Derzeit lehrt uns die Geschichte, was wir nicht aus der Geschichte gelernt haben. Wie in einer strengen Schule (die Wirklichkeit ist eine solche) gilt: Wer den Unterricht verpennt hat, muss den gesamten Stoff wiederholen. Wie sieht denn der Lehrplan aus?
„Es gibt keine ewigen Wahrheiten, aber viele ewige Lügen.“
(Stanislaw Jerzy Lec)
Ein berühmter Astrophysiker hielt einmal einen öffentlichen Vortrag über den Aufbau des Weltalls. Nach dem Vortrag und der Diskussion kam eine ältere Frau auf ihn zu und sagte: „Herr Professor, es ist höchst spannend, was sie uns erzählt haben, aber Sie wissen natürlich, dass in der Tat die ganze Welt auf einer riesigen Schildkröte steht.“ Der Wissenschaftler wollte die Lady nicht auslachen, sondern nur ein bisschen zum Nachdenken bringen und fragte deshalb: „Ja, und worauf steht die Schildkröte?“ Ohne nur eine Sekunde zu überlegen, antwortete die Dame: „Da sind lauter Schildkröten bis nach ganz unten“ (in der englischen Variante: „only turtles all the way down“).
Wie tief kann es aber „bis nach ganz unten“ gehen? Ein Witz zu diesem Thema erzählt von einem Pessimisten und einem Optimisten, die gemeinsam eine schwere Niederlage erlitten. „Oh, schlimm“, weint der Pessimist, „wir sind am Boden, ganz am Boden!“ „Nein,“ entgegnet der Optimist, „wir sind nicht am Boden, es geht noch tiefer!“
In der Mitte des 20. Jahrhunderts, nach zwei Weltkriegen und zahlreichen Massakern, die schließlich in einer industriellen Vernichtung von Millionen Juden und hunderttausenden Sinti und Roma gipfelten, kam die Menschheit zu dem Schluss, dass sie den untersten Boden des Bösen erreicht habe; dass zumindest in einem Teil der Welt, vor allem in Deutschland, Verbrechen unvergleichbaren, bis dahin unerhörten Ausmaßes begangen worden wären, dass ein noch tieferer Fall, eine noch schlimmere Katastrophe einfach unvorstellbar sei und dass uns von diesem absoluten Nadir der Geschichte notwendigerweise nur ein Weg nach oben, zum Besseren bleibe. Das Böse des Nationalsozialismus war absolut, und die Sprache selbst verbietet die Steigerung des Adjektivs.
Ein Massaker als Vergnügen
Ich habe zahlreiche Geschichten über die Gräueltaten der Nationalsozialisten in Osteuropa gelesen; hinter dem „antifaschistischen Schutzwall“ wurde diese Lektüre gefördert. Ich habe gelesen, wie deutsche Soldaten die entkleideten Juden zwangen, eine Grube zu graben, um sie danach zu erschießen und in diese Grube zu werfen. Ich habe von den Menschen gelesen, die in KZs den vergasten Juden Goldzähne entfernten und Haare als Rohmaterial abschnitten. Ich habe über Babi Yar gelesen, wo innerhalb zweier Tage 33.000 Menschen exekutiert wurden, und über die „Operation Erntefest“, in der die Anzahl der Opfer pro Tag noch höher war. Ich möchte hier nicht ins Detail dieser Grausamkeiten gehen, und wen sie interessieren, kann nach entsprechenden Begriffen googeln.
Es gab allerdings Dinge, von denen ich niemals gelesen habe, zum Beispiel dass deutsche Soldaten bei einer Massenexekution von „Untermenschen“ Freude empfunden hätten. Sie haben ihre berüchtigte „Pflicht getan“, doch ihre emotionalen Reaktionen waren eher negativ. Die einen griffen zum Schnaps, die anderen haben gekotzt, die dritten wollten schnell einen Brief an die Familie schreiben, um durch den Kontakt mit den Verwandten die eigene Untat zu verdrängen. Auch davon habe ich nicht gelesen, dass die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma oder schwerkranken Personen auf den Straßen deutscher Städte laut gefeiert wurde. Dass ein Massaker ein Vergnügen sein kann, eine Herzensangelegenheit, war mir bis 2023 nicht bewusst.
