber eben nicht die Zweitstimme zum Berliner Abgeordnetenhaus, da sie den entsprechenden Wahlzettel nicht bekamen.  

Diese Zahl wurde mittlerweile auch offiziell von der Landeswahlleiterin bestätigt: 1297 Wähler wurden also eindeutig um ihr Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus gebracht, weil sie zwar im Wahllokal waren, alle Stimmen abgeben konnten, ihre Zweitstimme zum Abgeordnetenhaus allerdings nicht. Unsere 1746 erforderlichen Stimmen minus diese 1297 machen nun 449 weitere Stimmen, die zur Mandatsrelevanz noch fehlen.

TE-EXKLUSIV
Berliner Pannenwahlen: Schriftverkehr belegt direkte Verantwortung von SPD-Innensenator Geisel
Weitere eindeutige Fälle sind: Es wurden 15 Stimmzettel selbst nach Angaben der Landeswahlleiterin von nicht-wahlberechtigten Minderjährigen oder EU-Ausländern abgegeben. In Wirklichkeit dürfte die Zahl wohl wesentlich höher liegen, es lässt sich aber nur in Ausnahmen nachweisen. 170 Wahlberechtigte wurden im Wahllokal aus verschiedenen Gründen abgewiesen – oft wegen Maskenvergehen. Bleiben noch 264 Stimmen Differenz.

An jenen 264 Stimmen Differenz hängt jetzt also die Legitimität der Abgeordnetenhauswahl von Berlin. 

Eine frei erfundene Kontrollrechnung

Offenbar hat man sich große Mühe gegeben, die Überschreitung dieser Zahl zu verhindern. Dabei geht es um 1969 irreguläre Zweitstimmen aus Friedrichshain-Kreuzberg. Wie TE-Recherchen bereits gezeigt haben, wurden diese Stimmen auf falschen Wahlzetteln (solchen aus Charlottenburg-Wilmersdorf) abgegeben, später aber dennoch wieder für gültig erklärt. Das widerspricht eindeutig dem Berliner Wahlgesetz, in dem explizit steht, Stimmen auf Wahlzetteln, die für einen anderen Wahlbezirk vorgesehen sind, seien ungültig.

Wären diese Stimmen als ungültig gewertet worden, wäre die Grenze zur Mandatsrelevanz sofort sichtbar überschritten gewesen. An ihnen hängt also der Bestand dieser Wahl. Deshalb lohnt sich ein genauer Blick.

Zunächst zum Hintergrund dieser dubiosen Entscheidung, die Stimmen dennoch zu werten: Nach TE-Informationen griff die Senatsverwaltung für Inneres direkt ein und wies den für die Feststellung des Ergebnisses zuständigen Bezirkswahlausschuss auf ein 12 Jahre altes Urteil zu einer Personalratswahl hin. Auch der Bezirkswahlleiter war offensichtlich verdutzt. Dabei hatte er öffentlich zunächst klar gesagt, dass alle diese Stimmen für ungültig erklärt werden müssen. 

WAHLMANIPULATION IN BERLIN
Wirbel nach TE-Berichten zu Wahlpannen – hier erzählt unser junges Rechercheteam
Ein Urteil zu einer Personalratswahl eines Unternehmens auf eine Abgeordnetenhauswahl anzuwenden, wo es um knapp 2000 Stimmen geht, und sich in Berufung darauf über das Wahlgesetz hinwegzusetzen – das ist gelinde gesagt gewagt. Aber wenn wir dieser eigentlich absurden Rechtsauffassung einmal folgen wollen, wird es nur noch absurder. Und der Verdacht der Manipulation könnte aufkommen.

Denn das besagte Personalratswahl-Urteil erlaubt es zwar, Stimmabgaben auf fehlerhaften Stimmzetteln für gültig zu erklären – aber nur unter der expliziten Bedingung, dass dabei eine Mandatsveränderung durch diese wieder gültigen Stimmen ausgeschlossen werden kann.

