Die Euro-Katastrophe ist abgewendet? Mitnichten! Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin legt schonungslos offen, wie die heimlichen Geldpipelines von Deutschland in den Süden funktionieren, was er an Angela Merkel zu kritisieren hat und wie man Flüchtlingen helfen sollte.
FOCUS-MONEY: Herr Sarrazin, Sie sind immer noch SPD-Mitglied. Haben Sie für oder gegen die GroKo gestimmt?
Thilo Sarrazin: Ich habe dagegen gestimmt.
MONEY: Warum?
Sarrazin: Weil ich es falsch finde, wenn Frau Merkel weitere vier Jahre regiert.
MONEY: Könnten Sie folgenden Satz vervollständigen? Angela Merkel ist für mich ...
Sarrazin: ... der Inbegriff des Unheils für Deutschland.
dpa...
MONEY: Starker Tobak!
Sarrazin: Sie haben es ja herausgefordert, und natürlich ist die Aussage sehr zugespitzt.
MONEY: Sie haben die Bundeskanzlerin mehrfach hart kritisiert. Was macht sie aus Ihrer Sicht falsch?
Sarrazin: Lassen Sie mich fünf Dinge aufzählen. Erstens: die völlig verfehlte Energiewende mit dem überstürzten Ausstieg aus der Kernkraft. Zweitens: eine falsche Euro-Politik, die dazu führt, dass die EU immer stärker gefährdet ist.
MONEY: Woran machen Sie das fest?
Sarrazin: Ganze Staaten wenden sich ja von ihr ab, zum Beispiel die Briten mit dem Brexit. Das sieht man ja auch am Wahlausgang in Italien.
MONEY: Was ist Merkels dritte Verfehlung?
Sarrazin: Ihre Einwanderungspolitik. Wir haben ja mittlerweile eine mehrere Millionen Menschen starke Gruppe in unserem Land, die sehr stark wächst, sich aber nicht sehr gut integriert.
MONEY: Viertens?
Sarrazin: Die Untätigkeit der Kanzlerin in der Sozialpolitik, da ist seit dem Jahr 2005 im Prinzip gar nichts geschehen. Und fünftens: die Abgabenpolitik! Viele Bürger müssen bis zu 50 Prozent an den Staat abgeben, was nicht in Ordnung ist.
MONEY: Aber immerhin steht die schwarze Null.
Sarrazin: Die momentanen Haushaltsüberschüsse erzielen wir im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen muss die Bundesrepublik für Schulden so gut wie keine Zinsen bezahlen, und zum anderen zieht der Staat dem Bürger über Abgaben 30 bis 40 Milliarden mehr aus der Tasche als noch im Jahr 2005. Seit Angela Merkel Kanzlerin ist, gab es keine einzige zukunftsweisende Reform in Deutschland, stattdessen aber krasse Fehlentwicklungen in der Europapolitik, der Einwanderungspolitik und der Energiepolitik.
MONEY: Bleiben wir bei Europa. In Italien haben kürzlich Euro-Gegner fast 50 Prozent der Stimmen eingesammelt. Hat der Euro überhaupt noch einen Sinn?
Sarrazin: Lassen Sie mich so antworten. Der Euro hat drei Funktionen. Erstens: Er ist eine Währung, mit der wir bezahlen. Zweitens: Viele haben mit ihm die Hoffnung verbunden, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse besser werden. Die ist empirisch falsifiziert, trifft also nicht zu. Und drittens ist der Euro das politische Vehikel für die europäische Einigung. Diese Funktion hat er jedoch auch nicht erfüllt, eher im Gegenteil!
MONEY: Hat das auch mit kulturellen Unterschieden der Länder zu tun?
Sarrazin: Durchaus. Wir Deutschen halten große Stücke auf unsere Institutionen und haben eine historisch bedingte Abneigung gegen Schulden und Inflation. Die Südländer sind weniger kompromissbereit und schauen eher auf ihre eigenen Interessen. Darum gibt es dort auch eine andere Herangehensweise bei der Lösung von politischen Konflikten, man schiebt sie nämlich gern auf die lange Bank.