Ebenso wenig konnte ich mir bisher vorstellen, dass beim Aufstand im Warschauer Ghetto die „Weltöffentlichkeit“ (wer ist sie eigentlich?) die Forderung stellen würde, dass die Juden ihren Genozid an deutschen Soldaten sofort beenden sollten! Unvorstellbar wäre auch, dass im März und April 1945 die Alliierten nicht den Endsieg über den Nationalsozialismus angestrebt, sondern sich primär um die humanitäre Lage in Deutschland gekümmert hätten, dass die damaligen Massenmedien die Tragödie der Zeit darin gesehen hätten, dass in Nazi-Deutschland das Telefonnetz zusammenbrach und Krankenhäuser nicht funktionieren. Schwer wäre vorzustellen, dass nach der Aufdeckung der nationalsozialistischen Verbrechen sich ein internationaler Politiker die Aussage gewagt hätte, der Holocaust sei zwar zu verurteilen, „aber er passierte nicht im Vakuum, denn schließlich hat das deutsche Volk seit Jahrhunderten unter der Herrschaft der jüdischen Finanzmagnaten und der jüdischen Presse gelitten“. Und schon absolut unvorstellbar wäre, dass so ein Politiker nach dieser abscheulichen Aussage seinen Posten auch nur einen weiteren Tag hätte behalten dürfen.
Legenden aus dem finsteren Mittelalter
Im Übrigen hat es in grausamen Kriegen immer Verbrechen auf beiden Seiten gegeben, und die Bevölkerung hat immer auf beiden Seiten gelitten. Auch im Zweiten Weltkrieg war das Leiden der deutschen Bevölkerung immens. Aber kein ernstzunehmender Politiker wäre damals auf die Idee gekommen, die Russen und die Engländer zu verpflichten, dass sie mitten im Krieg Deutschland mit Lebensmitteln, Wasser, Energieträgern beliefern – denn der Zivilbevölkerung dürfe nichts fehlen. Erst nachdem der Nationalsozialismus vollständig und endgültig vernichtet und Deutschland vollständig von Besatzungsmächten okkupiert worden war, übernahmen diese Mächte (in einem sehr beschränkten Maß) Verantwortung für das Überleben der unter Besatzung befindlichen Bevölkerung. Heute macht die oben erwähnte „Weltöffentlichkeit“ Israel Vorwürfe, wenn der jüdische Staat nicht jeden Kriegstag dem feindlichen Staat alle notwendigen Mittel zur Verfügung stellt.
Offensichtlich hat sich der König Salomo geirrt: Es gibt im 21. Jahrhundert n. Chr. doch etwas Neues unter der Sonne. Aber neben diesen Neuigkeiten weidet heute eine ganze Herde oller Kamele. Die Ritualmordlegende (Juden töten absichtlich nicht-jüdische Kinder) und Dolchstoßlegende, Juden als infame Revoluzzer, die versuchen, die Welt umzuwerfen, Juden als Drahtzieher alles Weltübels und Juden, die selbst den Judenhass verschulden, indem sie antijüdische Gewalt provozieren – dieser ganze Wahnsinn, den man erst vor Kurzem fest und endgültig im Archiv der Geschichte abgelegt zu haben glaubte, wird plötzlich aus den Mottenkisten herausgeholt und in den höchsten internationalen Gremien wie der UNO und der WHO ernsthaft diskutiert. Nicht nur die antisemitischen Mythen der nationalsozialistischen und späteren sowjetischen Propaganda werden öffentlich wiedergekäut, sondern auch die Legenden aus dem finsteren Mittelalter – allerdings mit dem Unterschied zugunsten des finsteren Mittelalters, dass die Päpste damals im Gegensatz zum erlauchten 21. Jahrhundert vehement gegen die Verbreitung antijüdischer Vorurteile auftraten.
Hat es sich also gelohnt, sieben Jahrzehnte lang die Frage „Wie war so etwas möglich?“ zu stellen, nur um im achten Jahrzehnt das Verb in die Gegenwartsform „Wie ist so etwas möglich“ umzuwandeln? Kann diese Frage beantwortet werden?
Marquards „nachträglicher Ungehorsam“
Der psychoanalytisch gebildete Leser will natürlich diesen Begriff sofort korrigieren: Sigmund Freud sprach vom „nachträglichen Gehorsam“. In seiner Theorie (andere sagen: Mythologie) stellt er den Vorgang folgendermaßen vor: Die Söhne, vom Ödipus-Komplex gequält, rebellieren schließlich gegen den Vater und töten ihn. Danach bereuen sie diese Tat und leiden unter schwersten Schuldgefühlen. Um ihr Gewissen zu stillen, vergöttern sie den getöteten Vater, kanonisieren ihn, schreiben alle seine Worte, Ratschläge und Verbote aus dem Gedächtnis nieder und bauen daraus einen Kult. So entstehe eine autoritäre Gesellschaftsordnung, eine Kultur des Dogmas.
