"Eine Weltmetropole werden wir nicht mit Einfamilienhäusern erweitern"
Am 26. September 2021 war Bettina Jarasch schon einmal fast am Ziel: In den ersten Hochrechnungen nach der Berliner Landtagswahl, die gleichzeitig mit der Bundestagswahl stattfand, lagen die Grünen vorn. Die Spitzenkandidatin wurde von ihrer Basis bereits als künftige Regierende Bürgermeisterin gefeiert. Am Ende reichte es dann aber doch nur für Platz zwei. Seit gut einem Jahr ist sie nun Berliner Verkehrssenatorin in einer rot-grün-roten Koalition. Weil die Wahl wiederholt werden muss, könnte Jarasch ihr Ziel am 12. Februar nun doch noch erreichen.
ZEIT ONLINE: Frau Jarasch, Sie machen jetzt innerhalb kurzer Zeit schon zum zweiten Mal Wahlkampf und müssen erneut gegen Ihre Koalitionspartner ins Gefecht ziehen. Fügt man sich dabei nicht gegenseitig große Wunden zu?
Bettina Jarasch: Anders als Franziska Giffey habe ich von Anfang klargemacht, dass ich die rot-grün-rote Koalition fortführen möchte – wenngleich natürlich unter unserer Führung. Aber ich habe ihr auch gesagt, dass wir mit diesem Konkurrenzkampf gut umgehen müssen und uns gegenseitige persönliche Verletzungen ersparen sollten. Trotzdem gebe ich zu: Wir befinden uns bis zum 12. Februar in einer Art gelebter Schizophrenie. Im Senat müssen wir weiter durchregieren und uns einigen, im Wahlkampf sind wir Konkurrentinnen.
ZEIT ONLINE: Sie haben also mit Ihrer Herausforderin ein schwesterliches Bündnis vereinbart, sich zu schonen?
Jarasch: Nein, aber wir haben unter vier Augen geredet. Und ich habe mir vorgenommen, hart in der Sache zu streiten, aber menschlich anständig zu bleiben.
ZEIT ONLINE: Das Jahr begann turbulent. Nach Silvester wurde deutschlandweit über die Ausschreitungen in Neukölln diskutiert, in der vergangenen Woche demonstrierten Zehntausende Klimaaktivisten gegen die Räumung des Dörfchens Lützerath im Rheinischen Kohlerevier und gegen den von Ihrer Partei vereinbarten früheren Kohleausstieg. Welche Debatte fanden Sie nerviger?
Jarasch: Auf jeden Fall die über die Silvesternacht. Die ist nach dem Vorschlag der Berliner CDU, die Vornamen der Täter öffentlich zu machen, in seltsame Abgründe abgedriftet. Eine Debatte über Menschen und ihre Migrationshintergründe hilft doch nicht, das Problem der Jugendgewalt in den Griff zu bekommen und Berlin sicherer zu machen. Sie führt nur zu einer Spaltung der Stadt. Bei Berliner Grundschülern ist ein Migrationshintergrund schon heute Normalität. Daran sollte sich auch die CDU langsam mal gewöhnen.
ZEIT ONLINE: Der Widerstand gegen die Räumung von Lützerath hat Sie also erfreut?
Jarasch: Sie haben mich ja nur gefragt, was mich mehr genervt hat. Aber ja, ich kann den Frust der Klimaaktivisten verstehen. Es bleibt schwer verständlich, warum wir heutzutage für Kohle noch Häuser abbaggern. Anders als andere Grüne halte ich den Beschluss nicht für einen Erfolg, sondern für einen hart errungenen Kompromiss. Und das sollte man auch laut sagen. Mich stellt dieser Kompromiss nicht zufrieden, und auch feiern kann ich ihn nicht. Wir haben schon in der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder oft den Fehler gemacht, verhandelte Kompromisse als Erfolge auszugeben. Auch damals haben die Leute zu Recht gesagt: aber ihr wolltet doch mehr. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Der vorgezogene Kohleausstieg in NRW gegen die Preisgabe von Lützerath war ein Kompromiss. Wir sollten das nicht als einen Erfolg verkaufen.
ZEIT ONLINE: Haben Sie Angst, dass die Kritik, die Luisa Neubauer, Teile der Grünen Jugend und andere Klimaaktivisten an der Politik der Grünen geübt haben, Sie bei der Wahl nun Stimmen kostet?
Jarasch: Nein. Was wäre denn für das Klima gewonnen, wenn man die Grünen in Berlin für Lützerath abstrafen würde? Ich sehe nicht, dass es dazu in nennenswertem Umfang kommt. Wenn ich mit den Klimaaktivisten diskutiere, sage ich, dass ich ihr Engagement, ihre Wut und ihre Energie als Rückenwind in Berlin brauche. Ohne sie werden wir es nicht schaffen, zurück auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Aber ich fordere sie auch heraus, mit mir gemeinsam Unterstützung für konkrete Maßnahmen und Mehrheiten zu organisieren. Denn nur von der Politik zu verlangen, dass sie sagen soll, wie es geht, ist zu einfach. Am Ende brauchen wir für alles, was wir tun, Mehrheiten.