MONEY: Was bedeutet das konkret?
Sarrazin: Wenn man sich in der Haushaltspolitik nicht einigen kann auf Einsparungen oder Abgabenerhöhungen, dann macht man halt einfach mehr Schulden. Das war bis dato der italienische Weg. Deshalb hatte Italien seit dem Zweiten Weltkrieg immer wesentlich höhere Schulden und höhere Inflationsraten als Deutschland. Früher war das kein Problem, aber jetzt haben wir eine gemeinsame Währung, und die bedingt eine gewisse Haushaltsdisziplin.
MONEY: Die es nicht gibt ...
Sarrazin: ... und das wird für die italienische Art, Probleme zu lösen, zum Korsett. Die Parteien, die bei der Wahl gewonnen haben, sind ja diejenigen, die sagen: Wir wollen raus aus dem deutschen Finanzdiktat. Das kann man auch so übersetzen: Wir haben zwar gern den Euro, um deutsche Autos günstig kaufen zu können, aber keine Lust auf die Schuldenregeln. Zudem können sie nicht mehr ihre Währung abwerten, um ihre Produkte wettbewerbsfähiger im Ausland anzubieten. Das alles führt in Italien gerade zu großer Frustration.
MONEY: Der Ökonom Heiner Flassbeck argumentiert, dass Deutschland innerhalb der Euro-Zone Währungsdumping betreibt, weil der Euro für Deutschland eigentlich zu schwach sei.
Sarrazin: Flassbeck hat halb Recht. Der Euro ist in der Tat für uns zu schwach. Wir verkaufen unsere Waren eigentlich zu billig, und somit verzichten wir auf Wohlstand. Wir könnten für unsere Waren wesentlich mehr fordern. Aber Flassbeck hat auch Unrecht, denn seit es den Euro gibt, ist der Anteil des Außenhandels mit den Euro-Staaten kontinuierlich gefallen. Der Handel mit Nicht-Euro-Staaten wächst wesentlich stärker.
MONEY: Woran liegt das?
Sarrazin: Wenn sich die Wirtschaft in Ländern wie Frankreich und Italien nicht vernünftig entwickelt, entsteht dort natürlich auch keine vernünftige Kaufkraft. Der Euro hat das Wachstum in Südeuropa negativ beeinflusst und in Nordeuropa nicht positiv.
MONEY: Aber wenn Deutschland aus dem Euro austreten würde, hätten wir ja eine wesentlich stärkere D-Mark.
Sarrazin: Ich habe nicht gefordert, dass Deutschland aus dem Euro austritt. Aber einige südeuropäische Länder würden sicherlich besser ohne den Euro auskommen. Wir müssen zu dem Regelwerk des Maastrichter Vertrags zurück. Und da steht nicht drin, dass Deutschland für die Finanzlöcher wirtschaftlich schwächerer Staaten aufkommt. Die Währungsunion sollte keine Schuldenunion sein.
MONEY: De facto ist sie das aber momentan. Können Sie noch einmal erläutern, warum deutsches Geld im Feuer steht?
Sarrazin: Da gibt es mehrere Mechanismen, insgesamt sind es fünf, wenn man den EU-Haushalt dazuzählt. Das Schlimme ist: Ich befürchte, sogar die meisten Ökonomen haben nicht alle Mechanismen verstanden.
MONEY: Versuchen wir es trotzdem einmal.
Sarrazin: Ich beginne mit den Target-Salden. Staaten haben ja zwei Möglichkeiten, Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Einerseits über Schulden, andererseits über Target 2. Die EZB lässt dort wie bei einem Überziehungskredit negative Salden einzelner Staaten in hohem Umfang zu. Letztlich stehen diese Staaten wie Italien und Griechenland bei der EZB in der Kreide. Dahinter stehen aber Forderungen der Geberländer wie Deutschland.
MONEY: Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?
Sarrazin: Die Währungsunion ist mit dem Gedanken entstanden, dass es zwar eine gemeinsame Währung gibt, aber keine gemeinsamen Haftungssysteme. Das brach mit der Rettung Griechenlands im Jahr 2010 zusammen. Seither haben wir eine Haftungsunion, zum Beispiel über Target 2 oder den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ...