Nach Auffassung der zuständigen Bezirkswahlleitung von Friedrichshain-Kreuzberg ist für die Anwendung dieses Urteils eindeutig folgende Rechnung zur Mandatsrelevanz notwendig. Die Pressestelle erklärt gegenüber TE: „Diese [die Mandatsrelevanz] könnte sich theoretisch z.B. dann ergeben, wenn man alle 1.969 Stimmen einem Wahlvorschlag zurechnet und dadurch entweder die 5%-Hürde überschritten würde oder in der Verteilung zwischen den an der Mandatsverteilung teilnehmenden Wahlvorschlägen bei fiktiver voller Zurechnung aller dieser Stimmen zu jeweils einem Wahlvorschlag eine Veränderung der Mandatszahl ergäbe“. Wohlgemerkt: „bei fiktiver voller Zurechnung aller dieser Stimmen zu jeweils einem Wahlvorschlag“.

Das muss nun ganz einfach rechnerisch überprüft werden. Der Bezirkswahlleiter erklärte gegenüber TE, dass man sich dafür auf die Landeswahlleitung verließ. Diese habe die eindeutige Auskunft erteilt, dass eine solche Kontrollrechnung erfolgt sei, mit dem Ergebnis, dass eine Mandatsrelevanz nach eben beschriebener Rechnung ausgeschlossen werden kann. Explizit unter Verweis auf diese Rechnung hat der Bezirkswahlausschuss die Stimmen daraufhin für gültig erklärt. 

Doch es gibt da ein kleines Problem: Es ist schlichtweg falsch. Eine Mandatsveränderung durch diese Stimmen ist entgegen dieser Aussage tatsächlich nicht auszuschließen. Würden die 1969 betroffenen Kreuzberger Stimmen nämlich zu mindestens 75 Prozent auf die SPD entfallen sein, würde sich die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses verändern.

TE fragte bei der Landeswahlleitung an, diese bestätigte die Rechnung nun eindeutig. Die Pressestelle erklärte: „Die fehlerhaften Stimmzettel hätten sich nur dann auf die Mandatsverteilung auswirken können, wenn von den 1.969 Zweitstimmen – bei hypothetischer Ausgabe korrekter Stimmzettel – mindestens 1.454 (73,8 %) auf die SPD entfallen wären.“ 

Die Landeswahlleitung führt dann zwar aus, dass das unwahrscheinlich sei, weil die SPD ansonsten natürlich viel weniger Zweitstimmen habe. Das ist aber nicht der Punkt. Denn im genannten Urteil zur Personalratswahl von 2010, auf dem diese absurde Argumentation beruht, heißt es eindeutig: „Ist ein Einfluss der fehlerhaften Stimmzettel auf das Wahlverhalten naheliegend, muss vom größtmöglichen Einfluss auf das Wahlergebnis ausgegangen werden, d.h. es müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten […] zu den Stimmen der einen oder der anderen Liste hinzugerechnet werden. Spekulationen über ein anderes hypothetisches Wahlverhalten verbieten sich.“ 

Genau solche Spekulationen führt die Landeswahlleitung nun gegenüber TE aber aus. Die Landeswahlleitung erklärte zudem erst vor wenigen Tagen gegenüber dem Landesverfassungsgerichtshof von Berlin, dass die Landeswahlleitung keine Information über die tatsächliche Verteilung dieser 1969 Kreuzberger Zweitstimmen habe. 

Die Landeswahlleitung hat der zuständigen Bezirkswahlleitung eindeutig erklärt, dass eine Kontrollrechnung mit fiktiver Stimmverteilung durchgeführt worden sei. Das war gelogen. Denn eine solche Rechnung ist nicht möglich, wie man nun selbst zugibt. Alternativ wäre lediglich ein schlichter Rechenfehler möglich. Das würde dem Chaos allerdings nur die Krone aufsetzen.

In jedem Fall steht fest: Das festgestellte Endergebnis der Berliner Abgeordnetenhauswahl basiert auf einer falschen Rechnung und hätte so nie Bestand haben dürfen. Der Bezirkswahlausschuss wurde durch die Landeswahlleitung getäuscht, um ein Ergebnis passend zu machen. Es wurden 1969 falsche Stimmen für gültig erklärt, die nach keiner erdenklichen Sicht für gültig hätten erklärt werden dürfen. Die Landeswahlleitung liegt im Aufgabenbereich der Senatsverwaltung für Inneres, damals unter Senator Andreas Geisel (SPD). Für weitere Auskünfte stand man auf Anfrage nicht zur Verfügung.

Wenn diese 1969 Stimmen ungültig sind, dann ist die Mandatsrelevanz der Pannen in Berlin unmittelbar gegeben – und wäre sofort ablesbar gewesen. Die Wahl hätte wiederholt werden müssen. Genau das wurde aber verhindert, indem diese Stimmen über Umwege dennoch gültig wurden.

