von Thomas Heck...
Mich erstaunt immer noch, dass die größten und radikalsten Feministen zu Hause in der Nachttischschublade in der Regel auch die größten und dicksten Gummipimmel liegen haben, was schon allein deswegen erstaunlich ist, da das Geschlecht doch angeblich nur ein soziales Konstrukt ist...
Gedanken zum Weltfrauentag in der taz...
Ich stehe im dm und staune. In einem der Mittelgänge des Drogeriemarktes, hinten links in der Abteilung „Gesundheit“, liegen sie zum Verkauf, zwischen Kondomen, Gleitgel und Wundpflastern: Vibratoren in drei verschiedenen Formen, Farben und Preisklassen zwischen 25 und 70 Euro. Sexshop im Drugstore?!
Adieu, Diskretion und Anonymität des Onlinekaufs. Zugegebenermaßen fühle ich mich etwas unbehaglich und leider längst nicht so selbstbewusst, wie ich es von mir erwartet hätte. Ich muss an früher denken, als es sogar peinlich war, Klopapier oder Tampons aufs Kassenband zu legen – und muss unwillkürlich schmunzeln.
Mit verstohlenen Blicken nach links und rechts greife ich nach dem Modell in Türkis, u-förmig gebogen. Es verspricht „Spaß am Liebesleben – farbenfroh, natürlich und selbstbewusst“. Ein Sextoy, dass die selbstbestimmte Lust ins Zentrum stellt, liegt hier für alle sichtbar im Regal und thematisiert somit öffentlich den (weiblichen) Orgasmus. Bereits seit 2017 hat dm die Vibratoren im Angebot, was so wenige Wellen geschlagen hat, dass viele Kund*innen es bis heute nicht wissen.
Während sich Beate Uhse nach der Eröffnung ihres ersten Sexshops 1962 in Flensburg mehrfach vor Gericht verantworten musste, ist der Verkauf von Sextoys heute offenbar so normal, dass mir meine Scham peinlicher ist, als mit den Dingern im Laden zu stehen. Der zweite Vibrator, nach dem ich greife, ist pink, sieht ein bisschen aus wie ein kleiner Hockeyschläger und verspricht „bei jedem Solo eine Punktlandung“.
Ich besitze selbst seit Jahren einen und bestätige gern, (G-)Punktlandung hin oder her, er hat mein Sexleben revolutioniert. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Rabbit-Vibrator in dunklem Lila. Er besteht aus geschmeidigem Silikon, lässt sich vorheizen und verfügt über sage und schreibe zehn verschiedene Vibrationsprogramme.
Farbenfrohes Design
Wobei ich bei meiner Recherche feststellen muss, dass das nahezu lächerlich wenig ist: Die neuesten Teile warten sogar mit dreißig Vibrationsprogrammen auf. Und wie ich da so stehe und die farbenfrohen Designs betrachte, frage ich mich, wem ich das eigentlich zu verdanken habe. Wer hat wann und warum den Vibrator erfunden? War es Beate Uhse selbst? Oder doch die Porno-Industrie?
Ich beginne zu recherchieren. Die Geschichte, die ich dabei zutage befördere, ist so absurd, dass ich sie fast nicht glauben kann – aber wahr.
Der Vibrator wurde in den 1880er Jahren vom britischen Arzt Joseph Mortimer Granville als medizinisches Gerät erfunden. Zu dem Zeitpunkt hatte er rein gar nichts mit sexueller Befriedigung zu tun, sondern diente der Behandlung der sogenannten Hysterie.
Bis in die 1920er Jahre wurden Genitalmassagen zur Therapie der Hysterie verschrieben
Die Vorstellung von Hysterie als Krankheit reicht bis in die Antike zurück. Bereits Platon vertrat die Annahme, dass Hysterie ein schwerwiegendes, vornehmlich weibliches Leiden sei, von dem insbesondere unverheiratete, kinderlose Frauen heimgesucht wurden.