MONEY: ... der Europäische Rettungsschirm für notleidende Staaten.
Sarrazin: Richtig. Und dort ist – wie Sie wissen – Deutschland der größte Nettozahler in Europa. Im Extremfall geht es da um 190 Milliarden Euro für Deutschland.
MONEY: Nun wird immer wieder auch der Ruf nach einer europäischen Einlagensicherung laut. Was bedeutet das für deutsche Sparer?
Sarrazin: Eine europäische Einlagensicherung ist eine weitere Stufe in diese Haftungsunion. Bei der Einlagensicherung geht es darum, dass die Kundengelder auf Banken geschützt sind, wenn die Bank pleitegeht. Wir haben drei Einlagensicherungssysteme in Deutschland, für Privatbanken, Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken. Und wenn eines dieser Systeme nicht reicht, greift der Staat ein, so wie im Jahr 2008. Sie erinnern sich sicher an den – durchaus starken – Auftritt von Angela Merkel und Peer Steinbrück, die vor die Kameras traten und sagten: Ihre Einlagen sind sicher ...
MONEY: War ja eigentlich nur Show.
Sarrazin: Aber eine gute Show, um Panik zu vermeiden. Aber zurück zum Thema. Eine Einlagensicherung ist ja ein Haftungsverbund. Alle Banken, die dem Verbund angehören, haften für eine einzelne Bank. Jetzt haben aber viele Länder in Süd- und Westeuropa, die die Währungsunion weitertreiben wollen, den Anspruch, ein gemeinsames Haftungssystem für alle europäischen Banken ins Leben zu rufen.
MONEY: Einige Banken in Europa wackeln aber ganz schön, speziell in Italien!
Sarrazin: In Spanien, Frankreich und der Bundesrepublik sind die Banken weitgehend stabil. Instabil sind sie dafür in Griechenland und auch in Italien. Vor allem die italienischen Banken haben in sehr großem Umfang faule Unternehmenskredite in ihren Büchern, die sie auch noch nicht abgeschrieben haben.
MONEY: Der Volkswirt Dr. Markus Krall hat kürzlich von einer Geldpipeline von Deutschland nach Sizilien gesprochen. Werden wir Deutschen jetzt noch mal richtig geschröpft, bevor das ganze System zusammenbricht?
Sarrazin: Lassen Sie es mich so sagen. Es werden Leitungen gelegt, auf denen die Südländer Geld abzapfen können. Das sind die Target-Salden, dann der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie eine mögliche Haftungsunion. Nur die bloße Existenz einer Leitung bedingt noch nicht, dass da Wasser beziehungsweise in unserem Bild Geld durchfließt.
MONEY: Aber genau dafür ist eine Leitung ja da.
Sarrazin: Korrekt. Das bedeutet: Je mehr Leitungen gelegt werden, desto größer ist die Gefahr, dass in einer Nachtsitzung in Brüssel einmal entschieden wird, dass tatsächlich Geld fließt. Deswegen sage ich: Möglichst wenig Leitungen legen!
MONEY: Folgendes Szenario: Sagen wir, die Zinsen in der Euro-Zone ziehen an und die Kreditkosten für die zum Teil überschuldeten Länder steigen. Dann werden diese Leitungen aufgedreht, und wir Deutschen müssten zahlen. Richtig?
Sarrazin: Ja, das ist richtig. Lassen Sie mich aber noch etwas zur Zinspolitik sagen. Noch haben wir extrem niedrige Zinsen. Wenn Sie Sparer sind, dann wissen Sie ja leider, was das für Ihre Ersparnisse bedeutet.
MONEY: Für deutsche Sparer leider nichts Gutes.
Sarrazin: Diese Zinspolitik wurde nicht nach den deutschen Maßstäben und Notwendigkeiten gemacht. Mit unserer deutschen Wirtschaftskraft wären auch Zinsen von drei, vier oder fünf Prozent absolut akzeptabel. Dann müssten zwar auch die öffentlichen Haushalte mehr Zinsen zahlen, aber das wäre machbar. Die Zinsen werden künstlich niedrig gehalten von der EZB.
