Also recherchierten die Studentinnen selbst, lasen Studien und befragten Expertinnen und Experten, starteten ein Blog und wunderten sich selbst über dessen Erfolg. Dann schrieben sie auch noch ein Buch: "Gleden med Skjeden" wurde in Norwegen ein Bestseller und ist inzwischen in 30 Ländern erschienen. Auf Deutsch heißt es "Viva la Vagina".
ZEIT Campus ONLINE: Ihr habt ein Aufklärungsbuch über die Vagina und weibliche Lust geschrieben. Das ist noch immer ein Tabuthema. Warum?
Nina Brochman: Weil die meisten Kulturen versuchen, die weibliche Sexualität zu kontrollieren. Das wird häufig damit erklärt, dass früher über diese Kontrolle versucht wurde sicherzustellen, dass Frauen nur mit einem Mann Kinder haben: Weil Männer sich evolutionär gesehen nie sicher sein konnten, ob sie wirklich der Vater eines bestimmten Kindes sind und weil es aufwendig ist, ein Menschenbaby großzuziehen, war es schon für Steinzeitmänner wichtig, sicherzustellen, dass nur sie das Kind gezeugt haben können. Deshalb versuchten sie, die weibliche Sexualität zu kontrollieren.
ZEIT Campus ONLINE: Und diese Kontrolle dauert bis heute an?
Ellen Støkken: Ja, ein Beispiel ist der Mythos vom Jungfernhäutchen. Er hält sich hartnäckig in der Popkultur: Es heißt, eine Frau verliere ihre Jungfräulichkeit, als gäbe es da etwas, das verschwindet. Frauen werden im schlimmsten Fall ermordet, weil sie in der Hochzeitsnacht nicht bluten. Aber das Hymen ist kein Keuschheitssiegel in der Scheide, das beim ersten Sex durchstoßen wird. Es ist eine ringförmige und dehnbare Schleimhautfalte in der Scheide. Bei manchen Frauen hat es die Form eines Halbmondes, bei anderen ähnelt es eher einem Donut mit einem Loch in der Mitte. Darum muss es nicht reißen, darum bluten nicht alle Frauen und darum kann auch niemand am Hymen ablesen, ob jemand Jungfrau ist oder nicht. Die Medizin weiß das schon lange.
Nina: Solche Medizinischen Mythen werden so als Werkzeuge gegen Frauen verwendet. Jungfräulichkeitstests sind Bullshit und das sollten alle wissen.
ZEIT Campus ONLINE: Es gibt schon viele Aufklärungsbücher, trotzdem habt ihr noch eins geschrieben. Was wissen wir noch nicht über Frauenkörper?
Nina: Beispielsweise, dass auch Frauen Erektionen bekommen. Mehrmals in einer Nacht und auch tagsüber. In der Schule lernen alle, dass ein Penis Schwellkörper besitzt, durch die er steif wird. Aber über die Klitoris lernen wir nichts. Beispielsweise, dass sie ein großes Organ mit Schenkel und eben auch mit Schwellkörpern ist. Es ist doch toll zu erfahren, dass die Anatomie von Frauen und Männer so ähnlich ist. Immer wird nur die Scheide als weibliches Sexualorgan gesehen, weil man da einen Penis reinstecken kann, damit eine Frau schwanger wird. Dabei sorgt die extrem empfindsame Klitoris für den ganzen Spaß.
ZEIT Campus ONLINE: Ihr beschreibt darum in eurem Buch auch gleich eine Stellung, die besonders die Klitoris stimuliert. Warum?
Ellen: Viele Frauen machen sich Sorgen, weil sie keinen vaginalen Orgasmus bekommen. Aber der vaginale Orgasmus ist nur eine komische Idee, die Freud mal hatte. Ein Orgasmus ist ein Orgasmus, egal durch welche Stimulation er zustande kommt. Die Klitoris umschließt die Vagina, darum ist es bescheuert, zwischen vaginalem und klitoralem Orgasmus zu unterscheiden. Die wenigsten Frauen kommen allein durch vaginale Stimulation. Wir wollen, dass Frauen und Männer die gleichen Chancen auf einen Orgasmus haben.