Auch ganz praktisch ergibt sich eine Mandatsrelevanz: Da wir die genaue Verteilung der Stimmen nicht kennen, gehen wir einmal davon aus, dass die 1969 Zweitstimmen gemäß der Verteilung der sonstigen Zweitstimmen im Bezirk ausgefallen sind. Dann wären es besonders viele Stimmen für Rot-Rot-Grün und besonders wenige für die AfD.

Ausgehend von dieser Stimmverteilung würde sich also ganz praktisch der Abstand von AfD und Linkspartei verringern, wenn man diese Stimmen gemäß der Rechtslage für ungültig erklärt. Rechnet man abzüglich der verteilten 1969 die Berliner Stimmen insgesamt wie eingangs beschrieben nach, so fehlen nunmehr lediglich 1476 Stimmen zur Mandatsrelevanz. Wie eingangs beschrieben, machen die zweifelsfrei belegbaren Wahlfehler 1482 Stimmen aus. Damit ist eine Mandatsrelevanz – wie immer man es drehen und wenden will – bei den Wahlpannen in Berlin gegeben.

Die Wiederholung der Wahl ist berlinweit damit unumgänglich. Geht alles mit rechten Dingen zu, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Landesverfassungsgerichtshof das feststellen muss. Wenn man jetzt weiter hinauszögert, ist die Folge lediglich, dass eine Wiederholung immer weiter vom ursprünglichen Wahltermin abweicht und die Legitimität der Wahl damit nochmals in Mitleidenschaft gezogen wird. 

Erschienen in Tichys Einblick...



Für 9 Euro in die Reetdach-Hölle: Sylt - eine Abrechnung

von Jan Fleischhauer...

Auf der Ferieninsel fürchten sie den Untergang, seit Aktivisten dazu aufgerufen haben, mit dem Neun-Euro-Ticket die Insel zu stürmen. Aber Hand aufs Herz: Wäre ein Ende von Sylt wirklich so schlimm?


Einmal war ich in List zu einem Vortrag. Der Veranstalter hatte für mich ein Zimmer im „Hotel Arosa“ gebucht. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man das Meer. Das Meer war weit weg, weil das Watt dazwischenlag. Aber wenn man sich anstrengte, sah man es.

Christian Wulff war ebenfalls auf Sylt. Das habe ich allerdings erst erfahren, als er schon wieder zu Hause war. Für ihn ist der Besuch nicht so gut verlaufen. Er hatte sich mit seiner Frau in einem Hotel in Westerland eingemietet. Wenn ich die Wahl hätte zwischen Westerland und List, würde ich immer List wählen. Westerland ist gewissermaßen das Bottrop von Sylt. Trotzdem gab es Ärger.

Wenn der Bundespräsident sein Portemonnaie vergisst, ist das ein gefundenes Fressen

Ein Freund hatte die Buchung vorgenommen und später auch die Rechnung beglichen. Wulff sagte dazu, er habe dem Freund das Geld in bar zurückgegeben. Aber das glaubte ihm niemand. Die Geschichte stand dann groß in allen Zeitungen. Wenn der Bundespräsident sein Portemonnaie vergisst, ist das ein gefundenes Fressen, auch wenn es nur für Westerland reicht.

Glaubt man den Sylt-Fans, ist Sylt das Paradies auf Erden. Deshalb wollen auch alle hin, wie es heißt, angefangen vom Bundespräsidenten, was wiederum die Immobilienpreise in Höhen getrieben hat, die selbst Leute, die in Starnberg am See wohnen, beim Erstgespräch mit dem Makler erblassen lässt.

Jetzt haben die Leute auf Sylt Angst. Nicht vor sinkenden Preisen, sondern vor dem Neun-Euro-Volk, das sich angekündigt hat. Seit Wochen trommeln Aktivisten, die Insel zu stürmen. Sieben Millionen Menschen haben das Billigticket bereits in der Tasche.

Ich habe nicht ganz verstanden, warum es das Neun-Euro-Ticket braucht, um Sylt heimzusuchen. So schlecht verdienen sie in den linken Kreisen nun auch nicht, dass man für eine Reise an die Nordsee auf verbilligte Bahnfahrten angewiesen wäre. Selbst bei der Antifa, die geregelte Beschäftigung nur dem Wort nach kennt, kommen die meisten mit staatlichen Subsidien und etwas Schwarzarbeit gut über die Runden.