Der deutsche Philosoph Odo Marquard (1928–2015), übrigens ein Sigmund-Freud-Preisträger 1984, sah ein, dass für die Erklärung der totalitären Konzepte dieses Modell nicht taugt. Angesichts der rebellischen Tendenzen der europäischen Intellektuellen in den 1970er und 80er Jahren fand er es korrekter, vom „nachträglichen Ungehorsam“ zu sprechen. Insbesondere die deutsche Intelligenzija litt unter Schuldgefühlen, weil sie gegen das Regime des absoluten Unrechts keinen Widerstand geleistet hatte; also müsste sie zur Kompensation umso lauter gegen das Regime des relativen Rechts in der Bundesrepublik protestieren, dessen Schuld darin bestand, relativ und nicht absolut zu sein. Genau weil die Intellektuellen unter der harten Diktatur, unter den ernsthaftesten Gefahren für Leib und Leben geschwiegen hatten, mussten sie im Alltag der Bundesrepublik jede autoritäre Tendenz öffentlichtkeitswirksam anprangern, zumal diese Regierungs- und Gesellschaftskritik nun keine Gefahr, sondern lauten Applaus aus dem aufnahmebereiten Publikum mit sich brachte.
Soweit hätten wir einen einmaligen Zyklus: Der fehlende Mut, gegen die nationalsozialistische Diktatur aufzutreten, wird durch Ungehorsam gegenüber der unperfekten bürgerlichen Demokratie nachträglich ausgeglichen. Doch Marquard bemerkte zugleich, dass dieser Zyklus auch eine Vorphase habe: Die Menschen, die eine Diktatur widerstandslos hinnahmen, erwiesen nicht nur danach, sondern auch davor einen erbitterten Widerstand gegen eine Demokratie. Diese (die Weimarer Republik) war selbstverständlich auch unperfekt. Der Irrsinn des seltsamen Ungehorsams, wie Polonius gesagt hätte, „hat Methode“.
Ja zu Diktaturen und Nein zu Demokratien
Ich kenne eine süddeutsche Universität, die in den letzten Jahrzehnten durch ihren rebellischen Geist rühmlich geworden ist. Viele Professoren aus den geisteswissenschaftlichen Fächern der Uni haben sich durch ihre schonungslose soziale Kritik, ihre öffentlichen Auftritte für Freiheit und gegen die Macht der Konzerne Namen und Popularität unter den Studenten gemacht. Als 2020 bis ‚21 die vom Grundgesetz gewährten Menschenrechte – das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Bewegungsfreiheit, auf freie Berufsausübung, das Versammlungsrecht, das Bildungsrecht, sogar das Recht auf Briefgeheimnis – zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik auf extreme Weise eingeschränkt wurden, haben wir, eine kleine Gruppe von Kollegen, mehrere solcher Freigeister angeschrieben und nach ihrer Stellungnahme zu diesen schweren Freiheitseinschränkungen gefragt. Raten Sie jetzt die Zahl der zustimmenden und der ablehnenden Antworten, die wir bekamen! Wahrscheinlich haben Sie richtig geraten: Die beiden Zahlen sind gleich Null. Kein einziger Rebell hat geantwortet.
Das Schema, das sich ergibt, ist simpel wie ein Pantoffel: Wir sagen Ja zu Diktaturen und Nein zu Demokratien. Wir sind Freiheitskämpfer, wenn wir uns gegen eine Macht auflehnen, die ohnehin unsere Freiheit nur minimal einschränkt und von der wir keine oder höchstens eine symbolische Strafe erwarten. Wir zeigen eine Zivilcourage, solange sie uns nichts kostet. Michael Moore ließ sich nach seinen kritischen Filmen über George W. Buch jr. als „Volksfeind“ titulieren. Die Menschen, die in der stalinistischen UdSSR so bezeichnet wurden, erhielten bis zu 25 Jahre sibirische Arbeitslager oder „zahlten“ für dieses Verdikt mit ihrem Leben; Moore verdiente mit dem gleichen Titel Millionen. Im akademischen Milieu üben wir Regierungs- und Gesellschaftskritik, wenn wir als Bestrafung dafür nur Vortragseinladungen, Honorare und Bewunderung von StudentInnen (Gendern absichtlich) ernten können.