MONEY: Stichwort „Whatever it takes“!
Sarrazin: Genau! Draghi hat die Zinsen so sehr nach unten gedrückt und die Märkte mit so viel Geld geflutet, dass Schulden keine Kosten mehr verursachen. Und wenn man die Schulden nicht tilgt, sondern immer neue Schuldentürme anhäuft – so wie es in Frankreich, Italien & Co. gerade der Fall ist – und diese Länder quasi keine Zinsen dafür bezahlen müssen, dann ist das für diese natürlich die beste aller Welten.
MONEY: Das können Sie als Ex-Bundesbanker doch nicht gut finden!
Sarrazin: Das finde ich auch nicht gut, denn das führt zu einer falschen Steuerung. Wenn Ihnen Ihre Bank einen unbegrenzten Dispokredit auf Ihrem Konto zur Verfügung stellt, für den Sie weder Zins noch Tilgung bezahlen müssen, dann fragen Sie sich auch irgendwann: Wozu soll ich eigentlich noch arbeiten gehen? Und genau so ein System haben wir bei uns geschaffen in Europa.
MONEY: Apropos arbeiten gehen. Wir in Deutschland haben glücklicherweise eine relativ niedrige Arbeitslosenquote. In anderen Ländern wie Spanien sieht das ganz anders aus. Nun warnen einige Ökonomen bereits vor einer europäischen Sozialversicherung. Wäre das eine zusätzliche Leitung?
Sarrazin: Das ist richtig. Im schlimmsten Fall finanzieren wir dann möglicherweise die Arbeitslosen in den Südländern.
MONEY: Also schon wieder deutsches Geld, das für die Probleme anderer herhalten muss?
Sarrazin: Es ist sicherlich die Absicht der Südeuropäer, möglichst viel Geld aus Deutschland und generell aus Nordeuropa zu beziehen. Die Frage ist, wie man damit umgeht.
MONEY: Wie gehen wir denn damit um?
Sarrazin: Wir leisten zu wenig Widerstand. Eine der vielen unrühmlichen Aktivitäten und Äußerungen von Martin Schulz bestand darin, den Eindruck zu vermitteln, es sei die Aufgabe Deutschlands, überschuldeten Staaten deutsches Geld zukommen zu lassen. Das kann und darf nicht sein.
MONEY: Wird das denn passieren?
Sarrazin: Ich stelle folgende Prognose. Wir werden auf europäischer Ebene weiterhin Schritte in die falsche Richtung tun. Diese Schritte werden zu klein sein, um die Probleme in Spanien, Frankreich, Italien & Co. zu lösen. Aber groß genug, um in Deutschland für Ärger und Unruhe zu sorgen. Deswegen wächst der Frust auf beiden Seiten.
MONEY: Was sind die Konsequenzen?
Sarrazin: In Deutschland wird die gemeinsame Währung, der Euro, immer unpopulärer. Und in den Südländern wachsen die Kräfte, die gegen eine weitere europäische Integration sind.
MONEY: Sollten wir dann nicht ein Ende mit Schrecken bevorzugen und den Euro platzen lassen?
Sarrazin: Ich plädiere eher dafür, zu den alten Prinzipien zurückzukehren, die einmal vereinbart worden sind. Das alte Prinzip sah so aus: Wir haben eine gemeinsame Währung, aber strikt getrennte Kassen, und jeder kommt für seine eigenen Schulden auf.
MONEY: Was passiert, wenn man diesen Gedanken weiterspinnt?
Sarrazin: Wenn die Märkte wüssten, dass zum Beispiel die Italiener für ihre eigenen Schulden aufkommen müssen, dann würden Zinsen für die Italiener sicherlich steigen. Das bedeutet: Die Italiener müssten sich über ihre Zukunft ernsthafte Gedanken machen. Wenn sie nämlich den Euro behalten möchten, müssten sie ernsthafter sparen. Wenn sie aber nicht sparen, sind sie mit einer eigenen Währung besser aufgestellt.