Mit dem Bummelzug kam man auch bislang schon relativ günstig nach Sylt

Außerdem sind Schnellverbindungen beim Billigticket ausgeschlossen. Und mit dem Bummelzug kam man auch bislang schon relativ günstig nach Sylt. Dennoch ist in der „Süddeutschen Zeitung“ bereits ein Nachruf auf die Insel erschienen, eine melancholische Rückschau auf Uwe-Düne und Rotes Kliff, bevor der Mob alles niedertrampelt.

Ich habe die Sylt-Begeisterung nie teilen können. Manche sagen: Sylt sei so etwas wie die Hamptons von Deutschland. Der Vergleich stimmt – in dem Sinne, wie Bottrop das Paris des Ruhrpotts ist oder Chemnitz das Shanghai Ostdeutschlands.

Ich habe vier Jahre lang in New York gelebt, also gleich um die Ecke der Hamptons. Ich war beeindruckt, wie zurückgenommen und Low-key ein Ort sein kann, der sich als Rückzugsgebiet gestresster Wall-Street-Banker einen Namen gemacht hat. Auf Sylt ist es genau umgekehrt: Man wird aufs Geld gestoßen, wo man hinschaut.

Weil die Bauvorschriften kaum Neubauten zulassen, sehen die Reetdächer über den Butzenscheiben so aus, als sei jeder Halm einzeln gerupft, gezupft und gestriegelt worden. Ich glaube, wenn sie könnten, würden sie für den Ferrari auch noch eine unterirdische Reetdachgarage bauen. Und für den Hund ein Reetdachkuschelzimmer. Wobei, wer weiß, vielleicht gibt es das ja längst.

Sylt ist so lässig wie eine 60-Jährige, die partout wie 40 aussehen will. Zu viel Chirurgie, zu viel Filler, zu viel Anstrengung. Eigentlich ein Wunder, dass die Insel bei den Russen nicht beliebter war, als die noch reisen konnten. Ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass man im Watt nur bedingt mit einer Megajacht navigieren kann.

Es hat seinen Grund, weshalb überall Strandkörbe herumstehen

Wettermäßig sollte man nicht zu viel erwarten. Man kann Glück haben, dann scheint die Sonne. Aber es hat seinen Grund, weshalb überall Strandkörbe herumstehen, die einen vor den Launen der Witterung schützen. Als ich dort war, war es Mai und lausig kalt. Dafür schwärmten sie unentwegt von der Champagnerluft, die Sylt angeblich so einzigartig macht.

Dieses zwanghafte Gutfinden drückt sich auch kulinarisch aus. An der berühmten „Sansibar“ ist vor allem bemerkenswert, dass man monatelang im Voraus buchen muss, um einen Platz zu ergattern. Der andere Großgastronom ist der Fischhändler Gosch. Dass man es mit pappigen Aufbackbrötchen, in die man ein paar zu Tode gesottene Scampi gequetscht hat, zum Inbegriff der Küstengastronomie bringen kann, ist zweifellos bewundernswert. Mit Küche hat das allerdings nichts zu tun.

Sylt ist der Beweis, dass Geld und guter Geschmack nicht notwendigerweise Hand in Hand gehen. Es gab andere Zeiten, als die kulturelle High Society aus Hamburg die Insel als Sommerfrische entdeckte – Augstein, Nannen, der große Fritz J. Raddatz. Für ein paar Jahre mischte sich sogar Gunter Sachs mit seiner Entourage unters Partyvolk. Aber das ist lange her.

Sylt ist der ideale Ort für Menschen, die an Zwangsstörungen leiden

Heute ist Sylt fest in der Hand der Zahnarztmillionärin aus Wuppertal oder Wanne-Eickel, die es für wahnsinnig fancy hält, wenn man sich eine Sauna zum Glätten der Kaschmirpullover einbauen lässt und die das auch allen auf die Nase bindet. Kurz: Es ist der ideale Ort für Menschen, die an Zwangsstörungen leiden. Sie fühlen sich nicht so alleine.