Aber sobald es nur leiseste Hinweise auf reale Bedrohungen gibt, sobald sich in der Politik reale autoritäre oder gar totalitäre Tendenzen zeigen, sobald wir in einer maßnahmenkritischen Demonstration von der Polizei nicht nur sanft gewarnt, sondern krankenhausreif geschlagen werden können; sobald die Möglichkeit besteht, dass wir für unsere kritischen Auftritte verleumdet, diffamiert, öffentlich angegriffen werden, dass unsere Familie Drohbriefe erhält, dass unser Bankkonto gekündigt wird, dass wir unseren Arbeitsplatz und unsere Existenzgrundlage verlieren können – nur, wenn es danach riecht, dann werden wir couragierte Rebellen sofort brav und ruhig und warten gehorsamst auf das nächste Tauwetter, bei dem wir wieder ungefährdet frondieren können. Und wären wir rechts, so hätte dieses Schema alles erklärt. Aber wir sind links und machen damit unser Leben komplizierter.
Die Moral der Geschichte
In jedem Bereich menschlicher Aktivität gibt es Kriterien, nach welchen festgestellt werden kann, wer besser ist als der andere. Im Fußball sehen wir mit eigenen Augen sofort, dass diejenige Mannschaft gewinnt, die mehr Tore schießt. In der (freien) Wirtschaft wird der Beste an seinem Erfolg bei den Kunden bestimmt. In der Politik muss man sich sehr viel Mühe geben, um an die Macht zu kommen, und vielleicht noch mehr, um sich an der Spitze zu halten. In der Wissenschaft und Kunst ist die Sache schwieriger, die Kriterien sind schwammig, doch mit der Zeit wird auch hier eine Reihung vorgenommen, und heute zweifelt kein Musikliebhaber daran, dass Felix Mendelssohns musikalische Leistung größer war als die von Louis Spohr, obwohl zu ihren Lebzeiten diese zwei Komponisten auf gleichem Rang gehandelt wurden.
Die einzige Ausnahme, der einzige Lebensbereich, in dem ich meine Überlegenheit über den Anderen ohne jegliche Leistung erreichen kann, ist die Moral. Hier genügt eine bloße Behauptung meines hohen beziehungsweise deines tiefen moralischen Niveaus, um mir einen Vorrang vor dir zu gewähren. Die Behauptung muss lediglich laut sein und, noch besser, von einer lauten und einflussreichen Gruppe ausgehen – dann ist sie auch „wahr“, denn andere Wahrheitskriterien gibt es in der Moral nicht. Wie jeder Marxist weiß, ist schließlich die herrschende Moral nichts anderes als die Moral der Herrschenden – oder in den Begriffen des Augsburger Friedensvertrages, „cuius regio, eius mores“.
Für einen klassischen, von Heinrich Mann beschriebenen Untertan ist die Unterordnung gegenüber einem starken, autoritären, mit Notstandverordnungen statt Gesetze regierenden Staat und die spöttische Kritik an einer als „schwach“ empfundenen demokratischen Gesellschaftsordnung normal. Er bräuchte keine extra Begründung dafür, die Stärke zu respektieren und die Schwäche (beziehungsweise das, das wie als Schwäche erscheint) anzugreifen. Dem Untertan des neuen Typs reicht dieses einfache Denkmuster nicht mehr aus. Er braucht eine moralische Basis für sein autoritäres Verhalten und findet sie dadurch, dass er eine Opfergruppe konstruiert, in deren angeblichem Schutz er seinen faschistoiden Minderwertigkeitskomplex ausleben kann. Wie sein Großvater, der Untertan der alten Probe, will auch er herrschen, andere unterdrücken, Gewalt ausüben – aber nur, um jemanden zu beschützen oder etwas zu „retten“.
Ein klassischer autoritärer Untertan freut sich, wenn die Polizei Demonstranten schlägt, die nichts anderes fordern als die Beachtung der grundgesetzlichen Menschenrechte: Ordnung muss sein! Die Ordnungskräfte haben immer recht! Der Pöbel muss zu Hause bleiben! Der linke Untertan freut sich ebenfalls, aber aus moralischen Gründen: Es könnte ja sein, dass der geschlagene Demonstrant seine Freiheiten missbrauchen, seinen Mund-Nasen-Schutz nicht tragen und deshalb vielleicht eine alte Frau anstecken könnte, die eventuell an diesem Infekt sterben könnte. In hehren Gedanken an die betagte Frau begrüßt unser Zeitgenosse die vor seinen Augen stattfindende polizeiliche Brutalität.