ZEIT ONLINE: Was würden Sie als Regierende Bürgermeisterin von Berlin anders machen als Franziska Giffey?
Jarasch: Meine Priorität ist ganz klar der Klimaschutz. Eine wirkliche Energie- und Verkehrswende kann man nur aus dem Roten Rathaus organisieren und die Stadt dabei mitnehmen. Die Zahl der Autos in Berlin muss deutlich sinken. Natürlich wird es in Berlin am Ende noch Autos geben, aber sie werden weniger Platz einnehmen und sie müssen emissionsfrei betrieben werden. Alle Parteien reden mittlerweile über Klimaschutz, aber die dafür notwendigen Veränderungen scheuen sie. Kai Wegner, der CDU-Spitzenkandidat, bezeichnet sich ja mittlerweile sogar als "Schutzpatron der Autos".
ZEIT ONLINE: Mit Ihrer Forderung, die Parkplätze in Berlin innerhalb der nächsten zehn Jahre zu halbieren, haben Sie sich viel Kritik eingefangen.
Jarasch: Mag sein, aber das fordere ich ja nicht aus Spaß. Wir brauchen in dieser hochverdichteten Stadt mehr Platz für sichere Radwege und Fußwege. Und es müssen dringend mehr Böden entsiegelt werden. Wir wollen mehr Grün, mehr öffentlichen Raum mit hoher Aufenthaltsqualität – und mehr Orte, an denen die Luft auch in Hitzesommern noch angenehm kühl ist, an denen man sich ausruhen und wo der Regen versickern kann. Und ich bin sicher, dass das Ziele sind, hinter denen sich viele Menschen versammeln können.
ZEIT ONLINE: Aber die meisten Berliner werden nicht jubeln, wenn Sie ihnen sagen, sie sollen ihre Autos am S-Bahn-Ring stehen lassen.
Jarasch: Mein langfristiges Ziel ist Verkehrssicherheit in Berlin und eine grüne Stadt mit sauberer Luft innerhalb und außerhalb des Rings. Und dazu gehört nun einmal, dass mehr Menschen ihr eigenes Auto stehen lassen. Im Zentrum haben wir schon jetzt ein sehr dichtes ÖPNV-Netz. Deshalb liegt mein Fokus bei der Verkehrswende auf dem Stadtrand und darüber hinaus. Zwischen Brandenburg und Berlin pendeln täglich mehr als 300.000 Menschen, und ich möchte, dass sie das nicht mehr mit dem Auto, sondern mit der Bahn tun. Das 9-Euro-Ticket hat uns dabei im vergangenen Jahr glücklicherweise einen enormen Schub gegeben.
ZEIT ONLINE: Mit dem in Berlin eingeführten 29-Euro-Ticket werben im Wahlkampf nun allerdings nicht Sie, sondern Franziska Giffey. Warum?
Jarasch: Weil wir ein dauerhaftes, besseres Angebot machen wollen: All jene, die sich ein 49-Euro-Ticket nicht leisten können, sollen für 29 Euro in ganz Deutschland unterwegs sein können. Wir wollen daher das von der Bundesregierung angekündigte Deutschlandticket in Berlin übernehmen und es für Studierende, Berufstätige und Menschen mit niedrigen Einkommen noch günstiger machen. So entlasten wir einerseits die Berlinerinnen und schaffen andererseits ein Ticket, das wir uns als Land auch dauerhaft leisten können.
ZEIT ONLINE: Berlin hat im Rest des Landes seit Langem den Ruf, unregierbar und eine "Chaosstadt" zu sein, wie Markus Söder sagte. Man denke nur an das Flughafendesaster, die überforderten Bürgerämter, an die verunglückte Landtagswahl und zuletzt die Silvesterkrawalle. Warum kriegt die Regierung die Stadt einfach nicht in den Griff?
Jarasch: Berlin zu bashen, ist ja nun ein beliebtes Spiel. Gerade im vergangenen Jahr haben wir aber doch zum Beispiel bei der Aufnahme der vielen ukrainischen Flüchtlinge bewiesen, dass wir sehr wohl komplexe Lagen managen können. Abgesehen davon gibt es aber natürlich auch ein paar Berlin-spezifische Gründe, warum die Lage hier anders ist als in anderen Großstädten: Das Grundproblem ist, dass seit der Verfassungsreform in den Neunzigerjahren viele Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zwischen Senat und den Bezirksämtern nicht geklärt sind. Leider lässt sich dieses Problem nicht durch einen Gipfel oder einen schnellen Maßnahmenkatalog lösen, dafür braucht es eine umfangreiche und konsequente Verwaltungsreform.
ZEIT ONLINE: Franziska Giffey hat ja gerade einen ersten Vorschlag für eine Verwaltungsreform angekündigt. Ist da alles drin, was Ihnen wichtig ist?
