Die „Spiegel“-Redaktion will jetzt klären, wie einst eine Falschaussage zur Grundlage einer Story über die angebliche Hinrichtung eines Terroristen werden konnte.
Ob er denn mit der Person noch heute Kontakt habe? Oder ob sie womöglich schon verstorben sei? Darauf werde er nicht antworten, sagt Hans Leyendecker. Die Person sei einst eine Quelle von ihm gewesen, erklärt der heute 70-jährige Journalist. Er habe damals den Aussagen dieser Quelle vertraut. Das sei ein Fehler gewesen. Dafür habe er sich immer wieder entschuldigt. Mehr habe er dazu nicht zu sagen. Seine Quelle werde er jedenfalls niemals verraten.
Leyendecker, über viele Jahre ein Reporter des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, war verantwortlich für eine Titelstory jener Zeitschrift, die vor über 26 Jahren, im Sommer des Jahres 1993, die Republik erbeben ließ und die jetzt den „Spiegel“ zu erschüttern droht. Dass die damalige Story vergiftet war mit Fehlern und Verdrehungen, steht längst fest. Sollte sich jetzt aber herausstellen, dass auch Leyendeckers Erklärungen zur Entstehung der Story falsch sind, dass sie die Wahrheit vernebeln, so wäre dies für den „Spiegel“ eine Katastrophe. Und nach FOCUS-Recherchen erinnern sich frühere „Spiegel“-Mitarbeiter in entscheidenden Punkten anders an die Hintergründe des desaströsen Artikels als der damals verantwortliche Reporter.
Zwei falsche Zeugen bringen die Republik ins Wanken
Ein internes Gremium journalistischer Gutachter untersucht gerade im Auftrag des „Spiegel“ jene Leyendecker-Recherche, die der Titelgeschichte „Der Todesschuß“ die Richtung und Durchschlagskraft verliehen hatte. Die Story löste sofort eine bundesweite Hysterie aus. Der Staat schien als Verbrecherorganisation entlarvt. Polizisten galten als Killer, Politiker als Vertuscher eines Mordes.
Das „Spiegel“-Heft, das diesen unerträglichen Skandal zu enthüllen vorgab, war am Montag, dem 5. Juli 1993, erschienen. Neun Tage zuvor, am Sonntag, dem 27. Juni, hatte eine Polizeiaktion auf dem Bahnhof von Bad Kleinen am nördlichen Ufer des Schweriner Sees stattgefunden. Ein Kommando der Eliteeinheit GSG 9 hatte Birgit Hogefeld, eine Terroristin der Roten Armee Fraktion (RAF), verhaftet. Ein GSG-9-Mann, Michael Newrzella, und ein weiterer RAF-Terrorist, Wolfgang Grams, waren bei dem Einsatz ums Leben gekommen.
Der genaue Ablauf des blutigen Geschehens blieb zunächst unklar, auch weil beteiligte Behörden eine entscheidende Information zurückhielten: Ein V-Mann hatte
die Polizei auf die Fährte der RAF-Killer gebracht – und diesen Spitzel, Klaus Steinmetz, hatten die Terrorfahnder in Bad Kleinen zum Schein verhaftet, dann aber wieder freigelassen.
„Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution“
In jener verwirrenden Phase fehlender und fehlerhafter Informationen erlangten zwei Meldungen eine enorme Wucht. Das
WDR-Magazin „Monitor“ präsentierte am Donnerstag, dem 1.Juli, die eidesstattliche Aussage von Joanna B., der Betreiberin des Bahnhofskiosks von Bad Kleinen. Demnach hatten zwei GSG-9-Beamte den bereits wehrlos auf den Gleisen liegenden Grams aus „nächster Nähe“ mit mehreren Schüssen – unter anderem in den Kopf – getötet. Zwei Tage nach der „Monitor“-Meldung, am Samstag, dem 3. Juli, brachten die Nachrichtenagenturen die Enthüllung des „Spiegel“.