Was uns zu der Frage bringt, ob reiche Menschen die glücklicheren Menschen sind. Die meisten vermuten automatisch, dass Geld die Stimmung hebt, daher auch der Neid, den Reichtum bei den weniger Begüterten auslöst. Dass Geld glücklich macht, stimmt, allerdings nur zu einem gewissen Grade. Wenn man aller Geldsorgen enthoben ist, steigert das zunächst nachweisbar das Wohlbefinden. Danach aber beginnt ein Reichsein, bei dem es faktisch egal ist, ob man nun zehn Millionen oder zehn Milliarden besitzt.

Der Mensch vergleicht sich mit anderen, das liegt in seinem Wesen. Es gibt immer einen, dessen Haus größer, dessen Jacht länger und dessen Auto schneller ist. Nicht einmal Elon Musk ist davon frei. Im Zweifel hat Jeff Bezos gerade die fettere Schlagzeile und Bill Gates die wohlwollenderen Kritiken.
Am Anfang sei Jetset-Leben ganz lustig gewesen, sagte Gloria von Thurn und Taxis

Die wirklich reichen Leuten sind ohnehin nicht auf Sylt. Wer so viel Geld besitzt, dass es für mehrere Leben reicht, hat es in der Regel nicht nötig, damit anzugeben. Außerdem sind viele Megareiche nicht für den Müßiggang gemacht, deshalb sind sie ja so reich. Im „Spiegel“ habe ich ein Porträt des Unternehmers Klaus-Michael Kühne gelesen, der es mit Logistik zu einem der reichsten Männer Deutschlands gebracht hat. Der Mann ist 85 Jahre alt, aber bis heute beginnt der Tag um sechs Uhr morgens. Es folgen Sitzungen, Telefonate, ein endloser Strom von Mails. Ich bezweifle, dass einer wie Kühne noch einen Fuß nach Sylt setzt. Ihm wäre es dort zu fad.

Der eigentliche Reiz von Sylt sei, dass man unter sich sei, sagt der Makler Eric Weißmann. Das leuchtet ein. Über die Probleme mit dem Parken des Bootes spricht es sich einfacher mit Menschen, die ebenfalls darunter leiden, dass die Liegeplätze so knapp geworden sind. Andererseits stelle ich es mir grauenhaft langweilig vor, immer dieselben Gespräche führen zu müssen.

Ich habe einmal mit Gloria von Thurn und Taxis über ihr früheres Jetset-Leben gesprochen. Am Anfang sei es ganz lustig gewesen, sagte sie. Aber dann habe es ihr furchtbar zum Hals herausgehangen: immer die gleichen Orte, immer die gleichen Gesichter, immer die gleichen Themen. Weshalb sie sich bald ausklinkte und ihr Leben fortan der Familie und der Sicherung des Unternehmens widmete.

Der kurioseste Aspekt am Sylt-Erstürmungsaufruf der Neun-Euro-Aktivisten ist sicher, dass hier Leute über andere die Nase rümpfen, die in ihrer Welt mindestens genauso penibel darauf achten, dass man schön unter sich bleibt. Hier reicht schon die falsche Haartracht und man ist raus.

Schon deshalb wäre ich für einen Sturm auf Sylt. Das könnte lehrreich für beide Seiten sein. Der Kontakt mit fremden Kulturen soll einem ja manchmal die Augen öffnen.




Freitag, 3. Juni 2022

Sei doch einfach mal bockig...

von Mirjam Lübke...

Die "Beleidigungsschwelle" ist mittlerweile bei der Regenbogen-Community und den Wokoharam so tief angesetzt, darunter könnte selbst eine Ameise nicht mehr Limbo tanzen. Selbst, wenn sie sich ganz tief duckt. Der neueste Coup wird gerade in den sozialen Medien verbreitet: "Menstruierende", man bezeichnete sie bis vor kurzem noch als "Frauen", sollen auf das Gebären von Nachwuchs verzichten. Trans-Frauen könnten sich sonst zurückgesetzt fühlen, weil ihnen dieses Glück versagt bleibt. Natürlich werden wir deshalb gern den Fortbestand der Menschheit aufs Spiel setzen, wir wollen schließlich niemanden kränken. In anderen Ländern der Welt würde man über ein solches Ansinnen in schallendes Lachen ausbrechen, aber in Deutschland wird das Thema durchaus ernst genommen - wir sind gerade dabei, die USA als Mekka der politischen Korrektheit links zu überholen. 