MONEY: Aber das ist doch vollkommen unrealistisch, dass Italien & Co. künftig für ihre eigenen Schulden haften. Diese Länder werden die Haftung über die Geldleitungen doch nicht einfach zurückdrehen ...
Sarrazin: Ich bin auch skeptisch, denn der italienische Finanzminister müsste sich dann Gedanken machen, wie er seine Schulden in den Griff bekommt und das Land wirtschaftlich belebt. Das sehe ich momentan nicht. Stattdessen wird auf die deutsche Sparpolitik geschimpft.
MONEY: Ist der Euro beziehungsweise die gesamte EU angesichts der wachsenden Anti-Europa-Stimmung in fast allen Ländern nicht ohnehin zum Scheitern verurteilt?
Sarrazin: Angesichts meiner Analysen kann man natürlich zu dem Schluss kommen, dass wir am Ende sind und alles auseinanderfliegt. Aber ich sage ganz klar: Der Ausweg besteht darin, wieder zur alten Währungsunion zurückzukehren ohne gemeinschaftliche Haftung. Portugalund Irland haben ja gezeigt, dass sie sparen können. Die werden es schaffen! Spanien wird es vielleicht auch schaffen.
MONEY: Und Frankreich?
Sarrazin: Die Franzosen werden sicher wahnsinnig böse sein auf die Deutschen, aber sie denken sehr in Kategorien wie Prestige. Es wäre mit ihrem Nationalstolz sicher nicht vereinbar, zu schwach für den Euro zu sein.
MONEY: Wie sieht es mit Italien aus?
Sarrazin: Die Italiener sind besser beraten auszusteigen.
MONEY: Könnten wir es uns überhaupt leisten, Italien vom Euro zu befreien?
Sarrazin: Das könnte teuer werden. Wir müssten wahrscheinlich alle Forderungen an Italien abschreiben.
MONEY: Wie viel Geld steht denn für den deutschen Steuerzahler auf dem Spiel?
Sarrazin: Wir könnten durchaus Hunderte von Milliarden Euro verlieren.
MONEY: Wird es nach dem Brexit denn weitere Austritte aus der EU geben?
Sarrazin: Das ist schwer zu prognostizieren. Ich dachte, es gäbe in Großbritannien eine Mehrheit, die gegen den Brexit ist. Wie wir wissen, ist es anders gekommen. Ähnliches ist nun in Italien zu beobachten. Die Italiener haben mehrheitlich Populisten gewählt. Die Situation dort sowie die künftige Entwicklung sind momentan unprognostizierbar.
MONEY: Was bedeutet das?
Sarrazin: Der Zug der europäischen Integration muss jetzt gestoppt werden.
MONEY: In Deutschland macht sich die AfD dafür stark, die europäische Integration zu stoppen. Diese Partei hat extrem zugelegt in den vergangenen Jahren. Was glauben Sie: Wäre die AfD so stark geworden, wenn die SPD mehr auf die Thesen aus Ihren Büchern wie „Europa braucht den Euro nicht“ und „Deutschland schafft sich ab“ gehört hätte?
Sarrazin: Natürlich bin ich der Meinung, dass das, was ich im Jahr 2010 aufgeschrieben habe zum Islam, zu falscher Einwanderung und unseren demografischen Problemen richtig war. Die SPD, aber auch die CDU/CSU haben es damals verpasst, diese Themen vernünftig aufzugreifen. Und wenn Themen keine politischen Vertreter finden, dann kommen eben andere, die sich dieser Themen bemächtigen. Die AfD hat es damals, als das Buch herauskam, ja noch gar nicht gegeben. Und auch wenn die AfD sicher vieles falsch angeht, ändert das nichts daran, dass wir viele ungelöste Probleme in Deutschland haben.
MONEY: Ihre Partei, die SPD, hangelt sich von Umfragetief zu Umfragetief. Ist die SPD überhaupt noch zu retten?
Sarrazin: Die Partei ist 150 Jahre alt und hat schon viele Höhen und Tiefen durchlebt. Aber bisweilen frage ich mich auch, wo die Partei in 20 Jahren steht. Das bereitet mir durchaus Sorgen.