Leyendecker zitierte in seiner Story einen anonymen Polizeibeamten, der bei der Aktion in Bad Kleinen angeblich beteiligt gewesen war und behauptete, die entscheidenden Sekunden des Zugriffs gesehen zu haben. Dem „Spiegel“-Zeugen zufolge hatten sich zwei GSG-9-Männer über den verletzten Terroristen gebeugt, der auf den Gleisen lag und seine Waffe bereits verloren hatte. Einer der beiden Polizisten habe den wehr- und reglosen Terroristen schließlich mit seiner Dienstwaffe in den Kopf geschossen. „Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution“, so das Urteil des „Spiegel“-Zeugen.
Sogar der Innenminister trat zurück
Wenn der Zeuge die Wahrheit sprach, hatte der Rechtsstaat in Bad Kleinen auf schreckliche Weise versagt und sich wie die Mafia eines Gegners entledigt. Nur einen Tag nach Veröffentlichung der „Spiegel“-Meldung, am Sonntag, dem 4. Juli, trat Bundesinnenminister Rudolf Seiters zurück, zwei Tage später versetzte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger den Generalbundesanwalt Alexander von Stahl in den Ruhestand.
Die „Spiegel“-Story besaß eine Kraft, die man fantastisch nennen kann – oder fatal. Leyendecker zerstörte mit seinem Artikel die Karrieren etlicher hoher Beamter, und er setzte über Wochen das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat außer Kraft. Erst als das Beben nachließ, zeigte sich: Den schwersten Schaden hatte der Journalismus erlitten.
Der Killer tötete sich selbst
Denn in Bad Kleinen hatte nicht der Staat versagt. Journalisten hatten die Wahrheit verfälscht. Fahrlässig. Und vorsätzlich. Die „Monitor“-Zeugin B. etwa hatte, wie sich schon sehr bald herausstellte, überhaupt nichts eindeutig gesehen. Schon gar keine Polizisten, die Grams niederstreckten. Die TV-Reporter hatten die eidesstattliche Erklärung einfach selbst formuliert – und als B. einwandte, sie könne den Kopfschuss nicht bestätigen, beruhigte sie einer der Reporter. Es hätte doch so sein können. B. unterschrieb die Erklärung und erhielt für ihre Lüge 250 Mark zur Belohnung.
Auch die Aussage des anonymen „Spiegel“-Zeugen löste sich schon bald in Luft auf. Sie bestand beinahe nur aus Details, die mit dem objektiven Spurenbild nicht zusammenpassten. Grams, der zuvor den Polizisten Newrzella tödlich getroffen hatte, schoss sich mit seiner eigenen Waffe in den Kopf – zu diesem eindeutigen Ergebnis kamen zwei unabhängige Gerichtsmediziner, zwei staatsanwaltliche Untersuchungen, vier Gerichtsentscheidungen und ein Bericht der Bundesregierung.
Keine einzige Spur, keine einzige wirkliche Aussage widerspricht diesem Befund. Der Tod des Terroristen Grams ist so intensiv und so restlos aufgearbeitet wie kaum ein anderer Kriminalfall in der Geschichte der Bundesrepublik. Raum für Mythen oder irgendwelche Verschwörungstheorien gibt es nicht.
Der mysteriöse „Mittelsmann“
Nur eine einzige Frage bleibt bis heute offen: Wie konnten die falschen Aussagen des „Spiegel“-Zeugen in das Blatt gelangen und so die Nation über Wochen zum Narren halten? Der Reporter Leyendecker äußerte selbst etwa drei Wochen nach der Veröffentlichung seiner Story erstmals „Zweifel“ an seinem angeblichen Konfidenten – und damit wenige Tage vor der geplanten Veröffentlichung des Zwischenberichts der Bundesregierung, in dem die Aussagen seines Zeugen als objektiv bedeutungslos beurteilt wurden.
Zum Ablauf seiner Recherche erzählt Leyendecker seither folgende Geschichte: Er habe in den Tagen nach Bad Kleinen einen „Mittelsmann“ angerufen, den er seit vielen Jahren kenne. Dieser Vertraute habe ihm eine Person vermittelt, die bei der Aktion selbst dabei gewesen sei. Er, Leyendecker, habe sich vor der Veröffentlichung seiner Story mit diesem Beamten getroffen. Er habe die Identität des Mannes geprüft – ebenso wie dessen Behauptung, er sei in Bad Kleinen zugegen gewesen.