Zu den Symptomen zählten Schlaflosigkeit, Angstzustände, Nervosität, Völlegefühl, aber auch erotische Fantasien und vaginale Feuchtigkeit. Das Wort Hysterie leitet sich ab von hystera, altgriechisch für Gebärmutter. Der Uterus wurde als Quelle dieser „Krankheit“ angesehen, die dann ausbrach – so die Vorstellung –, wenn die Gebärmutter ihren Zweck nicht erfüllen konnte, der da lautete: den Samen eines Mannes empfangen und Kinder austragen. Bis ins 18. Jahrhundert gingen Wissenschaftler (und mit hoher Wahrscheinlichkeit waren es tatsächlich nur Wissenschaftler) davon aus, dass dies zu organischen Schäden an der Gebärmutter führte. Im Viktorianischen Zeitalter setzte sich dann die Annahme durch, dass die Ursache für Hysterie psychischer Natur sein musste, aber ebenfalls auf sexuelle Dysfunktionen der betreffenden Frauen zurückzuführen sei.
Genitalmassagen als Therapie
Sexuelle Dysfunktion meint in dem Fall, dass eine Frau durch Koitus und Penetration durch den Penis eines Mannes keine Befriedigung erfuhr. Es wurde nicht in Erwägung gezogen, dass Penetration allein womöglich der falsche Weg sein könnte, um Frauen sexuell zu befriedigen. Stattdessen wurden Frauen als frigide, unreif und krank erklärt. Nicht wenige von ihnen begaben sich aufgrund dessen in therapeutische Behandlung. Bis in die 1920er Jahre wurden Genitalmassagen zur Therapie der Hysterie verschrieben. Eine „erfolgreiche Behandlung“ mündete in eruptiven Unterleibskrämpfen und Muskelspasmen der „leidenden Frau“.
Sobald sich die „Patientin“ vom Kontrollverlust erholt hatte, ließ sich eine unmittelbare Verbesserung ihres Gemütszustands feststellen – die Frauen fühlten sich ausgeglichener, ruhiger und zugleich euphorisch. Wie wir heute glücklicherweise wissen, handelt es sich hierbei schlicht um die nüchterne Beschreibung eines weiblichen Orgasmus, der rein gar nichts Pathologisches an sich hat.
Dieses Beispiel zeigt, welche Auswüchse das zwanghafte Festhalten an klassischen Geschlechterrollen hatte und haben kann. So wurde insbesondere bei solchen Frauen Hysterie diagnostiziert, die nicht den normierten, gesellschaftlichen Konventionen entsprachen, sei es, weil sie unverheiratet blieben, weil sie aufmüpfiges Verhalten an den Tag legten oder sexuell selbstbestimmt leben wollten.
Es ist also kein Zufall, dass Ende des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der Frauen begannen sich aufzulehnen und gegen ihre untergeordnete Rolle zu rebellieren, fast drei Viertel der weiblichen Bevölkerung als „hysterisch“ galt.
Fast schon eine Pandemie
Es war die Rede von einer regelrechten Pandemie. Die Genitalmassage wurde von damaligen Ärzten nicht etwa als erotische, sexuell stimulierende Erfahrung erlebt, sondern als komplizierte, lästige und langwierige Aufgabe. Eine Sitzung konnte mehrerer Stunden dauern!
Abhilfe schaffte schließlich das elektromechanische Gerät des besagten Joseph Mortimer Granville, das mittels Vibrationen die beschriebenen „Krämpfe“ in wenigen Minuten auszulösen vermochte. Aus heutiger Sicht mag das absurd klingen, und man will vielleicht schmunzelnd den Kopf schütteln. Das Ganze war jedoch alles andere als lachhaft: In „besonders schweren Fällen der Hysterie“ wurde Frauen die Klitoris oder sogar die Gebärmutter vollständig entfernt, was nichts anderes ist als medizinisch verordnete Genitalverstümmelung.
Ob organisch oder psychisch begründet, Hysterie als vornehmlich weibliche Krankheit gilt als die älteste psychische Störung, die hartnäckig über Jahrtausende im medizinischen Diskurs kursierte: Erst 1980 wurde Hysterie aus dem Diagnosehandbuch für Psychische Störungen (DSM), dem internationalen Standardwerk zur Klassifikation psychischer Erkrankungen, gestrichen.
Gedankenverloren streiche ich über die weiche Oberfläche meines lila Vibrators, der tatsächlich mehr ist als das aktuell beliebteste Sexspielzeug in Deutschland. Er ist ein kulturhistorisches Artefakt