MONEY: Stört es Sie eigentlich, dass die AfD viele Ihrer Thesen geklaut hat?
Sarrazin: Das sind ja keine Thesen, sondern eher Analysen, und die möchte ich auch nicht zwingend politisch verorten. Ich möchte, dass sie inhaltlich gewürdigt werden und dann in die Politik einfließen, und zwar nicht nur in die Politik einer Partei.
MONEY: Können die anderen Parteien denn etwas lernen von der AfD?
Sarrazin: Die Parteien müssen sich mit den wichtigsten Zukunftsfragen beschäftigen. Nur wer darauf Antworten findet, wird von den Wählern auch als langfristig relevant angesehen.
MONEY: Kann die Politik auf alles Antworten finden?
Sarrazin: Man muss da unterscheiden. Die Digitalisierung zum Beispiel ist eine unaufhaltsame technische Entwicklung, die von der Politik weder gestoppt noch beeinflusst werden kann. Hier kann die Politik allenfalls rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, aber nichts gestalten. In den Bereichen, wo sie gestalten könnte, tut sie aber zu wenig und flüchtet sich in Unverbindlichkeit, weil ihr offenbar manches zu kontrovers ist.
MONEY: Hat die AfD denn Antworten auf die wichtigsten Zukunftsfragen, oder macht sie nur die bessere Show?
Sarrazin: Antworten müssen in erster Linie aus der Gesellschaft kommen. Und in der Gesellschaft gibt es durchaus Antworten zu den wichtigen Themen wie Einwanderung, Demografie oder Islam. Die Politik vermeidet diese Themen aber gern, weil sie offenbar mit den Antworten nicht umgehen kann.
MONEY: Was für Antworten sind das konkret?
Sarrazin: Nehmen wir das Thema Bildung. Jeder soll nach seinem Leistungsvermögen gefördert werden. Der weniger Befähigte im Rahmen seiner Möglichkeiten und auch die Höherbegabten im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Das geht aber nicht in einem Bildungswesen, das so tut, als wären alle gleich, und alle in eine gemeinsame Klasse steckt. Der eine ist kontinuierlich überfordert und frustriert, und der andere langweilt sich und zieht sich zurück. Aus ideologischen Gründen und aus falschen Vorstellungen von Gleichheit machen wir beiden Gruppen aber dieselben Angebote, und das führt zu nichts.
MONEY: Was noch?
Sarrazin: Wir blenden außerdem aus, dass Integrationsprozesse auch davon abhängig sind, aus welchen Kulturkreisen die Menschen zu uns kommen, und dass Integration manchmal auch über mehrere Generationen andauert. Einwanderung ist nicht gleich Einwanderung, und das wird zu wenig beachtet.
MONEY: Das klingt, als dürfte man in Deutschland nicht mehr alles aus- und ansprechen. Ist unsere Meinungsfreiheit in Gefahr?
Sarrazin: Hier in Deutschland wird niemand ins Gefängnis gesteckt, der sagt: Ich mag die Bundeskanzlerin nicht. Insofern haben wir natürlich Meinungsfreiheit. Aber bestimmte andere Meinungen, zum Beispiel bei der Einwanderung, werden vom gesellschaftlichen Mainstream nicht akzeptiert, und da muss man teilweise mit Nachteilen rechnen.
MONEY: Haben Sie ein Beispiel?
Sarrazin: Meine eigenen Veranstaltungen werden regelmäßig von Linksradikalen gestört. Manchen Veranstaltern werden die Fenster zerdeppert. Da kriegen viele natürlich Angst.
"Ein funktionierender Sozialstaat braucht sichere Grenzen und eine wirksame Kontrolle"
MONEY: Was würden Sie denn in der Einwanderungspolitik konkret ändern?
Sarrazin: Wir haben in der Welt eine sehr große Einkommensungleichheit. Für viele ist Deutschland ein attraktives Einwanderungsland. Man lebt hier sicher, und selbst wenn man nicht arbeitet, hat man hier einen Lebensstandard, der höher ist als in vielen anderen Regionen der Welt, selbst wenn man arbeitet. Deswegen wollen viele Menschen zu uns.