Aussagen ohne Beweiswert
Die Botschaft dieser Chronologie ist klar: Der Reporter nimmt für sich in Anspruch, den Informanten und seine Geschichte, so gut es eben ging, „abgeklopft“ zu haben. Die Plausibilität von Leyendeckers Angaben wurde allerdings immer wieder bezweifelt. Wenn der Reporter so intensiv mit dem Informanten gesprochen hatte, warum fand sich dann in dem „Spiegel“-Beitrag keine einzige Aussage des Tippgebers, die den wirklichen Schusswechsel in Bad Kleinen wiedergab? Wie konnte es nach einem angeblich so gründlichen Vorgespräch dem Reporter entgangen sein, dass der angebliche Zeuge zwei Situationen – die Festnahme Hogefelds und den Tod von Wolfgang Grams – beschrieb, die er unmöglich zeitgleich gesehen haben konnte?
Das Oberlandesgericht Rostock, das den Tod des Terroristen 1996 untersuchte, stellte fest, der Reporter Leyendecker, der auch selbst als Zeuge verhört wurde, habe nicht darlegen können, wie er die Aussagen seines Informanten geprüft haben will. Der Journalist habe auch nicht belegen können, dass er den Zeugen überhaupt getroffen hatte. Den Aussagen des „Spiegel“-Informanten fehle jeglicher Beweiswert.
Der Zeuge, den es nicht gab
Hat Leyendecker, so wie es das Gericht nahelegt, eine seriöse Recherche also nur nachträglich behauptet? Frühere „Spiegel“-Kollegen, die damals mit Leyendecker zusammenarbeiteten, erzählen jedenfalls gegenüber FOCUS erstmals einen Ablauf der Bad-Kleinen-Recherche, der in entscheidenden Punkten von den Angaben Leyendeckers abweicht. Demnach gab es keinen „Mittelsmann“, der den Reporter mit dem Zeugen in Kontakt brachte.
Der Mittelsmann selbst, jener Gesprächspartner, den Leyendecker seit vielen Jahren kannte, soll der „Spiegel“-Zeuge gewesen sein. Leyendecker habe seinen Vertrauten wenige Tage nach Bad Kleinen angerufen – und dieser alte Bekannte habe über die angebliche Exekution von Grams geplaudert. Das sei alles gewesen. Die Überzeugung des Informanten, Grams sei erschossen worden, habe für Leyendecker einfach ins Bild gepasst.
Wenige Tage nach Veröffentlichung der Titelstory „Der Todesschuß“, so berichten die früheren Kollegen, habe Leyendecker allerdings begriffen, dass auf die Aussage seines erprobten Informanten in diesem Fall kein Verlass war. Der Reporter soll sich zu einem Treffen mit dem Vertrauten verabredet haben. Dieser habe nun sofort eingestanden, dass er selbst nicht in Bad Kleinen gewesen sei – und dass er sich nur auf Gerüchte und Hörensagen bezogen habe.
Gegen die Wahrheit, für die Legende
Wenn dieser Ablauf stimmt, wusste Leyendecker also bereits wenige Tage nach seiner Bad-Kleinen-Story, dass er sich auf einen Zeugen verlassen hatte, der kein Zeuge war. Er hätte dies sofort klarmachen können. Er hätte mitteilen können, dass der Polizist, der sich ihm gegenüber angeblich „aus Seelennot“ offenbart hatte, in Wahrheit nichts wusste. Er hätte – ohne die Anonymität seines Informanten zu gefährden – deutlich sagen können, dass seine Story ein Missverständnis war, eine Schlamperei, ein furchtbarer Fehler, ein törichtes Märchen.
Er tat es nicht. Wenn sich die früheren „Spiegel“-Kollegen richtig erinnern, scheint Leyendecker diesen Ausweg nicht mehr gesehen zu haben. Bereits zwei Tage bevor die Story „Der Todesschuß“ erschien, hatte er sich in
der ARD-Nachrichtensendung „Tagesthemen“ vor einem Millionenpublikum festgelegt.
Sein Zeuge, so Leyendecker damals, sage mit „großer Wahrscheinlichkeit“ die Wahrheit.