Jarasch: Dazu kann ich nichts sagen, da wir die Vorschläge noch nicht kennen. Allein das wird dem Ernst der Lage aber nicht gerecht: Statt jetzt hektisch mit unabgestimmten Vorschlägen Wahlkampf zu machen, verlange ich klare Eckpunkte für die neue Aufteilung der Zuständigkeiten und einen verlässlichen Zeitplan.
"Ich nehme den Volksentscheid ernst"
ZEIT ONLINE: Frau Giffey hat auch angekündigt, über das Thema Enteignungen nicht mehr reden zu wollen. Ist das eine Absage an die Weiterführung der Koalition mit Grünen und Linken?
Jarasch: Es ist zuallererst der Bruch mit einem Versprechen, das sie der Stadt gegeben hat. Fast 60 Prozent hier haben für den Volksentscheid gestimmt. Deshalb müssen wir zumindest prüfen, ob und wie er umgesetzt werden kann. Die Möglichkeit für eine Vergesellschaftung ist zwar im Grundgesetz Artikel 15 verankert, aber in der Bundesrepublik noch nie praktiziert worden. Deswegen haben wir eine Expertenkommission eingesetzt, die uns einen Weg aufzeigen soll. Wenn sie dem jetzt eine Absage erteilt, obwohl die Kommission noch nicht mal ihre Ergebnisse vorgelegt hat, frage ich mich schon, ob das Versprechen je ernst gemeint war.
ZEIT ONLINE: Und wie stehen Sie persönlich dazu?
Jarasch: Ich nehme den Volksentscheid ernst. Es gibt für mich aber notwendige Bedingungen für den Fall einer Umsetzung: Das Gesetz muss verfassungskonform sein, denn es wird auf jeden Fall beklagt werden. Dazu gehört auch eine angemessene Höhe der Entschädigung für die Eigentümer. Wir haben mit dem Mietendeckel schon einmal juristisches Neuland betreten. Das hat damals viele Hoffnungen bei den Mietern geweckt, ist aber vor Gericht wieder gekippt worden. So etwas darf sich nicht wiederholen.
ZEIT ONLINE: Aber auch wenn man 300.000 Wohnungen vergesellschaftet, wäre erst mal kein neuer Wohnraum da. Doch Neubauten sehen die Grünen ebenfalls skeptisch …
Jarasch: Wir wollen bauen, aber wir wollen anders bauen. Urban, verdichtet, auf versiegelten Flächen und gern auch höher, damit wir mehr Grünflächen erhalten können. Wir wollen Klimaschutz und Wohnungsneubau zusammenbringen.
ZEIT ONLINE: Sie sind also der Meinung, der Bedarf an neuen Wohnungen ließe sich durch Nachverdichtung decken?
Jarasch: Zunächst haben wir in Berlin Baugenehmigungen für 60.000 Wohnungen, die noch gar nicht gebaut sind. Durch Nachverdichtung können wir 80.000 weitere Wohnungen bauen. Wir erschließen auch neue Wohngebiete. Nur wollen wir dort dann so verdichtet bauen, dass auch Grünflächen erhalten bleiben.
ZEIT ONLINE: Neue Einfamilienhaussiedlungen wird es in Berlin also nicht mehr geben?
Jarasch: Eine Weltmetropole, die auf begrenztem Raum wächst, werden wir nicht mit Einfamilienhäusern erweitern. Aber ich möchte, dass auch dort Mehrfamilienhäuser mit Grünflächen entstehen, damit Kinder spielen und ältere Menschen im Schatten sitzen können.
ZEIT ONLINE: Warum wollen Sie, anders als Franziska Giffey, die bisherige Koalition fortsetzen?
Jarasch: Angesichts der Spaltungen, die es in dieser Stadt gibt, ist eine progressive Koalition die richtige. Die Silvesterdebatte hat ja gezeigt, dass man, wenn man Berlin regieren will, mit der realen Vielfalt der Menschen in der Stadt umgehen können muss.
ZEIT ONLINE: Ihnen wird allerdings auch nachgesagt, Sie könnten ganz gut mit der CDU.
Jarasch: Mit Kai Wegner verstehe ich mich, wie es im besten Sinne unter Demokraten sein sollte. Er steht aber einer Partei vor, die nicht bereit ist, die Veränderungen anzugehen, die wir hier brauchen. Deshalb haben wir unsere Präferenz geäußert, dabei bleibt es.
ZEIT ONLINE: Was mögen Sie an Franziska Giffey?
Jarasch: Dass sie, wenn es sein muss, echte Kompromisse schließen kann. Bis vor Kurzem hätte ich übrigens gesagt, dass sie das beim Thema Vergesellschaftung ja auch gezeigt hat.
ZEIT ONLINE: Könnten Sie sich vorstellen, dass sie sich Ihnen als Senatorin unterordnet?
Jarasch: Das ist eine Frage, die nur sie persönlich und die SPD beantworten kann. Ich würde es mir wünschen. Wir leben ja nicht in einer Monarchie. Die SPD hat kein Geburtsrecht, immer die Regierung anzuführen.