MONEY: Worauf wollen Sie hinaus?
Sarrazin: Entweder man hat einen funktionierenden Sozialstaat, oder man hat offene Grenzen. Beides zusammen geht nicht. Man kann den hohen Sozialstandard ja nicht für den Rest der Welt garantieren. Deswegen sage ich: Ein funktionierender Sozialstaat braucht sichere Grenzen und eine wirksame Kontrolle, wer zu uns kommt. Momentan haben wir aber folgendes System: Derjenige, der es an unsere Grenze schafft und das Wort Asyl ausspricht, wird vom ersten Tag an von unserem Staat unterhalten. Und in 98 Prozent aller Fälle darf er auch dableiben, selbst wenn sein Asylantrag abgelehnt wird.
MONEY: Ist das überhaupt realistisch heutzutage, seine Grenzen noch zu schützen?
Sarrazin: Natürlich können wir sichere Grenzen schaffen. Das bedeutet aber, dass wir illegale Einwanderer konsequent wieder an ihren Herkunftsort zurückschaffen müssen.
MONEY: Was ist dafür notwendig?
Sarrazin: Das Ganze hat eine technische und eine politische Ebene. Technisch kann man ja mit Ortungssystemen heutzutage sehr genau sehen, wo sich beispielsweise Boote auf dem Mittelmeer befinden, und diese dann auch wieder zurückleiten. Die politische Frage ist komplexer.
MONEY: Sie setzen Einwanderungspolitik und Asylpolitik gleich ...
Sarrazin: ... de facto sind sie das auch. Ein Einwanderungsgesetz ist ja auch völlig sinnlos, wenn ich einen Nebeneingang schaffe. Stellen Sie sich eine Disco vor, in der Türsteher ihren Haupteingang bewachen. Die Türsteher sorgen dafür, dass nur derjenige reingelassen wird, den man reinlassen möchte. Das wäre das Einwanderungsgesetz. Wenn aber 30 Meter weiter jeder durch eine weitere unbewachte Tür reinkommen kann, dann ist der Türsteher unnütz. Die Bedingung für ein wirksames Einwanderungsgesetz sind also kontrollierte Grenzen.
MONEY: Plädieren Sie denn für die Abschaffung der Regelung, dass Menschen aus Kriegsgebieten temporärer Schutz gewährt wird?
Sarrazin: Aus meiner Sicht ist es viel besser, den Flüchtlingen Schutz in der Nähe ihrer Heimat zu gewähren. Nehmen wir Syrien als Beispiel. Dort gibt es Jordanien, den Libanon, die Türkei und noch ein paar andere Staaten, die sicher sind.
MONEY: Warum wird das nicht gemacht?
Sarrazin: Weil die Politik in das Ganze gedankenlos hineingestolpert ist und sich scheut, die grundsätzlichen Fragen zu beantworten. Ich finde, man soll den Flüchtlingen helfen, aber man sollte ihnen nah ihrer Heimat helfen, denn dorthin sollen sie ja später wieder zurück. Es ist nicht die Aufgabe Europas, Flüchtlinge zu beherbergen, die von anderen Kontinenten kommen. Es ist in Afrika genügend Platz für alle afrikanischen Flüchtlinge. Und in Asien ist genügend Platz für alle asiatischen Flüchtlinge.
MONEY: Also finanzielle Hilfe, aber keine Beherbergung?
Sarrazin: Ja, und damit fallen viele andere Dinge auch flach, zum Beispiel der Familiennachzug. Das ist ja auch eine wirtschaftliche Frage. Ein Flüchtling, der bei uns lebt, kostet den Staat mit Grundsicherung und so weiter circa 15.000 Euro pro Jahr. Für diesen Betrag kann ich in einem Flüchtlingslager der Uno sicher zehn bis 15 Menschen betreuen. Das Geld wäre anderswo also viel besser angelegt, und die inneren Spannungen in unserem Land würden auch abnehmen.
Erschienen in FOCUS MONEY...