Nach den Rücktritten des Innenministers und des Generalbundesanwalts wäre ein öffentliches und deutliches Bekenntnis zu eigenen Fehlern zwar immer noch möglich und wichtig, aber wohl auch sehr schwer gewesen.
„Windige“ Recherche
Leyendecker aber rückte nie von der Behauptung ab, sein Informant (der ja in Wahrheit ein Desinformant war) sei tatsächlich in Bad Kleinen dabei gewesen. Auch gegenüber FOCUS blieb er dabei: Sein Gesprächspartner sei bei der Polizeiaktion vor Ort gewesen. Und: „Nein“, der Mittelsmann sei nicht der Zeuge gewesen.
Kritische Fragen, die schon bald innerhalb der Redaktion gestellt wurden, soll Leyendecker stets abgeblockt haben. Wer etwas über seinen Informanten wissen wolle, so soll sich Leyendecker gewehrt haben, beschädige die „innere Pressefreiheit“ des „Spiegel“. In Wahrheit, so kritisierte bereits vor sieben Jahren Stefan Aust, der von 1994 bis 2008 Chefredakteur des „Spiegel“ war, habe die Bad-Kleinen-Story des Hamburger Magazins die Glaubwürdigkeit von Journalisten auf verheerende Weise „erschüttert“. Die damalige Recherche sei „windig“ gewesen, so Aust. Dennoch habe die „falsche Geschichte“ dem für sie verantwortlichen Reporter nie geschadet. Leyendecker gelte noch immer als „Verkörperung des investigativen Journalismus“.
Darüber wird jetzt neu geurteilt. 26 Jahre nach seiner wohl schwerwiegendsten journalistischen Fehlleistung bemüht sich der „Spiegel“ um Aufklärung in eigener Sache. Jene interne Kommission, die vor einem Jahr damit begann, den Skandal um den Reporter Claas Relotius aufzuklären, der etliche gefälschte und erfundene Geschichten in dem Blatt unterbrachte, soll nun Licht in das Bad-Kleinen-Fiasko bringen.
Mysteriöses Protokoll eines Anrufs
Und die Hausdetektive sind fündig geworden. Laut „Welt am Sonntag“ (WamS) liegt den „Spiegel“-Gutachtern die Abschrift einer Tonbandaufnahme vor. Das Dokument protokolliert ein Telefongespräch, das Leyendecker wenige Tage nach der Polizeiaktion und noch vor dem Verfassen der Story mit einem Mann führte, der behauptete, er sei in Bad Kleinen dabei gewesen und könne die Tötung von Grams bezeugen.
Leyendecker bestätigt diesen Anruf. Er habe diesen Telefonzeugen damals nicht erwähnt, weil er für ihn „keine Rolle“ gespielt habe. Mit der Aufnahme des Gesprächs sei der damalige Anrufer einverstanden gewesen. Während das Tonband lief, habe der seinen Namen nicht genannt. Ob dieser Anrufer identisch ist mit seinem Zeugen? Leyendecker: „Nein.“
Lüge oder fataler Fehler?
Auffällig aber: Die Worte des anonymen Anrufers und des „Spiegel“-Zeugen, so wie sie sich in dem fraglichen Artikel finden, ähneln sich. Angenommen, die beiden ominösen Tippgeber sind nicht ein und dieselbe Person: Hatte Leyendecker seinem Zeugen, dessen Aussage ja eine enorme Bedeutung für ihn besaß, die Worte eines anderen in den Mund gelegt?
Und wie wäre dies zu bewerten? Als Nachlässigkeit? Als Manipulation? Für die hausinternen „Spiegel“-Gutachter steht das Gesprächsprotokoll jedenfalls im Zentrum ihrer Ermittlungen. War dieser Anruf womöglich doch die wahre Grundlage der Bad-Kleinen-Story? Und: Wo ist das Tonband? Wurde es zerstört?
Leyendecker selbst sieht sich nicht unter Fälschungsverdacht. Zwischen ihm und dem Lügner Relotius gebe es keinerlei Wesensähnlichkeit. In dem einen Fall, so Leyendecker, gehe es um Betrug. Bei ihm um einen „fatalen Fehler“ und um den Schutz seiner Quelle.
Vielleicht auch nur um den Schutz einer Legende.