In Flensburg musste sich jüngst ein Karikaturist für eine Zeichnung entschuldigen, welche eine bei der "Tafel" anstehende Menschenmenge zeigt, während im Hintergrund die Regenbogen-Flagge zu sehen ist. Obwohl diese Menschenschlangen vor der Essensausgabe längst bittere Realität sind. Schon lange vor der Ukraine-Krise waren die "Tafeln" gut besucht, vor allem zum Monatsende hin. 

Bei etwa 8 Prozent Inflation, deren Folgen wir bei jedem Einkauf zu spüren bekommen, wird sich diese Situation eher noch verschlimmern. Ein knallhartes Problem, das vor allem Normal- und Geringverdiener trifft. Die Inflation fragt nicht danach, ob jemand gern lieber eine Frau sein, seinen Teddybären heiraten oder als divers anerkannt werden möchte, sie fragt auch nicht nach Hautfarbe oder Religion, sie reißt ganz gleichberechtigt allen ein Loch ins Portemonnaie. 

Es gibt also nichts, wofür sich der Zeichner schämen müsste. Er hat lediglich darauf hingewiesen, dass im Rummel um Diversität oft das ganz Alltägliche unter die politischen Räder kommt. Ich weiß nicht, ob ich es gewagt hätte, an seiner Stelle eine saftige Entgegnung rauszuhauen - der Mann ist wahrscheinlich auf den Job angewiesen - aber wenn mir der Kragen geplatzt wäre, hätte es wohl so geklungen: "Jetzt passt mal auf, ihr Luschen: Es gibt Leute in Deutschland, die haben echte Probleme, etwa weil am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig ist. Vielleicht wissen sie nicht, wie sie sich ihre Miete noch weiter leisten können, obwohl sie die ganze Woche dafür schuften. Also geht ins Nagelstudio und heult leise!" 

Das wird der Mann natürlich nicht tun, denn heute wird sich kaum noch eine Redaktion solidarisch mit ihm erklären, weil die Kollegen wahrscheinlich selbst Angst um ihre Arbeitsplätze haben, sollten aufgrund der Karikatur erste Boykott-Aufrufe gegen die Zeitung erscheinen. Dabei wäre es nötiger denn je, eine deutliche Ansage in Richtung der Gender-Ideologen zu machen: Werdet erwachsen und lernt, wie man debattiert! 

Denn es hat sich längst etabliert, den Gegner einfach durch Lautstärke zu überrollen. Dabei verhält es sich wie mit einem Kollegen, dem man ständig erlaubt, seine cholerischen Anfälle bei einem auszutoben. Irgendwann betrachtet er das als selbstverständlich, und es wird schwierig, jetzt noch Boden zurückzugewinnen. Genauso ist es mit diesen Aktivisten: Sie bekommen kaum Gegenwind - zumindest nicht von der Mehrheit - und müssen einfach nur ein paar lautstarke Freunde zusammentrommeln, um zu erreichen, was sie wollen. Mag die Kritik an ihnen noch so harmlos und berechtigt sein - in diesem Fall ging es nur darum, aufzuzeigen, dass die Not an anderer Stelle groß ist - sie wird mit der Dampfwalze niedergemacht. 

Wahrscheinlich können viele Bürger den Hype um die kunterbunte Gendertruppe nicht mehr nachvollziehen. Der gestandene Niederrheiner würde ihnen dringend raten, ihm mit dem "Driss" nicht auf die Pelle zu rücken: "Macht, was ihr wollt, aber lasst mich in Ruhe damit! Leben und leben lassen!" Aber je offenkundiger es wird, welcher unwissenschaftlicher Unfug hinter der Ideologie von den unzähligen Geschlechtern steckt, desto rabiater wird sie verteidigt. Es geht längst nicht mehr um Akzeptanz, sondern um eine allein seligmachende Wahrheit. 

Nachdem selbst die Religionen diesen Status eingebüßt haben - außer einer, die ebenso rabiates Marketing betreibt wie die Gender-Community - musste wohl etwas her, was diese Lücke füllt. Das kann im Grunde jede totalitär geprägte Ideologie sein, aber diese ist so gefährlich, weil sie sich unter dem Deckmantel der Toleranz tarnt, aber in Wirklichkeit jeden "Andersgläubigen" zum Schweigen bringt. Allerdings kann ich auch morgen behaupten, die Schwerkraft gelte nicht für mich, das ändert nichts daran, dass sie dennoch existiert. So lange es mir nicht gelingt zu schweben, werde ich wohl damit leben müssen, dass andere Menschen mir sagen, dass ich Unfug rede.