Es ist ganz und gar nicht tröstlich, was uns der hemmungslose Brutalist unter den Philosophen, Friedrich Nietzsche, vom Menschen und seiner „Selbst-Überwindung“ erzählen möchte. Aber es passt in unsere Zeit – in vielerlei Hinsicht. Es klingt antimoralistisch und zornig, wenn er die Dinge von so weit oben betrachtet, dass selbst die Ethik zur kleinen Verhandlungsmasse wird. Es ist die Perspektive der Rücksichtslosigkeit, die ihre Berechtigung allein in ihrem Zweck sieht. Deshalb dürfen Werte gebrochen werden, so unumstößlich sie gestern noch gedacht waren.
Nietzsche wird oft als Kronzeuge eines zynischen Menschenbildes herbeizitiert, weil er jedem ein krudes Recht zur Entfaltung zubilligen möchte, der Erfolg hat und stark ist (hier zumindest in seiner Dichtung „Also sprach Zarathustra“). Für diese Philosophie ist es irrelevant, Gut und Böse als ethische Kategorien vorauszusetzen, mit denen eine moderne Gesellschaft „normalerweise“ Menschenrechte aushandelt und beachtet. Wenn einem allein der Erfolg Recht gibt, krönt die Moral nur den Stärkeren, den Gewinner. Mit diesem Phänomen schlagen wir uns heute herum, wenn es nämlich um neue Verteilungskämpfe geht, die pseudoreligiös aufgeladen sind und sich der allumfassenden Ethik der Gegenwart entledigen.
Klimapolitik und Transformation, Davos und Brüssel, Industrie- und Kapitalismus-Skepsis, CO2- und Energie-Misere sind die Schauplätze neuer Verteilungskämpfe und eines um sich greifenden, grünen Strebertums, in dem sich eine abstruse Imagination von Weltvernichtung, deren heroische Verhinderung und triviale Machtgier aufschaukeln. Dieses grüne Amalgam der beseelten Streber wird in anmaßende Gesetze verpresst, die Europa verändern werden. Die Folgen sind gewollt fatal und trotz der Gefahr gelten sie als unvermeidlich und „gut“. Denn es gelang eine Dialektik zu etablieren, die jede Logik von Alternativen desavouierte und das „weiter so“ sabotierte. Mittlerweile haben wir die Übersicht verloren und es hat sich Resignation breit gemacht: Man hat längst die Ausfahrt genommen und kann nicht mehr wenden.
Die Grünen haben eben das Sagen
Auch wenn die Grünen und ihre medialen Lanzenbrecher gern behaupten, es ergäben sich aus der Transformation zwangsläufig neue Standortvorteile, Arbeitsplätze und entsprechender Wohlstandsersatz, stellen sich dringende Fragen nach den Alternativen für die bald verbotenen Mobilitäts-, Produktions- und Verbrauchsgewohnheiten. Eigentlich ist klar, dass der Pas de deux von Nullwachstum und Klimaneutralität für unsere Volkswirtschaft eine halsbrecherische, wenn nicht letale Angelegenheit sein wird.
Welches Wachstum, welcher Wohlstand können also in Zukunft überhaupt CO2-neutral betrieben werden? Das ist nicht deutlich, obwohl wir uns schon auf dem Weg dorthin befinden. Die grünen Einflüsterer sollten es zugeben: Die größte zu erwartende CO2-Einsparung ist das Armutsgefälle, in das Deutschland und Europa durch solche Politik hineinsteuern. Wo kein oder wenig Zugriff auf Verbrauch entsteht, fällt zumindest auch kaum CO2 an, dieser Fetisch des postmodernen Menschen.
Grün verursachte Armut ist nicht hässlich, sondern sparsam und edel im Verzicht, finden die Grünen. Sie halten Wohlstandsabstieg für „gerecht“ und haben schon begonnen, den daraus resultierenden Klassenvorteil an ihre Klientel weiterzugeben. Denn der Abstieg gilt nicht für alle, wie wir heute schon sehen können: Wer kann sich eine Wallbox, ein E-Auto, ein Nullenergiehaus und „alles Bio“ leisten? Ich bin mir darüber bewusst: Die Frage ist suggestiv und klassenkämpferisch. Friedrich Nietzsche würde solche Klientelpolitik erheitern, denn sie würde sein Geraune bestätigen: Die Grünen haben eben das Sagen und gehören zu den Gewinnern. „Herrenmoral“ nannte er das.
Krieg gegen den vormals gerechten Wohlstand
Die EU-Kommission hat es nun eilig: Bis 2050 sollen sämtliche Gebäude in der EU klimaneutral sein. Es soll beispielsweise eine Sanierungspflicht für Gebäude mit der schlechtesten Effizienzklasse G geben. Allein in Deutschland wären davon drei Millionen Gebäude betroffen, die bis spätestens 2030 renoviert werden müssten, teilt der Spitzenverband der Wohnungswirtschaft GdW mit. Unklar ist, wer diesen enormen Aufwand bezahlen soll. Mit der Überarbeitung der Gebäuderichtlinie werden auch engere energetische Mindeststandards für alle Gebäude eingefordert. Es steht sogar eine Solarpflicht für modernisierte Wohnhäuser zur Debatte. Eigentümer sollen dann zum Ausbau ab 2032 gezwungen werden können. Diese Sanierungspflichten zum Gegenstand des Gemeinwohls zu erklären, kann für viele Eigentümer die indirekte Enteignung bedeuten, wenn nicht Fördertöpfe aufgestellt werden, die exorbitante Summen bereitstellen. Woher soll aber dieses Geld kommen?