Nina: Darum die CAT-Position: statt dem klassischen Rein und Raus reibt der Penis an der Klitoris. CAT steht für coital alignment technique: Der Mann liegt eng auf der Frau, sie hält die Beine zusammen. Es gibt gute Videos, die die Stellung bei YouTube erklären. Er erlebt die Freude, seinen Penis in die Scheide zu schieben und sie wird klitoral wie vaginal stimuliert. So können viele Frauen zum Orgasmus kommen.
ZEIT Campus ONLINE: Frauenmagazine geben ihren Leserinnen lieber Tipps für den perfekten Blowjob oder besprechen ausgefallene Kamasutrastellungen.
Nina: All diese akrobatischen Stellungen verhelfen Frauen nicht zum Orgasmus, wenn sie nicht zu den Glücklichen gehören, die leicht kommen.
ZEIT Campus ONLINE: Was hilft denn dann?
Ellen: Masturbieren. Aber Frauen, die sich selbst befriedigen, sind ein riesiges Tabu. Mädchen wird eingeredet, dass es sich nicht gehört. Wir haben beide neben dem Studium Sexualkunde an Schulen gelehrt und regelmäßig lautete die Hausaufgabe, insbesondere für die Mädchen: zu Hause masturbieren. Dabei finden sie heraus, welche Stimulation sie zum Orgasmus bringt, und Teenager, die masturbieren, haben oft ein positiveres Körperempfinden. Das schafft Selbstbewusstsein!
ZEIT Campus ONLINE: Für Frauen hat sichere Verhütung vieles leichter gemacht. In den vergangenen Jahren sind jedoch in Deutschland viele Frauen immer skeptischer mit der Pille geworden. Wie seht ihr das?
Ellen: In Norwegen gibt es dieselbe Entwicklung. Es gibt diesen komischen Trend, dass alles, was im Garten wächst, als gesund angesehen wird. Und alles andere ist schlecht, vor allem, wenn es von einem Pharmaunternehmen kommt. Aber: Hormone wie in der Pille sind auch etwas Natürliches. In unserem Körper finden die ganze Zeit hormonelle Reaktionen statt. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Pille oder andere hormonelle Verhütungsmittel perfekt sind und dass sie keine Nebenwirkungen haben. Aber sie sind extrem sicher.
ZEIT Campus ONLINE: Ist diese Skepsis denn ein Problem?
Ellen: Ja. Denn viele junge Frauen hören auf, sichere Verhütung zu nutzen und setzen dann beispielsweise auf Apps zum Zyklustracking. Klar, die haben keine Nebenwirkungen – aber sie sind keine sichere Empfängnisverhütung. Das Hormonstäbchen gilt mit der Kupferspirale als sicherste Verhütung. Von 10.000 Frauen, die es ein Jahr lang verwenden, werden 5 schwanger. Wenn 10.000 Frauen mit Temperaturmessungen arbeiten, werden 750 bis 2.500 schwanger. In einem Jahr!
ZEIT Campus ONLINE: Ihr schreibt, ihr hättet Viva la Vagina auch geschrieben, weil ihr das Gefühl hattet, im Medizinstudium nicht genug übers weibliche Geschlechtsorgan zu lernen. In Deutschland hatte Giulia Enders, die als Studentin Darm mit Charme geschrieben hat, großen Erfolg. Sie schrieb über Kacke. Glaubt ihr, die Vagina ist schwieriger anzupreisen als Kacke?
Ellen: Irgendwie schon. Mit Kacke kann jeder etwas anfangen, weil jeder das Gefühl kennt, kacken zu müssen. Aber nicht jeder hat eine Vagina und sowohl Menschen mit Vagina als auch die ohne haben große Probleme, die weibliche Sexualität zu besprechen. Kacken ist zwar auch ein Tabuthema – aber da kann wenigstens theoretisch jeder mitreden.