Auch das Zulassungsverbot von Verbrennungsmotoren ab 2035 ist wirtschaftspolitisches Hasardeurtum. Die europäische Automobilindustrie muss ein Arbeitsmarkt-Zugpferd exekutieren und sich auf eine Technologie einschwören lassen, für die es auch 2035 keine ausreichende Infrastruktur geben wird. Denn weder sind flächendeckend Hunderttausende Ladestationen zu realisieren, noch wird der Strom dafür zur Verfügung stehen. Die Kosten für den technischen Paradigmenwechsel sind volkswirtschaftlich bis dahin ohnehin nicht zu stemmen. Die Grünen müssen das wissen und finden es trotzdem gerecht. Denn der Individualverkehr soll nicht Nutznießer der Klimarettung sein, so die verdeckte Logik. Er muss abgeschafft und abgestraft werden. Das ist das Ziel: Ein Krieg gegen den vormals gerechten Wohlstand und die bis dato gerechte Verteilung von Zivilisationsvorteilen.
Massenkompatible Alternativ-Technologien sind also nicht in Sicht. Da können noch so viele Rechenschieber zugunsten der „regenerativen Energien“ verschlissen werden, noch so viel Planspiele für ein flächendeckendes Ladestellennetz durchdacht und die Illusion genährt werden, Millionen von Eigenheimbesitzern hätten so viel finanziellen Spielraum, dass aus dem Altbauhäuschen am Bahndamm mit Hilfe der KfW ein Nullenergiehaus gezaubert wird. Die Umschichtung der Vermögensverhältnisse ist ein weiterer Kollateralschaden, den die Transformations-Fanatiker dem mittelständischen Bürgertum zufügen. Ein Graben wird gezogen, zwischen elitärem Haben und prekärem Sein, wo die Frage, ob man sich E-Mobilität und die gesetzeskonforme Effizienzklasse des Eigenheims noch leisten kann, allein ihre Antwort in der Zugehörigkeit zu den neuen Eliten findet.
Für den abgehängten Normalbürger ist die Herrenmoral gefährlich
Die EU-Kommission, ihre Gesetze und Regulierungen wirken wie Verdikte – über die Köpfe der Europäer hinweg – mit tiefgreifenden Veränderungen für deren Lebensverhältnisse. Die Brüsseler Machterzeugnisse tragen allesamt die Merkmale jener Gedankenwelt, in der die Schwächeren eben zu schwach sind, um ihre Bedürfnisse zu schützen. Sie haben keine Lobby mehr – die „Volksparteien“, Kirchen, Gewerkschaften und karitativen NGOs sind ausgestiegen. Sie sind alle auf Linie in eine klimagerechte Gesellschaft, die aber droht, nicht lebensgerecht und ethisch zu sein. Dabei vergessen sie ihre Schutzbefohlenen.
„Das Gute“ hat nach Nietzsche zweierlei Bedeutungen, die der „Herrenmoral“ und die der „Sklavenmoral“. „Gut“ für die Herrschenden ist, was durchsetzbar, wirksam, stolz, und „erhaben“ ist. Das Gegenteil von Gut ist nach der Herrenmoral „schlecht“, also wertlos, gewöhnlich, politisch unwirksam, nicht durchsetzbar. Für den „Herdenmenschen“, den „Normalo“ und Bürger zweiter Klasse hat der Philosoph jedoch die Sklavenmoral übrig, nach der „gut“ mit friedlich, harmlos und gütig gleichgesetzt wird. Hier ist das Gegenteil von „gut“ schlicht „böse“, unberechenbar, kühn und gefährlich. Für den abgehängten Normalbürger ist die Herrenmoral also gefährlich.
Das grüne Weltbild funktioniert (nur) von oben nach unten. Dort wird es bald gefährlich wirken und als böse gelten, denn es zerstört Erwerbsbiografien, Hoffnung auf Wohlstand und das Recht auf kleine Teilhabe. Man verwehrt der neu entstehenden Unterklasse endgültig den Zugang zum Glück und verbannt sie in einen ökologischen Schuldturm und die Regression vorindustrieller Nichtigkeit.
Grün-feudale Wiederholungstäter wiederum, die ihre „Noblesse“ aus der Erweckung durch die Klimakirche begründen, üben sich heute schon in zivilgesellschaftlicher Vorteilsnahme durch staatliche Zuwendungen, die sie wie Boni für Wohlverhalten einstreichen. Die Subventionen für E-Autos, Ökostrom und Solarpanele sind schon bei Ihnen gelandet. Weitere werden folgen. Mit dem Stolz attestierter Klimaeffizienz und schöngerechneten Öko-Produkten von Tesla bis Tofu erleben diese Klimagewinnler Ihre CO2-technische Selbstüberwindung, während die „Plebs“ endgültig abgehängt wird. Diese grüne Dekadenz treibt Brüssel auf die Spitze und verfolgt einen Plan, der mit Müsli, Strickpullover, Hanomag-Bus und Friedensdemo nichts mehr zu tun hat. Aber mit Nietzsche.
Beste Grüße
Ihr
Fabian Nicolay
Erschienen im Newsletter Achgut.com