Nina: Kacke ist auch nicht so politisch und Ernährung ein riesiges Thema, das total angesagt ist. Der Darm ist schon was und dazu hat Giulia beigetragen. Die Vagina aber hat noch einen langen Weg vor sich. Zum Beispiel müssen wir die gesellschaftliche Akzeptanz und das Wissen darum erhöhen, wie schlimm Periodenschmerzen werden können.
ZEIT Campus ONLINE: In Italien gab es vergangenes Jahr Diskussionen um bezahlten Urlaub für Frauen mit heftigen Menstruationsbeschwerden. Braucht es so was wirklich?
Ellen: Ja. Für Frauen mit Dysmenorrhö, so nennt sich die Diagnose, wäre es toll, wen sie während der schlimmsten Tage nicht arbeiten müssen. Der Schmerz bei Menstruationsschmerzen entsteht durch Druck im Uterus. Dieser Druck kann stärker sein als bei Wehen.
Nina: Wäre das ein Männerproblem – die Leute nähmen es viel ernster. Die alltäglichen Bürden von Frauen werden weder von der Gesellschaft noch von der Medizin wahrgenommen. In der Schule wird nicht darüber gesprochen. Ein Grund für extreme Regelbeschwerden ist beispielsweise Endometriose, davon haben die meisten Frauen und Männer noch nie gehört. Obwohl eine von zehn Frauen unter der Krankheit leidet.
ZEIT Campus ONLINE: Ihr erklärt Frauen, wie ihr Körper funktioniert und gebt ihnen Hilfestellung, wie sie Lust empfinden können. Habt ihr ein feministisches Buch geschrieben?
Nina: Nein, wir haben ein medizinisches Sachbuch geschrieben. Wir wollten mit Mythen aufräumen, dabei rein wissenschaftlich und so neutral wie möglich informieren. Uns ist wichtig, niemanden aufgrund politischer Haltungen abzuschrecken. Glaubte jemand, wir seien männerhassende Feministinnen, vertraute sie oder er uns nicht und läse das Buch nicht. Gerade Frauen, die keine gute sexuelle Aufklärung bekommen haben, bringt das Wissen viel mehr als der liberalen feministischen mittleren Oberklasse, die schon gut informiert ist.
Ellen: Aber Wissen über ihren Körper zu erlangen, ist ein wichtiger Selbstermächtigungsprozess für Frauen. Weibliche Gesundheit ist ein heiß diskutiertes Thema, nehmen wir Abtreibungen, Verhütung oder Schwangerschaftsvorsorge. Die medizinischen Grundlagen zu kennen, ermöglicht einer Frau, die richtigen Entscheidungen für sich zu treffen.
ZEIT Campus ONLINE: Wie gut müssen denn Männer über die weibliche Anatomie Bescheid wissen?
Nina: Um gute Partner, Väter und Freunde zu sein, sollten sie wissen, was Frauen durchmachen. Sie sollten wissen, dass viele Frauen unter Schmerzen leiden, wenn sie ihre Tage haben, dass sie müde sind oder Durchfall bekommen – jeden Monat.
Ellen: Das hat auch mit Empathie zu tun: Um sich in die Menschen, die man liebt, hineinzuversetzen, muss man verstehen, was in ihnen so los ist.
Nina: Wir sprechen schließlich von der Hälfte der Bevölkerung. Uns schreiben auch tatsächlich viele Männer. Der älteste, der sich bei uns gemeldet hat, war ein 70 Jahre alter Busfahrer. Er hatte ein paar Nachfragen zu unserem Buch und wollte uns widersprechen.
ZEIT Campus ONLINE: Womit war er nicht einverstanden?
Ellen: Wir schreiben an einer Stelle, dass der männliche Nippel keine Funktion hat. Davon war er etwas angefasst, weil er fand, wir sprechen seinen Brustwarzen die Existenzberechtigung ab. Darum wolle der Mann uns wissen lassen, dass auch viele Männer es mögen, wenn man ihre Nippel liebkost. Da stimmen wir ihm zu – uns ging es jedoch darum, dass Männer mit ihren Brustwarzen keine Kinder säugen können.